Wenn ein Atelier aufgelöst werden muß: Was macht man mit Tausenden von privaten Porträtfotos?

von Frank-Manuel Peter (Erstveröffentlicht 1998 bei morgenwelt.de)
 

Teil 1

Hand auf's Herz: Kennen Sie den Baron von Eelking? Den Chefredakteur des Herrenjournals und Herausgeber des Lexikons der Herrenmode, den Verfasser vom Bildnis des eleganten Mannes - Ein Zylinderbrevier von Werther bis Kennedy? "Es ist mir ein Rätsel, Baron, wie Sie vier Fortsetzungen 'Für oder wider den weißen Pikeestreifen am Frackhemd' schreiben können", wurde er einmal gefragt. "Mein lieber L., das kann man auch erst verstehen, wenn man bereits in der dritten Generation Kultur hat!", war die Antwort. Und jetzt steht er also vor mir, der Freiherr, und ich muß trotz zweier eigener kultureller Vorgenerationen beschämt eingestehen, daß ich mit ihm nichts Rechtes anzufangen weiß. Natürlich steht mir der längst Verstorbene nicht als Gespenst gegenüber, sondern nur im Format von 50 x 60 cm, freundlich dreinschauend, aufgezogen auf eine Presspappe: ein Ausstellungsfoto, an meine Schreibtischlampe gelehnt; das Bildnis des eleganten Mannes eben, wenn auch ohne Zylinder. Davor liegt ein staubiger Briefumschlag aus dünnem, alten Papier, gefüllt mit 31 Fotonegativen und 32 kleinen Probeabzügen, in Fotografenkreisen "Rohdrucke" genannt. Was aber fang ich mit dem Baron an?

Seine Aufnahmen stellen nur einen Bruchteil dessen dar, was übrigbleibt, wenn ein Fotografenatelier aufgelöst werden muß. Ein Studio aus der Zeit der 1950er bis 1970er Jahre in diesem Fall, womit ein relativ neues Problem auf uns zukommt, denn frühere deutsche Ateliers haben ihre Schätze meist schon im Krieg oder spätestens beim Wasserrohrbruch im Keller des Erben eingebüßt. Sechs Umzugskartons solchen Inhalts füllen nun unbehaglich meine Wohnung. Und das ist der Rest nur, den keiner haben wollte, die Privatpersonen, der öffentlichen Archive und Gelder unwürdig: Wunderschöne Aufnahmen von nicht immer wunderschönen Menschen, mit Künstlerblick und von Künstlerhänden für die damalige Gegenwart und für die Nachwelt ausdrucksstark festgehalten und gewiß von gleicher sozialgeschichtlicher Bedeutung wie die Gemälde und Porträtstiche früherer Epochen. Und doch nicht aufhebenswert? Den Museen und Archiven fehlt das Budget, sie zu kaufen, zu konservieren, zu katalogisieren und auszustellen; sie haben bereits viel investiert, um die prominenten Schriftsteller, Schauspieler, Sänger, Tänzer, Architekten und Maler aus dem gleichen Fotografennachlaß zu erwerben. Das Atelier befand sich am einstigen Prachtboulevard der Weltstadt, es hatte Schaukästen zur Straße hin, in welchen immer eine Auswahl eindrucksvoller Porträts in großen Abzügen ausgestellt war. Hier sah man beispielsweise Gottfried Benn, Tilla Durieux, Maria Schell, Joana Maria Gorvin, Wolfgang Lukschy, Walter Höllerer, Hans Werner Henze, Tatjana Gsovsky, Catherine Gayer, Patricia Johnson, die Solisten der Philharmoniker und viele andere Prominente der Zeit in friedlicher Eintracht neben unzähligen Porträts von denen, die vielleicht als Ärzte, Wissenschaftler, Juristen - oder gar nicht öffentlich bekannt waren. Abbilder derjenigen, die hier an den Schaukästen stehengeblieben waren und sich gerne ebenso eindrucksvoll porträtieren lassen wollten. Und weil die mehr oder weniger berühmten Künstler sich damals oft nur wenige kleine Abzüge leisten konnten, wurden die "Privatpersonen" zur eigentlichen Klientel des Fotoateliers, nehmen ihre Fotos den weitaus umfangreichsten Teil des Nachlasses ein. Von ihnen soll hier die Rede sein.
 

Teil 2

Was macht man mit Tausenden von Privatporträts, bei denen sich der Fotograf ebensoviel Mühe gegeben hat wie bei den Künstlern? Die man auch deshalb nicht wegwerfen kann, weil sie (privat) en bloc gekauft werden mußten, damit für die Erben des Fotoateliers zusammen mit den Ankäufen der öffentlichen Sammlungen auch tatsächlich die gutachterlich festgelegte Gesamtsumme erzielt werden konnte? Besteht eine Chance, durch Weiterleitung an die Porträtierten den verauslagten Betrag zurückzubekommen? Hat nicht die abgebildete Privatperson ein gewisses moralisches Recht, daß ihre Aufnahmen vernichtet werden? Oder eher das Recht, daß sie gefragt wird, bevor die Aufnahmen vernichtet werden? Nach einem arbeits- und staubreichen Tag steht statt der Umzugskartons ein hohes Regal im Wohnzimmer mit über zwanzig großen Schachteln alphabetisch geordneter Briefumschläge, und die aufgezogenen Großfotos lehnen abrufbereit daneben.

Die Durchsicht kann beginnen, die örtlichen Telefonbücher liegen parat. Die erste Kategorie der Betroffenen wird ausgeschieden: Wer einen häufiger existierenden Namen trägt, hat schlechte Karten: hier lohnt der Rechercheaufwand im Verhältnis zum erzielbaren Erlös nicht. Dann fallen alle diejenigen als mögliche Käufer aus, die sich einst im fortgeschrittenen Alter fotografieren ließen und heute längst verstorben sind. Auch für die Generation, die nun heute hochbetagt ist, erscheint ein Interesse am eigenen Bild unwahrscheinlich. Und bei der damals jungen Generation besteht das Problem, daß sie sich nur selten mehr als ein paar Paßfotos oder bestenfalls zwei gute Porträts des berühmten und keineswegs preiswerten Fotoateliers leisten konnte - für deren zwei Negative leider ebenfalls keine Recherche lohnt. Die Müllsäcke füllen sich bedauerlicherweise schnell. Jetzt werden die Telefonbucheinträge - zeitgemäß auch auf CD-ROM im Computer möglich – zu Hilfe genommen. Die Fülle derjenigen, die nicht mehr in dieser Stadt unter ihrem Namen nachweisbar sind, weil sie fortzogen, sich verheirateten, keinen Telefonbucheintrag wünschten oder frühzeitig verstorben sind, muß ebenfalls ausgeschieden werden. Fehlende Vornamen bei der Beschriftung der Umschläge oder Schreibfehler des Fotografen sorgen für eine weitere Dezimierung. Endlich ist ein Zwischenergebnis erzielt. Von den über zwanzig Schachteln sind nur noch drei übriggeblieben: zwei mit möglichen Interessenten und eine mit "Unerreichbaren", die jedoch fotografisch und menschlich zum Wegwerfen viel zu schade erschienen oder zumindest zu Lebzeiten durchaus bekannt waren: Robert T. Odemann, Ole Jensen, Bully Buhlan, der Verleger Lothar Blanvalet - hinterließen sie eigentlich eine Familie, die sich über die alten Fotos freuen würde?
 

Teil 3

Der Aufwand des Telefonierens ist dann höher, als erwartet. Das Telefonbuch kann leider nicht auf dem allerneuesten Stand sein, und oft verraten die lästigen Anrufbeantworter nicht einmal, daß den Anschluß schon seit Monaten ein ganz anderer innehat. Findet man dann endlich den Vorbesitzer, so sorgen Namensgleichheiten für die Vernichtung von einem weiteren großen Teil der übriggebliebenen Aufnahmen. Und die Erfahrungen mit denen, die sich als die einst Porträtierten zu erkennen geben, sind oft ebenfalls enttäuschend: "Was soll ich mit Fotos, die mich daran erinnern, wie alt ich jetzt schon bin?" - "15 Mark für 40 Negative? Nein, besten Dank, die können Sie getrost wegschmeißen!" - "Das ist mein geschiedener Mann, auf dessen Fotos würde ich höchstens noch mit Dartpfeilen werfen." - Und schickt man sie bei Interesse oder bei eindeutiger Identität gar ungefragt zu, vergessen so manche Empfänger leider die Kostenerstattung. - Der Professor hat sogar seine Gattin mitgebracht, um die Aufnahmen anzusehen; er selbst, sein Vater, seine Tochter und andere Verwandte (und manchmal sind es mehrere hundert Aufnahmen von einer Familie, über Jahrzehnte aufgenommen, Generationen dokumentierend): "Ach wissen Sie, wir heben nichts auf, und von den besten haben wir ja damals gute Abzüge gekauft, was sollen wir also damit?", entscheidet die blonde, sonnengebräunte Gattin für ihn. "Das Großfoto auch wegwerfen?", frage ich nachdenklich. "Ja, alles weg! Wir haben nach Opas Tod schon so vieles wegwerfen müssen und hängen das ja doch nie auf." Mir fällt ungewollt die bekannte Loriot'sche Umdichtung der Adventsverse ein ("war ihr bei des Heimes Pflege / schon seit langer Zeit im Wege"). Man merkt es dem Professor an, daß er die Vernichtung seines großen, meisterlichen Porträts eigentlich nicht selbst verursachen wollte. Draußen vor der Tür, beim Warten auf den Fahrstuhl, wird noch flüsternd darüber diskutiert; geschenkt hätte man es vielleicht doch mitgenommen. Die nächste Generation jedenfalls wurde hier nicht in die Entscheidung einbezogen, ob sie dieses besondere Andenken an den Vater oder gar die eigenen Fotos haben möchte.

Das Regal ist längst wieder abgebaut, doch er steht immer noch da, der Baron von Eelking, der Präsident des Deutschen Instituts für Herrenmode, der trotz (oder wegen?) der Kultur offenbar keine vierte Generation hinterlassen hat und dessen seltener Familienname in den gesamtdeutschen Telefonbüchern auf immer verschwunden scheint. Vielleicht findet sich doch noch im Bereich der Modearchive eine der Vergänglichkeit trotzende Lösung für ihn. Eine Schachtel ähnlicher Fälle blieb erhalten. Mehrere Säcke voll anderer, oft beeindruckender Versuche, die Zeit festzuhalten, sind jedoch bereits unwiederbringlich dem Müll übergeben, und die verauslagten Kosten waren leider auch nicht zu erzielen. All der Aufwand also umsonst? Keineswegs! Letztlich eine von ursprünglich mehr als zwanzig Schachteln war erfolgreich. Einige Dutzend Familien haben sich gefreut, sahen sich nach so langer Zeit gern erinnert, kamen ins Erzählen, staunten über die einstige jugendliche Schönheit ihrer Eltern, schrieben Dankesbriefe, hielten gerührt ein überraschend aufgetauchtes Stück ihrer eigenen Vergangenheit in den Händen, freuten sich über die Fülle der Aufnahmen, von denen sie damals nur einige wenige hatten bestellen können und waren sich einig, daß nie wieder jemand so gute Fotos von ihnen gemacht hatte. Der Fotograf, ein Schülerschüler des berühmten Dresdener Porträtfotografen Hugo Erfurth, besaß unzweifelhaft die erforderliche "Kultur in der dritten Generation"; - und manche seiner Kunden, die diese sehen und verstehen konnten, offenbar auch.

PS: Es handelte sich um das Fotoatelier von Hans Rama (1906-1967) und Maria Rama (1911-1997) am Berliner Kurfürstendamm. Die Fotos des Barons Eelking befinden sich heute in der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin. Die Schauspielerfotos gelangten in das Deutsche Theatermuseum München. Eine umfangreiche Fotodokumentation von Günter Grass und seiner Familie wird in der Berliner Akademie der Künste archiviert. Die Berlinische Galerie übernahm die experimentellen Fotos, Aktfotos, Berlinfotos und Dokumente zum Atelier. Alle Tanzfotos erwarb das Deutsche Tanzarchiv Köln. Die Nutzungsrechte an RAMA-Fotos sind entsprechend der Negative nach inhaltlichen Gesichtspunkten unter den beteiligten Institutionen aufgeteilt und ggf. dort zu erfragen.