Zu seinem 100. Geburtstag am 20. September 2006

von Frank-Manuel Peter

"Es ist sicher nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß Hans Berry der einzige Trompeter Deutschlands ist, der wirklich weiß, was Jazz ist und das auch in seinem Spiel auszudrücken vermag", schrieb Roman Lewandowski 1949 in der Zeitschrift „Vier Viertel“. Während sein Kollege Macky Kasper zu dieser Zeit vor allem durch ganzkörperlichen Einsatz bewies, daß er „hot“ spielte, und dadurch große Beliebtheit beim Publikum erlangte, galt Hans Berry in Musikerkreisen als der durch Erfahrung und kreative Begabung (z.B. in solistischen Improvisationen) weit überlegene deutsche Trompeter seiner Zeit. In der Tat hat Hans Berry auch unzählige Kompositionen und Arrangements von Tanzmusik und gehobener Unterhaltungsmusik geschaffen. Entscheidend für seine Bedeutung dürften aber seine für deutsche Musiker ungewöhnlich zahlreichen Kontakte mit ausländischen Kollegen gewesen sein, spielte er doch u.a. zusammen mit Billy Bartholomew, Coleman Hawkins, Teddy Stauffer, den Lanigiros, Carlo Minari, Willie Lewis, Benny Carter, Bill Coleman, Ray Ventura, Gus Clark, Davie Bee, Fud Cendrix, Jean Omer oder Rex Stewart.

Hans Berry wurde am 20.09.1906 in Pankow geboren und wuchs in einem musikalischen Elternhaus auf, wo der Vater den drei Kindern regelmäßig aus seinen Klavierauszügen bekannte Opern und Sinfonien vorspielte. Bereits in früher Kindheit erhielt er Klavierunterricht bei seinen Eltern und von seiner älteren Schwester Ilse, und ab dem zwölften Lebensjahr Violinunterricht. Sein erster Besuch im Königlichen Opernhaus ist für den 31.10.1914 belegt, wo Humperdincks "Hänsel und Gretel" und das Singspiel "Des Löwen Erwachen" mit Lola Artôt de Padilla gegeben wurden (später war er mit ihrem Neffen Marco Mathieu de Padilla befreundet). Hans Berry wuchs in Berlin-Pankow auf, wo er bis 1921 die Oberrealschule besuchte, und Programmzettel in seinem Nachlaß beweisen, daß eine Fülle musikalischer Veranstaltungen seine Jugend prägte, denn beispielsweise eine "Gesellschaft der Musik- und Literaturfreunde zu Pankow" oder ein "Pankower Oratorien-Verein" waren beständig um Aufführungen mit prominenten Opern- und Konzertsängern und Musikern bemüht. In der Aula des Lyzeums traten etwa der Tenor Carl Jöken von der Staatsoper oder Prof. Robert Zeiler, der Konzertmeister der Staatskapelle auf. Solche musikalische Förderung wurde für manche Potsdamer Schüler der Zeit berufsprägend: Der Primaner Erich Peter beispielsweise, der im November 1918 die Schulaufführung von Mendelssohn-Bartholdys Musik zu "Athalia" leitete und 1926 Hans Berrys Schwester Ilse heiratete, wurde Kapellmeister, später Generalmusikdirektor und nach dem Krieg Ordinarius und Leiter der Dirigierklassen der Berliner Hochschule für Musik. Zu den vielen anderen musikalischen Veranstaltungen im Berliner Musikleben der späten 1910er und frühen 1920er Jahre, die von Hans Berry besucht wurden, gehörten auch immer wieder Auftritte von älteren Verwandten und Freunden der Familie, etwa Lieder-Abende von Margarete Jäger im Bechsteinsaal, begleitet von ihrem Mann Hermann Weigert von der Staatsoper am Klavier, oder Violin-Konzerte von Maximilian Hennig in der Hochschule für Musik.

Fabian's Jazz Syncopators. von links: Hans Baron, Rudi Pernet, Hans Flatow, Hans Berry, Siegbert Fabian. Bad Pyrmont, 1929. Fabian's Jazz Syncopators. von links: Hans Baron, Rudi Pernet, Hans Flatow, Hans Berry, Siegbert Fabian. Bad Pyrmont, 1929.
© Deutsches Tanzarchiv Köln
Fabian's Jazz Syncopators. von links: Hans Baron, Rudi Pernet, Hans Flatow, Hans Berry, Siegbert Fabian. Bad Pyrmont, 1929.
"FH", eine noch nicht identifizierte Kapelle - Hilfe erbeten! Hans Berry als vierter von links. Nürnberg, Mai 1933 (Foto aus München) "FH", eine noch nicht identifizierte Kapelle - Hilfe erbeten! Hans Berry als vierter von links. Nürnberg, Mai 1933 (Foto aus München)
© Deutsches Tanzarchiv Köln
"FH", eine noch nicht identifizierte Kapelle - Hilfe erbeten! Hans Berry als vierter von links. Nürnberg, Mai 1933 (Foto aus München)

Hans Berry wurde ins Rahn'sche Konservatorium der Musik aufgenommen und trat beispielsweise am 26.3.1919 als Schüler der Violinklasse des Kammermusikers Ludwig Wagner solistisch auf. An künstlerischem Tanz sah Hans Berry u.a. in der Staatsoper die "Josephslegende" von Richard Strauß mit Heinrich Kröller in der Titelpartie und am 25. April 1922 - wieder in der Aula des Lyzeums Pankow - den modernen Solotänzer Günther Heß. Etliche Pankower Programmzettel insbesondere vom Frühjahr 1924, aber auch noch vom Februar 1926 nennen ihn als Violinsolisten, nur bei der ersten öffentlichen Schüleraufführung des Konservatoriums Hans Baer im Schuljahr 1925/26 im Harmonium-Saal wirkte er am Klavier mit. In der Aula der Mittelschule Berlin-Pankow gab es am 3.4.1924 einen Konzertabend unter dem Titel "Sturm und Drang", dessen Zettel den 17jährigen nicht nur als Solisten, sondern auch als Komponisten eines Violinstückes "Intermezzo - Uraufführung" benennt. Bemerkenswert ist sein Besuch am 7.10.1924 in der Oper am Königsplatz nicht wegen der zunächst gegebenen einaktigen Puccini-Oper "Gianni Schicchi", sondern wegen den beiden nachfolgenden Programmteilen, deren musikalische Leitung wieder Hermann Weigert hatte, die choreographische Leitung jedoch Max Terpis: "Kammertänze", namentlich von Harald Kreutzberg, aber auch Daisy Spieß, Dorothea Albu, Walter Junk, Terpis selbst und anderen, sowie die Tanzpantomime "Der Leierkasten" von und mit Terpis in der Hauptrolle des Buckligen, mit Harald Kreutzberg, Melanie Lucia, Rolf Jahnke, Dorothea Albu, Liselotte Köster, Julian Algo, Walter Junk und vielen anderen Tänzern. Bemerkenswert deswegen, weil damit - nach der „Josephslegende“ und dem Soloabend von Günther Heß - eine weitere Anregung für eine seiner ersten größeren Kompositionen nachweisbar ist: "Der Tänzer. Ein theatralisches Notturno, Worte und Musik von Hans Berry". Außer den Noten hierzu existiert ein handschriftlicher Programmzettel(entwurf) eines Auftritts der "Freien Bühne" im Konzerthaus Pankow mit einem "1. Abend: Konzert - Theater - Tanz". Alle Beteiligten sind namentlich genannt, beim Konzert jedoch noch keine Werke eingetragen. "Der Tänzer" ist in der Mitte plaziert, bei musikalischer Leitung von Hans Berry und Spielleitung von Egon Alban (sieben Rollen; der Tänzer gespielt von Maxim Bara). Nach der Pause steht „Tanz“ mit einer (nicht genannten) Jazz-Band auf dem Programm, Ende 1 Uhr. - Am 16. Juni 1924 schloß Hans Berry die Arbeit an einer Partitur zu "Leonce und Lena" (von Georg Büchner) ab.

Erwähnt werden soll, daß Hans Berry gelegentlich auch zeichnete und malte, unter anderem 1923 das Titelbild zu einem weiteren frühen kompositorischen Werk, "Das grüne Gesicht" nach dem gleichnamigen Roman des "Golem"-Autors Gustav Meyrink. Sein Zeichenlehrer an der Pankower Schule, der ihn förderte, war Paul Kuhfuß, der auch als freier Künstler einen guten Ruf hatte. Durch die hier erfahrenen Anregungen blieb Hans Berry neben der Musik ein Leben lang an der modernen Kunst interessiert, namentlich an den Expressionisten, den "Brücke"-Malern, dem "Blauen Reiter" oder z.B. an Joan Miró. Und wieder hatte auch die familiäre Bindung einen Einfluß: Hans Berry war das Patenkind seines (entfernteren) Onkels Paul Bekker, des berühmten Musikkritikers, Autors, Musiksoziologen und Theaterintendanten, den er später in Hofheim im Taunus im "Blauen Haus" besuchen konnte, einem Künstlertreffpunkt. Dessen Gattin war die Künstlerin, Kunstsammlerin und spätere Kunsthändlerin Hanna Bekker vom Rath, selbst Schülerin von Ida Kerkovius und Adolf Hoelzel und seit 1922 im Besitz ihres ersten Werkes von Paul Klee.

Hans Berry studierte anschließend an der Musikhochschule Berlin, wo er u.a. Kompositionsunterricht bei Arnold Schönberg erhielt. Etwa 1926 erwarb er sich erste professionelle Orchesterpraxis als Geiger, hörte im selben Jahr nach seiner Erinnerung auch erstmals professionellen Jazz und war begeistert. Er nahm Trompeten-Unterricht u.a. beim Solo-Trompeter der Berliner Philharmoniker, dem Schweizer Paul Spörri. Zahlreiche Schallplatten wurden jetzt und in den kommenden Jahren angeschafft, von den Revellers (dem Vorbild der Comedian Harmonists; mit dem Song "Dinah"), immer wieder von Louis Armstrong, Duke Ellington, Red Nichols and His Five Pennies, Joe Venuti, Frankie Trumbauer, Fletcher Henderson, aber auch von Miff Mole, Glen Gray, Spikes Hughes, Joe Haynes, Ray Noble, Jimmy Dorsey, Tom Dorsey, Eddie Lang, Lee Morse, Louis Russell, den Charleston Chases, Ben Bernie, Ted Lewis, Bix Beiderbecke, McKinney's Cotton Pickers, Red McKenzie, dem Casa Loma Orchestra, den Singing Sophomores, den Five Little Chocolate Kiddies etc. Durch das Nach- bzw. "Mitspielen" bei diesen Platten lernte Hans Berry enorm viel über das Hot-Spielen; und wenn er dabei die Trompete in die Nähe des Schalltrichters vom Grammophon hielt, konnte er sogar - scherzhaft - sein eigenes Spiel leise mit auf der Platte aufzeichnen.

Hans Berry gründete bald mit einem Freund namens Hans Rettig eine eigene "Berry-Band", laut Reklamekarte "Tanzkapelle erster Berliner Clubs". Dann spielte er in einigen anderen Ensembles, darunter mindestens von 1929 bis 1931 bei "Fabian's Jazz Syncopators", einer Tourneeband mit längerem Engagement an den Berliner Wilhelmshallen. Die "junge Kapelle Fabian, die [...] wirklich Beachtliches auf dem Gebiete syncopierter Musik erzielt hat, ist bester Nachwuchs moderner Unterhaltungsmusiker", heißt es in der ?Varieté Illustrierten? 1930 (S. 74). Für vier Wochen wirkte Hans Berry bei einem Engagement der berühmten "Weintraubs Syncopators" im Dachgarten eines Hotels (Eden?) am Zoo mit. Er spielte außerdem Anfang der 1930er Jahre u.a. mit Louis de Vries und Harry Pohl, oder in der erstklassigen Tanzkapelle von Billy Bartholomew (Uhland-Eck, Delphi-Palast) und seit 1934 bei Kurt Widmann. Zeitgenössisches Lob für Hans Berry erschien im "Artist" am 6.12.1934, S. 225, wo man ihn als einen "unerhörten 'Hot'-Trompeter" bezeichnete, und am 18.4.1935, S.393 (Kater 1995, S.393, Anm. 106).

Teddy Stauffers Original Teddies. Hans Berry als vierter, Teddy Stauffer als sechster von links (1936) Teddy Stauffers Original Teddies. Hans Berry als vierter, Teddy Stauffer als sechster von links (1936)
© Deutsches Tanzarchiv Köln
Teddy Stauffers Original Teddies. Hans Berry als vierter, Teddy Stauffer als sechster von links (1936)

Aufgrund seiner Reisen bekam Hans Berry möglicherweise die rasche politische Umwälzung durch den Nationalsozialismus zunächst nur in eingeschränktem Maße mit. "Onkel Paul" Bekker war 1933 nach Paris und von dort 1934 in die USA emigriert. 1935 hieß es in der bereits 38. Auflage (171.-180. Tsd.) eines "Handbuches zur Judenfrage" über Paul Bekker: "durch die unzweifelhaften, einseitig angewandten Fähigkeiten eines zersetzend kritischen Verstandes eine besondere Gefahr darstellend." (Költzsch, s.u.). Die Nr. 23 der deutschen Ausgabe der Zeitschrift JAZZ, International Jazz Magazine vom 29. März 1934 erhielt Hans Berry laut Adressaufkleber nach Biel, von wo sie ihm mit handschriftlichem Vermerk nach Genf ins "Miami" nachgeschickt wurde. Er hat darin in einem Text mit Schweizer Jazz-Nachrichten in dem Satz "Ein anderes Orchester, das ich noch in Genf erwähnen möchte, ist das vergrösserte und neu besetzte Orchester Caffa im 'Maxim'." den Satzteil "das ich noch in Genf erwähnen möchte" unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen kommentiert. Hat er dort mitgespielt? Die ebenfalls noch erhaltene Nr. 26 vom Januar 1935 hat er vermutlich wegen eines Artikels "Ist Louis Armstrong der größte Hot-Musiker der Welt?" von Ray Brooks aufgehoben. (Brooks hatte kurz vor einem Armstrong-Konzert in der Tonhalle Zürich dessen letzte Platte "On the sunny side of the street" gehört und war hingerissen; als Armstrong im Konzert einen Chorus nach dem anderen Note für Note gleich mit der Platte singt und spielt, ist seine Enttäuschung maßlos. Nein, so seine Schlußfolgerung, Armstrong ist nicht der größte Hot-Player, - aber ein größerer existiert auch noch nicht bisher.). Das offen verschickte Heft hat auf der Vorderseite ein Foto von Ivie Anderson mit Duke Ellington's Orchestra und auf der Rückseite eine riesige Karikatur "The Great Louis", die von nationalsozialistischen Gegnern der Hot- und Swing-Musik mit Sicherheit gern zu propagandistischen Zwecken gegen den "Nigger-Jazz" verwendet worden wäre. Der Adressaufkleber für den Musiker Hans Berry in Birkenwerder bei Berlin klebt auf der Seite der Karikatur. War man in den Berliner Vororten noch nicht so nationalsozialistisch beeinflußt wie in der Reichshauptstadt? War der Briefträger gar ein verständiger Hot-Freund? Oder hat er den Empfänger womöglich heimlich angeschwärzt? Man weiß es nicht.

Die Arbeitsbedingungen in Deutschland verschlechterten sich für Hans Berry erheblich. "Deutsche Orchester, die das Pech hatten, beim Spielen 'nichtarischer' Kompositionen erwischt zu werden, oder die es wagten, 'Nichtarier' oder sogenannte 'Halbarier' (die Berufsverbot hatten) zu beschäftigen, konnten Unannehmlichkeiten mit der Reichsmusikkammer bekommen. So mußte z.B. Kurt Widmann, dessen Orchester es in Berlin schon zu gewissem Ruhm gebracht hatte, seinen erstklassigen Trompeter Hans Berry immer hinter dem Orchester verstecken, wenn ein RMK-Schnüffler in die Nähe kam [...]" (Lange 1968, S. 91). Mit Schreiben der Reichsmusikkammer vom 19.8.1935 verlor Hans Berry "mit sofortiger Wirkung das Recht zur weiteren Berufsausübung auf jedem zur Zuständigkeit der Reichsmusikkammer gehörenden Gebiete." Das bedeutete für ihn also nicht nur das sofortige Ende seines Engagements bei Kurt Widmann, sondern ein Berufsverbot für Deutschland. Als Grund wurde angegeben, daß er "die nach der Reichskulturkammergesetzgebung erforderliche Eignung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung" nicht besitze. Sein Großvater Siegfried Berry (1850-1917), mehr als 25 Jahre lang Komparserie-Inspektor an der Königlichen Oper Berlin und unter anderem mit dem Verdienstkreuz in Silber ausgezeichnet, war erst 1878 evangelisch getauft worden und hatte, so die behördliche Auskunft, zuvor als Angehöriger der Jüdischen Gemeinde den Vornamen Samuel geführt. Noch bis 1937 versuchte Hans Berry vergeblich, diesen der Familie bis dahin gänzlich unbekannten Umstand zu widerlegen. Für ihn bedeutete dies nach der neuen Gesetzgebung, ein "jüdischer Mischling mit einem der Rasse nach volljüdischen Großelternteil" (Dr. Frhr. v. Ulmenstein, Reichssippenamt) zu sein, umgangssprachlich: ein "Vierteljude".

Quintette du Hot-Club de Belgique. 1940-43. links: Hans Berry Quintette du Hot-Club de Belgique. 1940-43. links: Hans Berry
© Deutsches Tanzarchiv Köln
Quintette du Hot-Club de Belgique. 1940-43. links: Hans Berry

Hans Berry blieb nur das Ausland, um als Musiker tätig sein zu können. Schon im April 1931 war er in Zürich engagiert gewesen. 1935 arbeitete er in Genf mit Coleman Hawkins zusammen. Auch im März 1936 war er in Genf, und in diesem Jahr trat er mit René Dumont in Amsterdam und in Zürich auf sowie bei Teddy Stauffer in Hamburg, als vermeintlicher Schweizer dort unbehelligt, sowie in der Schweiz selbst. Auch wenn Hans Berry später nachrechnete, durch die Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche und mit den Arbeitsgenehmigungen im Ausland ab 1936 durchschnittlich nur etwa sechs Monate jährlich beschäftigt gewesen zu sein, so war die Bezahlung für diese Zeit doch sicherlich noch gut genug, um nicht hungern zu müssen. Wenn auch die Gagen wohl nur für Teddy Stauffers Original Teddies und nur während der Olympiade 1936 in Berlin wirklich enorme Höhen erreichten, und dies wohl sicherlich deswegen, weil er als Schweizer trotz erheblicher Anfeindungen und Schwierigkeiten eben den beim Publikum beliebten Swing spielte und nicht die von den Nazis vorgeschriebene langweilige "arisch-deutsche" oder gar volkstümliche Tanzmusik und deswegen etwa der Delphi-Palast sehr hohe Umsätze erzielte. "Auf der Reliance hatte ich eine monatliche Heuer von 450 Reichsmark gehabt. Jetzt bekamen wir vom Delphi oder der Femina pro Abend 200. Wir kauften uns fast alle ein Auto. Und eines Abends stellten wir schmunzelnd fest, daß unser Baßgeiger mehr verdiente als der Bundespräsident der Schweiz." (Stauffer, S. 123f.).

Im Dezember 1936 begann für Hans Berry ein bis Ende Februar 1937 währendes Gastspiel mit dem Orchestre Geo Lanz in Arosa. Dann wechselte er für einen Monat zu Carlo Minari in ein Engagement in Monte Carlo, um im April in Genf und Lausanne auf Arbeitssuche zu gehen.

Für vier Spielzeiten schloß sich Hans Berry den Lanigiros, auch Lanigiro's Hot Players, unter der Leitung von René Schmassmann an und war mit ihnen vor allem in den Sommern 1936, 1937, 1938 und 1939 in Belgien in den Casinos Knocke (auch: Knokke) und Ostende engagiert, die von der gleichen Direktion betrieben wurden. Mit den Lanigiros gastierte er auch im September und Oktober 1937 noch einmal im Berliner Delphi-Palast und nahm mit ihnen in Berlin vier "kommerzielle" Titel auf Odeon auf. In Ostende spielte er außerdem mit der schwarzen Band von Willie Lewis. Die Winter verbrachte man meist mit unterschiedlichen Engagements in der Schweiz. Die Geschichte der Lanigiros ist vorbildlich im Internet durch Otto Flückiger und Armin Büttner aufgezeichnet.

Ein zufällig erhaltener "Ausländerausweis" von Hans Berry dokumentiert das unstete Leben eines Tanzmusikers dieser Zeit, aber auch den permanenten behördlichen Kontakt und die besonderen Auflagen: "Berufswechsel verboten" und - mit Unterstreichung - "Stellenwechsel verboten" sind die üblichen Stempel vom Kontrollbüro Basel-Stadt der Kantonalen Fremdenpolizei. Eingereist am 29.9.1938, Stellenantritt als Musiker im Café Astoria in Basel, Aufenthaltsbewilligung gültig bis "31. Oktober 1938 (acht)", wobei also die Schweiz das Interesse an einem länger dauernden Aufenthalt und das Risiko einer Urkundenfälschung so hoch einschätzte, daß man die letzte Ziffer der Jahreszahl noch einmal ausgeschrieben in Klammern anfügte. Am 1.11.1938 hat sich Hans Berry in Lausanne angemeldet (Musicien au Restaurant du Grand-Chêne, et à l'Innovation"), am 27.12.1938 in St. Moritz, am 3.3.1939 in Bern (Radio Bern, ab 31.3. Kasino Bern), am 11.5.1939 in Zürich (für das Orchester des Palais der Landesausstellung), und am 12.6.1939 meldete er sich wieder nach Ostende ab.

Die Bedeutung und Qualität der Musik im Seebad Knocke darf keinesfalls mit dem Begriff "Kurkapelle" in Verbindung gebracht werden. Das Casino mit Kursaal war in moderner Architektur ausgeführt und hatte einem anspruchsvollen Großstadt-Publikum zu genügen. Ein Programmheft vom Herbst 1939 nennt für die Saison unter den Dirigenten Paul Hindemith, unter den Sängern Erna Sack, Jarmila Novotna, Joseph Schmidt und Richard Tauber, unter den Pianisten Wladimir Horovitz, unter den Violinisten Nathan Milstein, unter den Tänzern Manuela del Rio und die Solisten des Theatre Royal de la Monnaie, unter der Überschrift "Humour et Fantaisie" Maurice Chevalier, Charles Trenet und Lucienne Boyer. Und "au dancing" spielten abwechselnd Jo Bouillon (der Ehemann von Josephine Baker) et son orchestre und The Lanigiros.

Kurt Widmann 1945-48. Hans Berry stehend in der Mitte Kurt Widmann 1945-48. Hans Berry stehend in der Mitte
© Deutsches Tanzarchiv Köln
Kurt Widmann 1945-48. Hans Berry stehend in der Mitte

Mit dem Kriegsausbruch 1939 lösten sich die Lanigiros auf. Hans Berry blieb bis 1943 in Belgien, namentlich in Brüssel. In seiner Brüsseler Zeit spielte er u.a. mit Benny Carter, Bill Coleman, Ray Ventura, Gus Clark, Davie Bee, John Witjes, Fud Candrix und Jean Omer. Ein kleines Brüsseler Lokal "Nouvelle-Orléans" machte Musikgeschichte. Von 1940-43 gehörte Hans Berry als Geiger auch dem Quintette du Hot-Club de Belgique an, der sich nach dem Vorbild des Hot Club de France gebildet hatte. Mit Robert Bosmans und Gus Clark nahm Hans Berry in dieser Zeit einige Schallplattentitel auf. Bosmans schrieb auf das Cover der Noten seines neuen Slow-Fox' "Vous et moi" 1941 als Widmung: "A l'incomparable Tzigane-Swinger Hans Berry". Tzigane/Zigeuner deshalb, weil Hans Berry sich neben dem Swing auch - zumindest auf der Geige - umfangreichere Kenntnisse und Fertigkeiten im Stil der Zigeuner angeeignet hatte. Schon ab etwa 1923 hatte er allerlei v.a. ungarische Tänze, z.B. von Franz Drdla oder Jenö Hubay im Repertoire, und in den 1930er Jahren hatte er sich diesbezüglich so eingehört, daß er eine kurze Zeit lang von Zigeunern wie einer der ihren aufgenommen wurde und mit ihnen musizierte, wobei er nach eigener Aussage u.a. einige nützliche Hilfsgriffe lernte, die er aus keiner Violinschule kannte. – In Belgien verliebte sich Hans Berry in die sechs Jahre jüngere Sängerin Maria (Mariette, Jetty) van der Stighelen, die er bei einem Deutschland-Aufenthalt am 23.12.1942 in Berlin in erster Ehe heiratete. Während der deutschen Besatzungszeit Belgiens wurde der vermeintlich belgische Musiker als Deutscher entdeckt, nach Deutschland zurückbefohlen und 1943 zur Wehrmacht eingezogen.

Michael H. Kater beschreibt in seinem Buch „Gewagtes Spiel: Jazz im Nationalsozialismus“ eine "Frankfurter Gruppe" um Emil Mangelsdorff, Carlo Bohländer und Hans Otto Jung. "Die Frankfurter Gruppe übte danach weiterhin zusammen, häufig mit gastierenden niederländischen und belgischen Musikern wie dem Bassisten Hubert Venesoen und dem Tenorsaxophonisten Freddy de Bondt, aber auch mit dem nicht ‚reinrassigen' deutschen Trompeter Hans Berry, der aus Belgien zurückgekehrt war und bald eingezogen wurde. Diese Musiker spielten, immer in irgendeinem Versteck, zu ihrem eigenen Vergnügen und dem ihrer Fans." (S. 276ff., hier 279). Außerdem stellt Kater fest: "Der scharfsinnige deutsche Amateurimpresario Hans Blüthner bemerkte 1947 in der schwedischen Zeitschrift ‚Orkester Journalen' über Berry, er sei der ‚überragende Trompeter' des Reiches gewesen." (ebd, S. 129).

Bis Mitte Oktober 1945 befand sich Hans Berry in russischer Kriegsgefangenschaft, und zwar im Lager Focsani in Rumänien. Seine Komposition "Focsani Melody" ist auf Schallplatte erhalten, aufgenommen vom Saxophone Quartet Edmond Cohanier (Gallant Records GT 4002, USA 1961?, dort auch sein "Valse Lilibet"). Gleich nach seiner Rückkehr spielte er vom 1.11.1945 bis zu dessen Tod mit Kurt Widmann; gleichzeitig wurden die ersten Aufnahmen für den RIAS 1947 im Dachraum einer Fernmeldestelle der Post am Berliner Winterfeldtplatz bei Kurt Hohenberger (unter der musikalischen Leitung von Friedrich Schröder) aufgezeichnet. Zu Kurt Widmanns Solisten zählten im September 1947 u.a. Hans Berry und Paul Ruts (tp), Werner Müller (tb), Heinz Alisch und Heinz Kamberg (s).

In der Nacht vom 5. zum 6.6.1947 fand die legendäre erste Berliner "Jam-Session" statt. Sie "vereinigte noch eine wirkliche Elite an Musikern, so - um nur die wichtigsten Namen zu nennen - Hans Berry, Walter Dobschinsky, Helmut Zacharias, Fritz Schulz-Reichel, Georg Haentzschel, Heinz Alisch, Detlev Lais, Baldo Maestri, Coco Schumann, Joe Glaser, Ilja Glusgal und Herbert Müller [...]." (Lange, S. 153). Weiteren Jam-Sessions, veranstaltet vom Hot-Club Berlin, folgten die beiden berühmten Rex-Stewart-Jam-Sessions, deren erste am 7. Juli 1948 "in der Wohnung des Jazzexperten und Fotografen Hans H. Hartmann" (Studio "Der Spiegel" Hartmann-Peter) vor geladenen Gästen stattfand (ebd.) und von der etliche Fotos existieren. Die zweite folgte am 9. Juli 1948 im kleinen Restaurant des Delphi-Palastes (der große Saal war ausgebombt), strukturiert in Auftritte einzelner Gruppen. Ein Ausschnitt aus einer noch nicht identifizierten Zeitschrift berichtet über den Abend u.a.: "Eine neue Gruppe folgt: Hans Berry (Trompete), Fritz Schulz-Reichel (Piano), Burgmüller (Baß) und Rex Stewarts Alt-Saxophonist. [...] Die beste Gruppe!" "Damals im Juli 1948 gelang es dem Berliner Hot-Club sogar, Rex Stewart und seine Negerband zusammen mit Berliner Star-Musikern für Schallplattenaufnahmen zu gewinnen. So entstanden am 15. Juli 1948 die berühmten Hot-Club-Berlin-Session-Aufnahmen mit Rex Stewart für die Marke Amiga, die damals jazzeifrigste Firma in Deutschland." (Lange 1968, S. 153). Hans Berry war natürlich mit dabei, und Rex Stewart widmete ihm ein Foto "To Hans from Rex".

Quintette du Hot-Club de Belgique. 1940-43. links: Hans Berry Quintette du Hot-Club de Belgique. 1940-43. links: Hans Berry
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Quintette du Hot-Club de Belgique. 1940-43. links: Hans Berry

Daß Hans Berry auch im Ausland weiterhin komponiert hatte und seine Werke aufgeführt wurden, beweist ein Schreiben der Schweizerischen Gesellschaft der Urheber und Verleger SUISA vom 1.6.1948, die nach Kontakt mit der GEMA seine Adresse in Berlin in Erfahrung gebracht hatte und ihm anschließend die Tantiemen seiner Aufführungsrechte aus den Jahren 1939-1946 in Form von "Liebesgabenpaketen" schickte, da es keine Möglichkeit gab, das Geld zu überweisen. In den Jahren 1947 und 1948 wurden etliche Decelith-Platten des Reichsrundfunks auf den Rückseiten für neue Aufzeichnungen genutzt; im Nachlaß von Hans Berry existieren in dieser Form u.a. der „Berry Blues“, „Distant shore“, „Capriccio“ oder „Melancholie“ (Orchester Kurt Widmann), die auf der Vorderseite z.B. ein Hörspiel des RRF von 1944 zum 70. Geburtstag des Dramatiker Wilhelm v. Scholz aufweisen.

Ab dem 1.11.1948 gehörte Hans Berry 25 Jahre lang dem RIAS Tanzorchester an: bis 1954 als Trompeter, anschließend als Violinist. Er machte unter der Leitung von Werner Müller alias Ricardo Santos u.a. zwei sehr erfolgreiche Japan-Tourneen mit (und eine dritte nach dem Wechsel von Müller zum WDR-Tanzorchester mit diesem). Um 1949 leitete Hans Berry zudem eine aus dem RIAS-Tanzorchester hervorgegangene Swing-Gruppe. Nach dem überraschenden Tod von Kurt Widmann am 27.11.1954 übernahm sein erster Trompeter Hans Berry die Leitung des Orchesters Kurt Widmann für eine Gedächtnis- und Benefizveranstaltung im Berliner Sportpalast mit dem Titel „Musiker greifen ein!“. Der Erlös kam Widmanns mittelloser Witwe und Tochter zugute. 

Auch im offiziellen Ruhestand komponierte und arrangierte Hans Berry noch zahlreiche Titel. Am 7.10.1984 verstarb der „deutsche Spitzentrompeter nach 1930 bis heute“, wie ihn Horst H. Lange in seiner 1960 erschienenen „Geschichte des Jazz in Deutschland“ benannte, in Berlin im Alter von 79 Jahren.

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Literatur: 
Roman Lewandowski: Vom Konzertgeiger zum Jazztrompeter. [Hans Berry]. In: Vier Viertel. Zeitschrift für Musik und Tanz. 3. Jg. H. 2, Berlin, 2. Januarheft 1949, S. 5.
Carlo Bohländer, Karl Heinz Holler: Reclams Jazzführer. Stuttgart 1970 
Michael H. Kater: Gewagtes Spiel. Jazz im Nationalsozialismus. Köln 1995 
Horst H. Lange: Die Geschichte des Jazz in Deutschland. Die Entwicklungen von 1910 bis 1960 mit Discographie. Lübbecke 1960 
Horst H. Lange: Jazz in Deutschland. Die deutsche Jazz-Chronik 1900-1960. Berlin 1966 
Teddy Stauffer: Es war und ist ein herrliches Leben. Frankfurt/M. 1968
Hans Blüthner: Jazz in Berlin. In: Orkester Journalen, Dezember 1947, S. 33 (zitiert nach Kater).
Otto Flückiger, Armin Büttner: www.jazzdocumentation.ch/lanigiro_intro.html
Hans Költzsch: Das Judentum in der Musik. In: Theodor Fritsch: Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes. Leipzig, 38. Aufl./171.-180. Tausend 1935, zitiert nach dem Faksimile-Abdruck in: Entartete Musik. Zur Düsseldorfer Ausstellung von 1938. Eine kommentierte Rekonstruktion von Albrecht Dümling und Peter Girth. Düsseldorf 1988, S. 81f.
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(work in progress, letzte Änderung: 8.1.2007)
Korrekturen und Ergänzungen jederzeit erwünscht!