Die Sammlung im Deutschen Tanzarchiv Köln

La Argentina (Antonia Mercé, 1890 – 1936) war als Tänzerin des spanischen Tanzes so berühmt, dass sie hier nicht mit einer Biographie, sondern mit einem eigenen Text über den spanischen Tanz vorgestellt werden soll. Die Sammlung zu ihr im Deutschen Tanzarchiv Köln basiert auf einer Schenkung von Monique Paravicini, der einstigen Vorsitzenden der Association Les Amis d’Argentina und besteht im Wesentlichen aus Fotos, Programmen, Kritiken und anderen Texten über sie sowie einigen Original-Plakaten. Sie wurde aus anderen Beständen des Tanzarchivs ergänzt. Außerdem sind durch den Katalog des Tanzarchivs weitere Dokumente zu La Argentina wie Programmzettel und Kritiken in Scrapbooks erschlossen.

La Argentina: Der spanische Tanz

Die Kunst des Tanzes, wie jede andere Kunst, erfordert die tiefe Kenntnis der Gesetze ihrer Ausführung, und darin liegt die große Verantwortung des sie interpretierenden Künstlers. Tanzen bedeutet nicht: durch Wirkung von Gestik und Mimik Beifall zu erlangen. Tanzen heißt vielmehr: den freien Schwung der Ideen, die Musik an sich auslöst, der eisernen Disziplin des Körpers zu unterwerfen. Die Zigeuner nennen das „nach dem Zirkel" tanzen.

Spanische Musik ist der ganzen Welt bekannt. Ob sie nun schlecht oder gut wiedergegeben wird, ihr Wesen bleibt stets das gleiche, und ihr Erfolg ist immer verdient. Mit dem Tanz, der aus dieser Musik entsteht, verhält es sich schon anders.

Tanz ist nicht auf dem Papier festlegbar wie Musik. Er wird gebildet und variiert je nach dem Geschmack und den Kenntnissen des reproduzierenden Künstlers.

Die meisten spanischen Tänzer glauben, den spanischen Tanz verfälschen zu müssen unter der Begründung, das europäische Publikum wolle ihn nicht so sehen, wie er wirklich ist. Aber diese Behauptung ist oft nur ein Vorwand und keinesfalls ernst zu nehmen. Der echte spanische Tanz behält gerade um seiner Eigenart und seiner charakteristischen Details willen unbedingt und überall seinen künstlerischen Wert.

Das Kunstverständnis eines Publikums zeigt seine Kultur. Der Künstler sündigt gegen sich und sie, indem er seine Kunst einem ungebildeten Publikum anpasst. Es zu tun, das ist ganz einfach eine Unanständigkeit, und unverzeihlich bleibt es besonders vor einem Publikum, das der Kunst aufrichtiges Verständnis entgegenbringt. Sehr viele intellektuelle NichtSpanier haben in Spanien selbst, wo kein Tänzer seine Kunst zu verfälschen wagen würde und dürfte, am echten spanischen Tanz Gefallen gefunden.

Es ist vor dem großen Publikum leichter, mit Mache und Tricks Erfolg zu haben als mit Echtheit. Beim spanischen Tanz erreicht man das, indem man ihn literarisiert. Man vermischt ihn mit traditionellen Begriffen: Bravour der Toreros, Kunststückchen der Gauchos, Finessen indio-amerikanischer Tänzerinnen. Der Tanz, so verliterarisiert, verliert seine Echtheit und seinen Ausdruck. Literatur tanzen ist eine Kunstfertigkeit etwa wie mit den Füßen schrei ben. Eine literarische Tänzerin ist dasselbe wie eine mittelmäßige Schriftstellerin.

Auf diese Art bekommt das Publikum meistens Karikaturen zu sehen. Manche Künstler begnügen sich noch dazu nicht damit, Pantomimen zu tanzen, sondern senken ihr Niveau bis zur Pantomimerei. Bei uns gibt es einen sehr schönen und bezeich­nenden Ausdruck für diese: „Die Hand Gottes ist nicht über ihnen", sagt man. Sie fühlen sich ihres Publikums sicher, aber mit Unrecht. Nur wahre Kunst, nur echte Kunst, nur Kunst, die wirklich bis zum Herzen geht, löst Ergriffenheit aus. Man kann das Publikum geradezu und im Sturm erobern, oder langsam und auf Umwegen; im zweiten Fall ist das Risiko, abgelehnt zu werden, größer; im Grunde ist es eine Frage der künstlerischen Ehrlichkeit.

Byron, der sich, als er nach Spanien kam, über den ungeheuren und sich immer wiederholenden Erfolg der Toreros nicht genug wundern konnte, fragte einmal einen neunjährigen spanischen Chorknaben, ob er auch gern ein solches Ideal seines Volkes werden wolle – worauf das Kind erwiderte: „Nein, ich möchte lieber ein Heiliger sein und Wunder tun."

Heiliger oder Ideal. Wunder oder Trick. Es gibt nur die beiden Wege, immer wieder, zwischen denen der Künstler zu wählen hat.

(Erschienen 1935 in der Zeitschrift „Der Tanz“, 8. Jg., H. 8, S. 5; nach dem Wiederabdruck in der Zeitschrift „Tanzdrama“ Nr. 12, 3. Quartal 1990, S. 28).