"Ich will das Wesentliche tanzen. Was Menschen treibt und was sie zueinander tun"
von Frank-Manuel Peter
Kürzer als Klaus Mann kann man es wohl kaum auf den Punkt bringen: »Tänzerin Goslar, höchst komisch«, notierte er am 1. Januar 1934 nach der Premiere des zweiten Schweizer Exilprogramms der »Pfeffermühle« in sein Tagebuch. Da war Lotte Goslar (Laienkurs bei Mary Wigman; Ausbildung, musikalische Assistenz und Gruppenmitglied bei Gret Palucca; künstlerische Inspiration durch Valeska Gert) in Deutschland schon mehrere Jahre lang überaus erfolgreich aufgetreten. Im Februar 1933 hieß es in einer Berliner Kritik beispielsweise, sie sei »eine ganz große Begabung«, »sie reicht an die besten Stücke der Gert, sie geht über sie hinaus». Ihre berühmtesten Tänze dieser Zeit hießen Der Unwirsch, Das Alräunchen und Die Jungfrau.
Konsequenter als Valeska Gert kehrte Lotte Goslar dem nationalsozialistischen Deutschland sofort den Rücken zu. In Prag lernte sie den emigrierten jungen Kritiker Hans Sahl kennen, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband, auch dann, als er zunächst in Paris blieb, während sie – nach einjährigem Engagement am »Befreiten Theater« von Jiří Voskovec und Jan Werich – mit Erika Manns »Pfeffermühle« Ende 1937 in die USA reiste und sich dort durch ihre Tänze als einzige des Ensembles etablieren konnte. Sahl und Lotte Goslar wechselten Briefe, von denen sich etliche in Goslars gleichermaßen der Jerome Robbins Dance Division und dem Deutschen Tanzarchiv Köln vermachten Nachlaß erhalten haben. »Du hast viel Einfluß auf mich ausgeübt«, schrieb sie ihm, »nicht nur durch Deinen weisen Spott oder durch Deine Ermutigungen, sondern vor allem durch Dein Beispiel. So möchte ich tanzen können, wie Du schreibst!« Beide schätzten sie Valeska Gert, und zwei von deren Tänzen, »mit denen sie mich einfach hinschmetterte«, waren Lotte Goslar »unvergeßlich für den Rest meines Lebens«: das Baby und der Tod.
»Ich will das Wesentliche tanzen. Was Menschen treibt und was sie zueinander tun«, teilte sie Sahl mit. »Ich würde heute viel lieber bei Woolworth arbeiten, als die geringste Konzession machen.« Und sie hatte großen Erfolg damit. Sie arbeitete unter anderem mit Erwin Piscator und Bert Brecht zusammen, unterrichtete eineinhalb Jahre Marilyn Monroe und gründete 1954 eine eigene Truppe, den Pantomime Circus, mit dem sie jahrzehntelang tourte. Sie arbeitete auch an Filmen, für Festivals und für namhafte Kompanien. In Jacob’s Pillow tanzte Jean Cébron bei ihr. Er sei »wirklich wunderbar«, schrieb sie ihrem Mann Wilhelm Seehaus, »ein großer Künstler in seinem eigenen ganz eigenartigen Stil, und sehr, sehr gut in meinem.« Lotte Goslar lehnte dagegen beispielsweise die sehr bekannte Agna Enters »völlig ab. Sie macht Genrebildchen [...] und ist, was sich der kleine Moritz unter einer originellen Künstlerin vorstellt.«
Von Lotte Goslars zahlreichen Tänzen und Programmen waren besonders erfolgreich Der Künstler selbst, noch aus der Zeit bei Voskovec und Werich stammend, Ein Häufchen Elend / Little Heap of Misery, zärtlich Hans Sahl karikierend, wie er morgendlich zerzaust und unausgeschlafen den Tag beginnt, Life of a flower, an Jo Mihalys Blume im Hinterhof erinnernd und ihr berühmtes Grandma Always Danced. »Ich will nur eins: die Wahrheit«, schrieb sie an Sahl. Und die hat sie ihrem Publikum ein Leben lang aufs köstlichste vorgeführt.
Erstveröffentlicht in Tanzjournal , H. 1 / 2007, S. 60f.
Foto © : Elli Müller-Rau / Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto © : Käte Basarke, Dresden / Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto © : Stehlik, Prag / Deutsches Tanzarchiv Köln
Die Widmung „Dem guten Rettchen“ galt der Garderobiere vom Kölner Kaiserhof-Theater.
Foto © : N.N. / Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto © : John Lindquist, Boston / Deutsches Tanzarchiv Köln