Eine gute Posse ist künstlerisch wertvoller als ein mangelhaftes Drama in hohem Stil. Auch auf der modernen Tanzbühne gibt es Amüsierkünste von einer geistigen und technischen Vollendung, die diese leichteste Ware zum Range echter Kunstwerke erheben. Valeska Gert ist die Meisterin dieses Genres. Auf Effekt, Pointe, Amüsement ist ihre Kunst gestellt. Eine fabelhaft sichere Technik, spielend gemeistert, wird zu spielerischen, unterhaltenden, verblüffenden Wirkungen benutzt. Das Parodistische gelingt am besten. Alles hat eine erotische Note mit stark gepfeffertem Hautgout. Eine unerhört schmissige, grimmig-pietätlose Verulkung, getanzte Zeitsatire. Jeder Sprung eine Pointe, und jeder Schwung ein klatschender Peitschenhieb. Giftige, groteske Zerrbilder einer dem Untergang geweihten Überkultur. Künstlerisch eine Mischung aus Tanz und schauspielerischer Pantomime, die nicht nur zuweilen auf die musikalische Begleitung, sondern häufig auch auf den inneren Rhythmus verzichtet. Eine aufs höchste kultivierte, blendende Kunst, deren Wurzeln im Esprit, Witz und Geschmack liegen.

John Schikowski, Geschichte des Tanzes, Berlin 1926, S. 152f.

Archive

Valeska Gert (1892-1978) ist zu berühmt, um sie hier noch vorstellen zu müssen. Ihr Nachlass wurde durch Vermittlung ihres Biographen von der Erbengemeinschaft an das Archiv der Akademie der Künste in Berlin gegeben.

Auch in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln und im Deutschen Tanzarchiv Köln* befinden sich beachtliche Bestände zu ihr.

Jedoch auch in anderen Sammlungen sind forschungsrelevante Dokumente zu Valeska Gert zu finden: Im Archiv Bibliographia Judaica in Frankfurt am Main in der Zeitungsausschnittsammlung Carl Steininger, deren Bestand heute als Microfiche in vielen großen Bibliotheken zugänglich ist.

In den Theaterhistorischen Sammlungen der Freien Universität Berlin befinden sich einige Dokumente zu ihr. Und im Düsseldorfer Theatermuseum, wo Valeska Gerts Auftritte im Düsseldorfer Schauspielhaus dokumentiert sind.

Oder, weniger vorhersehbar, im Oldenburger Landesmuseum, wo im Archiv der „Vereinigung für Junge Kunst“ die Dokumente ihrer Auftritte in Oldenburg aufbewahrt werden.

Hinweise auf weitere Materialien werden gern aufgenommen.

Werkverzeichnis

Auf dieser Webseite sollen aber nicht nur Hinweise auf Bestände gegeben, sondern auch Informationen und Dokumente zu Valeska Gert zugänglich gemacht werden.

Begonnen wird mit einem Vorläufigen Werkverzeichnis der Tänze von Valeska Gert, das auf der Auswertung der genannten Bestände basiert und als work-in-progress  aufgrund von Hinweisen und neuen Funden laufend aktualisiert werden soll.[1]

In Arbeit befindet sich z.Z. eine Valeska-Gert-Bibliographie, ebenfalls als work-in-progress angelegt.

[1] Herzlicher Dank gebührt Nora Böttger, Sirkka Muth und Sabrina-Dunja Sandstede. Ferner Dr. Hedwig Müller von der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln; Stephan Dörschel vom Archiv der Akademie der Künste Berlin; Dr. Winrich Meiszies, Dr. Michael Matzigkeit und Sigrid Arnold vom Düsseldorfer Theatermuseum; Dr. Rainer Stamm und Julia Lennemann vom Landesmuseum für Kunst und Kunstgeschichte Oldenburg; Dr. Renate Heuer und Abdelhaq El Mesmoudi vom Archiv Bibliographia Judaica Frankfurt am Main mit der Slg. Carl Steininger; Angelika Ret, Fachbereich Geschichte / Artistica der Stiftung Stadtmuseum Berlin; Dr. Peter Jammerthal, Theaterhistorische Sammlungen der Freien Universität Berlin, für die Zugänglichmachung der Dokumente der dortigen Bestände sowie Franziska Buhre für den Hinweis auf die Microfiches der Sammlung Carl Steininger.

Die Pause der Canaille

Fred Hildenbrandt hat 1928 das erste Buch über Valeska Gert mit vielen Fotos veröffentlicht. Es gibt einen berühmten, einst viel in der Presse besprochenen Tanz Valeska Gerts mit dem Titel "Canaille", der den Berufsalltag einer Prostituierten zum Thema hat. Eine lediglich "Pause" aussagende Bildunterschrift in Hildenbrandts Buch hat versehentlich dazu geführt, dass die Pause, welche die "Canaille"  nach dem Besuch des Freiers macht, als selbständiger Tanz missverstanden wurde. In Volker Schlöndorffs Porträtfilm studiert Valeska Gert 1977 ihren Tanz "Canaille" Pola Kinski vor laufender Kamera ein. Nach dem Koitus mit dem Freier macht die Prostituierte eine Pause, und das Foto von Käthe Ruppel aus einer Serie zu diesem Tanz (1919) zeigt den Moment dieser Pause. Im Film sind Valeska Gert und Pola Kinski in diesem Moment in der gleichen Haltung zu sehen. Während die versehentliche Fehlinterpretation des alten Fotos, das nur in Hildenbrandts Buch "Pause" untertitelt ist, von einem Stehen der Tänzerin, einem Tanz ohne Bewegung ausgeht, läßt die (sehr entspannte) Haltung der Tänzerin im Moment der Pause durchaus auch eine Interpretation zu, nach welcher sich die "Canaille" in ihrer Pause (noch) liegend im Bett räkelt, der Zuschauer also quasi von oben auf das Bett schaut. Anschließend "erwacht" die "Canaille" und stellt fest: "Was hat man mit mir getan? Man hat meinen Körper ausgenutzt, weil ich Geld haben muß. Miserable Welt! Ich spucke einen verächtlichen Schritt nach rechts und einen nach links, dann latsche ich ab." (Valeska Gert: Ich bin eine Hexe, München 1968, S. 48).

Die Angedichtete

Der Schauspieler und Dichter Aribert Wäscher, der über viele Jahre der Lebensgefährte von Valeska Gert war, schrieb über das Aufwachen einer Tänzerin, die nun voller Energie aufsteht (Auszug):

„Schützt Euch, verkriecht Euch, stellt eiserne Gitter um Euch auf, jetzt komme ich ganz, ich Geschöpf, ich Wesen, Gestalt, ich Albdruck, ich Bringer des Glücks, ich Teufel, ich Engel, ich Mensch, ich bleiches Gespenst. Wilde Fratzen werf ich Euch zu, mildes Antlitz neige ich über Euch. Hört Ihr das Brüllen der Bestien, labt Euch das Zwitschern der Vögel, schreckt Euch das Zischen der Schlange, freut Euch das Brummen der Bienen, ärgert Euch sehr das Quaken der Frösche? Krümmt Euch mit dem Gewürm! […] Und schon drängen die Menschen: die Guten, die Bösen, die Narren, die Dummen, die Klugen, die Weisen, die Reichen, die Bettler, die Stolzen, die Unterwürfigen, die Harten, die Demütigen, die Krieger, die Dichter, die Kaufleute, die Priester, die Mörder, die Unglücklichen, die Verführer, die Hassenden, die Liebenden, Prinzessinnen, Heilige, Dirnen, Marktweiber, Mütter! Und hier noch extra, noch einmal für sich: die Liebe, der Haß, der Geiz, der Neid, der Zorn, die Rache, die Freude, das Leben, das Leben und hier – o Schauer! – der Tod! Seht mein Gesicht, wie es wechselt, wie es sich wandelt, wie ich mich selbst verwandle, seht mich heranrauschen, seht mich entschwinden, seht mich noch einmal auferstehen und wiedergebären noch einmal und wieder einmal, noch tausend Gestalten und nochmal zehntausend, zahllos, unaufhörlich, Herrgott, Herrgott, wie riesenhaft groß, wie gewaltig belebt, wie maßlos voll Lust ist Dein Reich!“

(Das Erwachen der Tänzerin, in: Aribert Wäscher: Gedanken nach zwei Uhr nachts. Berlin 1939, S. 111-117, hier 116f.)

Schützt Euch, verkriecht Euch, stellt eiserne Gitter um Euch auf, jetzt komme ich ganz, ich Geschöpf, ich Wesen, Gestalt, ich Albdruck, ich Bringer des Glücks, ich Teufel, ich Engel, ich Mensch, ich bleiches Gespenst. Wilde Fratzen werf ich Euch zu, mildes Antlitz neige ich über Euch. Hört Ihr das Brüllen der Bestien, labt Euch das Zwitschern der Vögel, schreckt Euch das Zischen der Schlange, freut Euch das Brummen der Bienen, ärgert Euch sehr das Quaken der Frösche? Krümmt Euch mit dem Gewürm! […] Und schon drängen die Menschen: die Guten, die Bösen, die Narren, die Dummen, die Klugen, die Weisen, die Reichen, die Bettler, die Stolzen, die Unterwürfigen, die Harten, die Demütigen, die Krieger, die Dichter, die Kaufleute, die Priester, die Mörder, die Unglücklichen, die Verführer, die Hassenden, die Liebenden, Prinzessinnen, Heilige, Dirnen, Marktweiber, Mütter! Und hier noch extra, noch einmal für sich: die Liebe, der Haß, der Geiz, der Neid, der Zorn, die Rache, die Freude, das Leben, das Leben und hier – o Schauer! – der Tod! Seht mein Gesicht, wie es wechselt, wie es sich wandelt, wie ich mich selbst verwandle, seht mich heranrauschen, seht mich entschwinden, seht mich noch einmal auferstehen und wiedergebären noch einmal und wieder einmal, noch tausend Gestalten und nochmal zehntausend, zahllos, unaufhörlich, Herrgott, Herrgott, wie riesenhaft groß, wie gewaltig belebt, wie maßlos voll Lust ist Dein Reich!

Das Erwachen der Tänzerin, in: Aribert Wäscher: Gedanken nach zwei Uhr nachts. Berlin 1939, S. 111-117, hier 116f.

Das Copyright an Tänzen und Texten von Valeska Gert liegt bei deren Erbengemeinschaft, vertreten durch das Deutsche Tanzarchiv Köln.

Valeska Gert:
Ich bin eine Hexe. Memoiren.
Durchgesehene Neuauflage, neu bebildert und mit einem Personenregister versehen.
Mit einem Nachwort von Frank-Manuel Peter.
Hg. vom Deutschen Tanzarchiv Köln.
Berlin, Alexander Verlag  2019
ISBN 978-3-89581-511-9
285 S., 20 Abb.
19,90 Euro (nur im Buchhandel)


Frank-Manuel Peter:
Valeska Gert. Tänzerin, Schauspielerin, Kabarettistin.
Berlin 1985
144 S., 150 schw.-w. Abb.
14,90 Euro.