Stellen Sie sich vor, sie würden in den 1920er Jahren leben und gingen in deren zweiter Hälfte in Dresden ins Theater, um eine Tanzaufführung von Mary Wigman oder Gret Palucca anzuschauen. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden Sie kurz vor Beginn, auch in der Pause und gleich nach der Aufführung an einem Tisch im Foyer eine ca. 35jährige Frau sitzen sehen, die Postkarten mit Tanzmotiven verkauft. Und wenn Sie zu ihr an den Tisch gehen würden, fänden sie auf den Karten all jene Sprungfotos von der Palucca oder jene Solo- und Gruppentanzfotos von Mary Wigman abgebildet, die Sie schon in den Zeitungen und Zeitschriften bewundert haben und die Sie vielleicht erst auf den modernen Tanz aufmerksam und zu einem Fan gemacht haben.


© Charlotte Rudolph / VG BildKunst Bonn
Charlotte Rudolph: Selbstporträt

Falls Sie sich dann eine Postkarte näher anschauen würden, fiele Ihnen auf, dass diese nicht von einem Postkartenverlag im Rasterdruckverfahren vervielfältigt wurde, sondern von Hand als Originalfoto auf einem Fotopapier mit rückseitigen Postkartenlinien abgezogen und vor dem Trocknen mit einem kleinen Schlag- oder Prägestempel signiert wurde: CH. RUDOLPH  DRESDEN. Und vielleicht kämen Sie mit der Frau am Tisch ins Gespräch, und dann würden Sie erfahren: Es ist die Fotografin selbst, die hier ihre Fotos als Postkarten verkauft. Und Sie würden sicher etliche Karten erwerben – und mit Grüßen an Ihre Freundinnen und Freunde verschicken, oder am Bühneneingang auf Palucca oder Wigman warten, um sich auf einer der Karten ein Autogramm geben zu lassen.

Charlotte Rudolph war seit etwa 1918 Schülerin von Hugo Erfurth und kannte, da sie sich für Tanz interessierte, mit Sicherheit auch seine Aufnahmen von Tänzerinnen in der Bewegung. 1920 sah sie Mary Wigman tanzen, traute sich aber (nach ihren schriftlichen Erinnerungen) nicht, sich ihr als Fotografin vorzustellen. Wie viele Fotografen nahm sie, auch später noch, jeden privaten Auftrag an, um sich etwas durch die Fotografie zu verdienen. Erst 1923 kam sie selbst zur Tanzfotografie. Sie hatte für den Kunsthistoriker Will Grohmann Kunstwerke zur Bebilderung seiner Aufsätze abfotografiert, und dieser kannte nicht nur seit 1919 Mary Wigman, sondern auch ihre junge Schülerin und Gruppentänzerin Gret Palucca, die nun zur Werbung für ihre eigenen Tänze Fotos benötigte.


© Charlotte Rudolph / VG BildKunst Bonn

Da sich Palucca durch eine besondere Sprungqualität auszeichnete und man für den Abdruck Aufnahmen ohne Bewegungsunschärfe benötigte, Charlotte Rudolph aber noch kein eigenes Atelier und auch nicht die für kurze Belichtungszeiten benötigten starken Scheinwerfer besaß, wurden die Aufnahmen bei Tageslicht in der Sächsischen Schweiz gemacht. Sie wurden für beide – Tänzerin und Fotografin – zu einem großen Erfolg. Palucca erinnerte sich noch viele Jahrzehnte später daran, dass „sechs Amerikanerinnen, ältere Fräuleins," ebensolche Aufnahmen wünschten und dachten, Charlotte Rudolph habe die „Sprünge photographisch mit Tricks fingiert“. 


© Charlotte Rudolph / VG BildKunst Bonn

Bei der Beurteilung der fotografischen Werke von Charlotte Rudolph ist man auf die noch existierenden Vintage-Fotos (im Deutschen Tanzarchiv Köln: mehrere Hundert) und auf zeitgenössische Abdrucke in Büchern und Zeitschriften angewiesen: Leider haben die Luftangriffe auf Dresden 1944/1945 auch ihr gesamtes Negativarchiv zerstört. Wie durch ein Wunder jedoch hat eine Schachtel mit einem Dutzend Glasplatten-Negative von Palucca wohl aus dem Jahr 1923 „überlebt“. Neben mehreren Tanzfotos befindet sich auch ein Porträt der jungen Palucca darunter.


© Charlotte Rudolph / VG BildKunst Bonn

Durch die Palucca-Fotos wurde auch Mary Wigman auf Charlotte Rudolph aufmerksam und lud sie zu Aufnahmen ein. Die Zusammenarbeit gelang, und von 1925 bis 1942 wurde Charlotte Rudolph sozusagen die „Hausfotografin“ der Wigman und ihrer Schule. Die berühmtesten Fotos von Mary Wigman stammen von Charlotte Rudolph. Viele junge Tänzerinnen und Tänzer wie Vera Skoronel, Lotte Goslar, Gertrud Steinweg, Tina Flade, Yella Schirmer, Guri Thorsteinsson, Hanya Holm, Chinita Ullmann, Afrika Doering, Hilde Baumann, Liselotte Huck, Helche Loge, Wilmo Kamrath, Ellen von Cleve-Petz und Dore Hoyer ließen sich von ihr fotografieren, und sie machte Aufnahmen von Tanzwerken wie dem Grünen Tisch von Kurt Jooss.

Ihre Fotos wurden in Berlin und London ausgestellt. Charlotte Rudolph publizierte Aufsätze über Tanzphotographie und Das tänzerische Lichtbild. Sie fand sehr schnell einen eigenen, typischen Stil für Solotanzfotos unter Einbeziehung der Schlagschatten der Tänzer auf hellem Hintergrund, abgestuft und versetzt erzeugt durch mehrere Lampen unterschiedlicher Lichtstärke. Wie Hugo Erfurth legte sie großen Wert darauf, den Tänzer tatsächlich in der Bewegung aufzunehmen und als plastisch-räumliche Gestalt wiederzugeben. Charlotte Rudolph, die heute als einflussreichste Tanzfotografin ihrer Zeit gilt, legte die Grundlagen für spätere Generationen und Künstler wie z.B. Barbara Morgan oder Loїs Greenfield.

Frank-Manuel Peter


© Charlotte Rudolph / VG BildKunst Bonn