„Da packte mich die heilige Tanzwut, und jede Scheu vergessend improvisierte ich heiß und wild darauf los, bis ich nicht mehr atmen konnte."

Von Garnet Schuldt-Hiddemann

Es muss sich gut angefühlt haben, als Gudrun Müller im Oktober 1948 die Vier Viertel. Zeitschrift für Musik und Tanz in die Finger bekommt - auf dem Titelblatt ein fein geschnittenes Gesicht, umrahmt von blondem Haar: ihr Gesicht! Der renommierte Tanzfotograf Siegfried Enkelmann hat sie portraitiert, und im Innenteil steht es schwarz auf weiß:
"Unser Titelbild zeigt Gudrun Müller. In der Ballettgruppe der Städtischen Bühnen Leipzig, die sich unter Leitung von Herbert Freund immer mehr zu einem verheißungsvollen Ensemble aufschwingt, fällt vor allem diese junge Wigman-Schülerin durch die Beherrschtheit ihrer tänzerischen Bewegungen auf."

Oktober 1948: Gudrun Müller-Portrait des Fotografen Siegfried Enkelmann auf dem Titel der „Vier Viertel. Zeitschrift für Musik und Tanz“.
Foto: Siegfried Enkelmann © VG BildKunst, Bonn

Die Zeit der existentiellen Kämpfe und ewigen Zweifel ist also endgültig vorbei. Aber wie schwierig es doch war, so weit zu kommen, wie fast unmöglich, überhaupt eine Ausbildung zur Tänzerin machen zu können!

Obwohl die kleine Gudrun noch während des Besuchs einer Kinderballett-Aufführung wild entschlossen ist, Tänzerin zu werden, braucht es "vom Traum bis zu seiner Erfüllung" noch ein hohes Quantum an Ausdauer, Energie, Fleiß und Talent, weil die Eltern ihre tanzbegeisterte Tochter keineswegs unterstützen.

Am 25. September 1918 ist Gudrun Müller in Dresden geboren und neun Jahre alt, als sie auf Lebenszeit dem Tanz verfällt. Noch als frisch examinierte Tänzerin erinnert sie sich lebhaft an ihr erstes Theatererlebnis mit der Balletteinlage im Weihnachtsmärchen:

Für das Preisausschreiben "Mädchen im Mai" fasst Gudrun Müller wichtige Stationen auf ihrem Weg in die Wigman-Schule zusammen und gewinnt mit Abdruck des Textes den 2. Preis.
Abbildung © Deutsches Tanzarchiv Köln

"Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte mitgetanzt als gehörte ich eigentlich dazu und säße nur aus Versehen auf meinem Stuhl Nummer 19 im ersten Parkett. In dieser Nacht begann mein Wunschtraum: Ich wollte Tänzerin werden, komme, was da wolle! Nachts träumte ich von großen Solopartien und tanzte des Tages bescheidenerweise in unserem kleinen Flur vor dem großen Spiegel. Ich ahnte nicht, dass mein sehnsüchtigster Wunsch erst in zehn Jahren in Erfüllung gehen sollte. Vorläufig erfreute ich meine Mitschülerinnen in den Schulpausen und den Sonntagsbesuch zu Hause. Tanzunterricht aber bekam ich nicht, meine Eltern mochten nichts davon wissen und ihr hartes "Nein", jahrelang aufrechterhalten, hat mir manche bittere Träne entlockt."

Leicht war ihr Weg zur Tänzerin wahrlich nicht. In „Vom Traum bis zu seiner Erfüllung“ schildert Gudrun Müller ihre Kindheits- und Jugenderlebnisse. Als es ihr endlich gelingt, die Mutter zur Teilnahme an Tanzstunden zu überreden, trifft sie ein schrecklicher Schicksalsschlag: "Nach den Osterferien sollte der Unterricht beginnen! In dieser Woche aber starb meine Mutter. Ich kam in ein Internat, und eine strenge Tageseinteilung untersagte unerbittlich derartige 'private Unternehmungen'".

Aber der Tanz lässt Gudrun Müller nicht los und beharrlich tritt sie vor Zuschauern auf, sobald sich eine passende Gelegenheit bietet: "... ich erreichte es immer, zu kleinen Festen tanzen zu dürfen, so unbeholfen und kindlich ich es damals brachte, aber meine glühende Begeisterung und Intensität sicherten mir manch freundlichen Blick. So verging Jahr um Jahr. Trotz aller Ausweglosigkeit wurde mein Glauben, mein Hoffen und Wünschen nicht schwächer."

Gudrun Müller wächst zum Teenager heran und ihre Bewegungslust braucht eine neue Energiequelle, neue Inspirationen. Wie zufällig hat sie "mit sechzehn Jahren, kurz vor der Reifeprüfung [...] ein großes Erlebnis! Unsere Klasse stand im Turnsaal versammelt, und eine Schülerin spielte Chopin. Da packte mich die heilige Tanzwut, und jede Scheu vergessend improvisierte ich heiß und wild darauf los, bis ich nicht mehr atmen konnte."
Trotzdem spürt Gudrun Müller genau, dass all ihr Streben folgenlos bleiben wird, wenn sie keine fundierte Tanzausbildung bekommt. Doch immer noch sind in erster Linie Geduld und ihr Durchhaltevermögen gefragt, denn: „Ich musste nun einen Beruf ergreifen, um sofort Geld zu verdienen, und damit rückte mein Ziel in nebelhafte Fernen. Zuerst ging ich in den Arbeitsdienst, und auch dort habe ich nicht locker gelassen, habe viel für mich geübt im leeren Essraum oder unter freiem Himmel..."
   

Im Spätsommer 1937 gibt es endlich einen Hoffnungsschimmer, denn die renommierte Wigman-Schule stellt Talenten kostenfreie Ausbildungsplätze in Aussicht. Am 30. September 1937 steht Gudrun Müller deshalb vor dem Auswahlkomitee der Eignungsprüfung für Mary Wigmans Institut und schreibt darüber: "Ich empfand ihn als meinen Schicksalstag und war voll von ungeheurer Spannung. Heute mußte es sich entscheiden! Und es entschied sich: ich erhielt die Freistelle! Ein anderes Teilstipendium ermöglichte mir meinen Lebensunterhalt."

Wigmans Institut wird für die nächsten Jahre zu Gudrun Müllers Lebensinhalt. Was sie dort erlernt und erlebt wird ihr gesamtes Leben als Tänzerin nachhaltig prägen.

Drei Wochen muss sie aber noch bangen, ehe sie eine finanzielle Grundsicherung erhält und die Zusage vom Wohlfahrtsamt am 20. Oktober 1937 abgestempelt wird. Dann aber kann es losgehen und so erscheint sie am 25. Oktober 1937: "das erste mal in der Schule“.

Eine Seite aus Gudrun Müllers Erinnerungs-Album spiegelt maßgebliche Ereignisse von der Zulassung zur Wigman-Schule 1937 und dem erfolgreichen Abschluss im Jahr 1940.
Abbildung © Deutsches Tanzarchiv Köln


Seit genau vier Wochen ist sie 19 Jahre alt und endlich in einem seriösen Ausbildungsinstitut für Tanz, und zwar nicht irgendwo, sondern in der Wigman-Schule – die erste Adresse für moderne Tänzer! Natürlich nutzt Gudrun Müller ihre Chance und arbeitet eifrig und vor allem selbstkritisch. Nach einer Vorführung notiert sie: „Die fromme Helene war also gut verlaufen. Gott sei Dank! Nur war ich laut Mary manchmal zu brutal u. habe Busch gegenüber den Takt nicht gewahrt! Ich will meinen nächsten Tanz noch vollendeter tanzen, komponieren, zum Donnerwetter noch einmal, es muss doch etwas aus mir herauszuholen sein, einmalig, faszinierend, einfach hinreissend toll. Mittwoch 8.3.39".

Gudrun Müller ist alles andere als verwöhnt. Vielmehr ist es für sie normal, alleine und selbstständig durchs Leben zu gehen. Aber für eine angehende Tänzerin sind die Perspektiven kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs mehr als unklar, und so notiert sie verunsichert: "Ich habe Angst vor der Zukunft, wenn diese 3 Wigmanjahre vorbei sind, was wird? 13.3.39".
Zugleich lenkt der Schulalltag von solchen Unsicherheiten ab, denn Wigmans Stundenplan regelt Gudrun Müllers Tagesablauf: das Studium fordert ihre ganze Konzentration und füllt sie aus.

Beim Examen im Sommer 1940 legt Gudrun Müller zunächst ihre Ballettprüfung vor der Reichstheaterkammer ab, dann am 28. Juni 1940 die Laientanzprüfung mit Note: 2  -  "Das eigene Können ist vorbildlich". Direkt am Tag darauf folgt die Prüfung für die vorbereitende Berufsbildung, ebenfalls: Note 2.

Gudrun Müller in frühen Bewegungsstudien.
Foto N.N. © Deutsches Tanzarchiv Köln

1943 weist das Bühnenjahrbuch Gudrun Müllers Engagement als Tänzerin in Leipzig nach. Tatjana Gsovsky leitet das Ensemble, und so hat Gudrun Müller Gelegenheit, Bühnenerfahrungen zu sammeln, ohne einseitig auf den klassischen oder modernen Tanzstil festgelegt zu sein. Vielmehr lernt sie ein großes Spektrum von Bewegungsmöglichkeiten kennen, erweitert damit ihr persönliches Bewegungsrepertoire und wird immer routinierter im Theateralltag. Im Herbst 1943 ist es ihr sogar möglich, die vertraute Arbeit mit Wigman und die neuen Herausforderungen bei Gsvosky zu kombinieren. Am 6. November 1943 tanzt sie während der Dritten Leipziger Uraufführungswoche im Opernhaus sowohl in der Uraufführung der Catulli Carmina (Szenische Gestaltung: Tatjana Gsovsky und Hanns Niedecken-Gebhard), als auch in der Wiederaufnahme der Carmina Burana (Szenische Gestaltung: Mary Wigman und Hanns Niedecken-Gebhard) [1].

Unglaublich wandlungsfähig begeistert Gudrun Müller Choreographen, Kollegen und das Publikum: hier ganz exotisch. Die Einflüsse der Wigman-Schule wird sie nie verleugnen, ist aber immer offen für neue Tanz-Techniken und die unterschiedlichsten Rollen. Gudrun Müller erarbeitet sich ein großes Repertoire und wird damit zu einer wertvollen Bereicherung der Kompanien.
Foto N.N. © Deutsches Tanzarchiv Köln

In den schwierigen Zeiten zu Ende des Kriegs und in der Nachkriegszeit arbeitet Gudrun Müller viel mit dem Ballettmeister Herbert Freund zusammen, der in Leipzig Tänzer zusammensucht, um wieder erste Tanzvorstellungen auf die Beine zu stellen [2].


Viele Theater sind durch den Krieg zerstört worden, so dass die Vorstellungen oft auf Behelfsbühnen gezeigt werden. Gelegentlich werden die Titel der Tanzprogramme dabei geschmeidig auf die Ansprüche der jeweiligen Besatzungszone zugeschnitten.

Unten rechts: während der Arbeit mit Ballettmeister Herbert Freund.
Fotos N.N. © Deutsches Tanzarchiv Köln

So kündigt der Programmzettel einen  „Russisch-Deutscher Ballettabend“ an, wenn Gudrun Müller am 23. September 1946 im Kongresssaal des Zoo für die Oper Leipzig tanzt.

Schritt für Schritt etabliert sie sich mit solchen Engagements als Bühnentänzerin. Noch wird sie als Gruppentänzerin geführt, aber immerhin schon in hervorgehobenen Rollen.
 

23. September 1946, Programmzettel mit Gudrun Müller in unterschiedlichen Rollen beim Russisch-Deutschen Ballettabend.
Abbildung © Deutsches Tanzarchiv Köln

Zum Beispiel tanzt sie als „Courasches Freundin“ in Die Gaunerstreiche der Courasche - und wenn sie nicht als ebendiese „Freundin“ auf der Bühne steht, spielt sie im selben Stück gleich noch „eine Bäuerin“. Im zweiten Teil dieses Ballettabends tritt Gudrun Müller als „Die Araberin“ in Das Fest des Abdérame auf, und die Presse wird auf sie aufmerksam: „.....Besonderen Anteil am Gelingen des Abends haben Gyp Schlicht (Courasche), Gudrun Müller (Araberin), .....“ [3].

Ablenkung und ein bisschen Spaß standen für solch typische Nachkriegs-Tanzprogramme hoch im Kurs: reichlich musste besetzt, trainiert und zur Vorführung gebracht werden, so dass sich eine junge Tänzerin in sehr unterschiedlichen Rollen ausprobieren konnte.

Viele ihrer Tänze sind fotografisch dokumentiert und die Fotos von Siegfried Enkelmann klebt Gudrun Müller besonders gerne in ihr Album. Leider vermerkt sie dabei in der Regel nicht, welchen Tanz er abgelichtet hat.

Gudrun Müller in einer dynamischen Szene.
Foto: Siegfried Enkelmann © VG BildKunst, Bonn

Sicherlich war es für Gudrun Müller bei all diesem bunten Theatertreiben eine schöne Variante, nochmals eng mit ihrer Meisterin Mary Wigman arbeiten zu können: als Solistin des Tanzchors der Oper in Dreilinden steht sie am 22. März 1947 in Wigmans Inszenierung von Glucks Orpheus und Eurydike in Leipzig auf der Bühne und fungiert als Bindeglied zwischen den Tänzern des Opernballetts und den für die Vorstellung eingesetzten Mitgliedern der Wigman-Schule Leipzig.

Probenfoto zu "Orpheus und Eurydike" in der Inszenierung von Mary Wigman; prominent vorne: Gudrun Müller.
N.N. © Deutsches Tanzarchiv Köln

Probenfotos zu Orpheus und Eurydike lichten Gudrun Müller im Zentrum des Geschehens ab oder zeigen, wie Mary Wigman sich fast in die Szene hineinzuschieben scheint, um ihre Vorstellungen der Inszenierung auf die Tänzer zu übertragen.
Aber nicht nur das Engagement für die Wigman-Inszenierung sorgt für Abwechslung in der zur Routine werdenden Theaterarbeit.
 

Probenfoto zu "Orpheus und Eurydike" in der Inszenierung von Mary Wigman, die links unten in der Bildecke zu sehen ist, oben auf der Treppe: Gudrun Müller.
N.N. © Deutsches Tanzarchiv Köln

In ihren 29. Geburtstag kann Gudrun Müller zum Beispiel sehr zufrieden hinein feiern, weil sie am Vorabend, am 24. September 1947, im Weissen Saal, Zoo Leipzig einen eigenen Tanzabend präsentiert hat. Das eigens dafür gedruckte Plakat kündigt sie als Solotänzerin der Städtischen Oper Leipzig an, und nachdem diese willkommene Herausforderung bewältigt ist, klebt Gudrun Müller neben den Programmzettel in ihr Album die Abschrift einer Rezension, überschrieben mit „Getanzte Anmut“.

Die mit „Gz.“ gezeichnete Kritik schreibt von einem stürmischen „ ….Erfolg für die junge, blonde, strebsame Tänzerin. [...] die Volkslieder getanzt nach russischen Weisen, ließen ihr oft zügellos erscheinendes Temperament mitreißend zur Geltung kommen. Die anmutige Linienführung trat aber in all ihren Tänzen überzeugend in Erscheinung. Die Tänze insgesamt gaben einen interessanten Einblick in die Ideenwelt der jungen Tänzerin. Sie zeichnen sich durch ein beachtliches Niveau aus. …“

Ein schönes Geburtstagsgeschenk: Programmzettel und Abschrift einer begeisterten Kritik zu Gudrun Müllers Tanzvorstellung am 24. September 1947 im Weissen Saal, Zoo Leipzig.
Abbildung © Deutsches Tanzarchiv Köln

Ab 1948 / 1949 bezeugen Programmzettel Gudrun Müllers Auftritte in Solo-, Zweier- oder Dreier-Kombinationen. Ankündigt als Vorstellungen des Leipziger Opernhauses teilt Gudrun Müller sich solche Abende etwa mit der Kollegin Gyp Schlicht oder / und dem Ballettmeister Herbert Freund.

Ein "Dream-Team": Gudrun Müller-Kutschera und Gyp Schlicht
Foto N.N. © Deutsches Tanzarchiv Köln

Fürs Leipziger Schauspielhaus choreographiert sie als Solistin am 22. Februar 1948 abstrakte Themen wie Traum zur Musik von Debussy oder Einsamkeit  (Musik: Rathaus); sie erarbeitet einen Allegro Barbaro (Musik: Bartok) oder Maschenka zu einem russischen Volkslied. Gemeinsam mit Gyp Schlicht eröffnet sie diesen Abend mit einem Brahms Walzer, und zum Abschluss entlassen Herbert Freund, Gyp Schlicht und Gudrun Müller das Publikum mit einem launig klingenden Theater-Theater! [5].

Die Vorstellungen mit Gyp Schlicht sind besonders gefragt. So bedankt sich der Gemeinderat aus dem Städtchen Böhlen in einem Schreiben an Leipzigs Ballettmeister Herbert Freund mit überschwänglichem Lob für diese beiden Solotänzerinnen [6].
Nach solchen Erfolgen öffnet auch das Leipziger Schauspielhaus seine Tore und lädt Anfang 1949 zu einer Tanzmatinee „Gyp Schlicht / Gudrun Müller“ ein.

Programm zu einer Tanzmatinée vom Beginn des Jahres 1949 mit den Solotänzerinnen der Oper Leipzig Gyp Schlicht und Gudrun Müller.
Abbildung © Deutsches Tanzarchiv Köln

Hinzu kommt die Anerkennung im Rahmen der Ensemble-Arbeit. Die Presse lobt Gudrun Müllers „Coppelia“ in Gertrud Steinwegs Inszenierung und schreibt zu ihrem Tanzpartner Georg Groke als Coppelius: „ An Gudrun Müller fand er eine Partnerin, die in der Titelrolle der Coppelia sich gleichfalls der Erinnerung fest einprägt, wie das nur bei einer wahren Kunstleistung sein kann.“ In einer anderen Rezension heißt es: „Gudrun Müller als Coppelia verwirklichte sehr suggestiv das langsame Erwachen zum Leben und erwies sich wieder als Tänzerin von Intensität und Präzision des Ausdrucks“. [7]
 

Die 1940er – 1950er Jahre sind für Gudrun Müller eine überaus produktive Phase mit Ensemble-Arbeit und Solo- oder geteilten Vorstellungen. Ihr Einsatz wird honoriert und niemand kommt mehr auf die Idee, sie als Gruppentänzerin einzustufen. Vielmehr steht sie im Bühnenjahrbuch von 1949 als Solotänzerin an erster Stelle, und den Theaterkalender 1953 ziert ein Enkelmann-Foto mit dem Hinweis "Gudrun Müller, Erste Solistin für Charaktertanz am Städtischen Opernhaus in Leipzig“!

Erst zur Spielzeit 1954/1955 orientiert sich Gudrun Müller von Leipzig fort, um an der Komischen Oper Berlin als neuverpflichtete Solistin zu tanzen. Für die Vorstellung am 20. Juni 1954 druckt die Leipziger Oper über den Titel Die Geschöpfe des Prometheus einen Hinweis "Abschiedsvorstellung Gudrun Müller".

Ansichts-Postkarte "Gudrun Müller, Erste Solistin für Charaktertanz am Städtischen Opernhaus in Leipzig, Foto: Enkelmann". Hg. Theaterkalender 1953, Henschelverlag Berlin.
Foto: Siegfried Enkelmann © VG BildKunst, Bonn

Trotz der Einbindung in den sicherlich kräftezehrenden Betrieb der großen Häuser in Leipzig und später in Berlin erscheint es wie selbstverständlich, dass Gudrun Müller zur Stelle ist, wenn eine Zusammenarbeit mit Mary Wigman in Aussicht steht.
Am 22. Juni 1950 trifft sie im Berliner Festsaal der Landesbildstelle dabei nicht nur auf Wigman selbst, sondern auf vertraute Gesichter aus deren Umfeld, die alle ihren Vortrag „Der Tanz als künstlerische Sprache“ hören wollen. Außerdem ist man neugierig auf die Tanz-Beiträge von Gudrun Müller, Marianne Vogelsang und Georg Groke sowie auf den Auftritt der aktuellen Schüler des Mary Wigman Studios.

Einladung / Programmzettel vom 22. Juni 1950 mit Wigmans Vortrag „Der Tanz als künstlerische Sprache“ und Tänzen von Gudrun Müller, Marianne Vogelsang, Georg Groke sowie Schülerinnen und Schülern des Mary Wigman Studios, Berlin.
Abbildung © Deutsches Tanzarchiv Köln

Wie ein roter Faden zieht sich Gudrun Müllers Verbindung zu Mary Wigman durch ihr Leben. Angefangen von den ersten, aufgeregten Schritten in der Wigman-Schule, über die Zusammenarbeit für die Orpheus-Inszenierung bis hin zum Rahmenprogramm von Wigmans Vortrag.
Briefe, die Wigman zwischen 1945 und 1972 an Gudrun Müller geschrieben hat, spiegeln die dauerhafte, herzliche Verbindung bis weit hinein in eine Zeit, in der Gudrun Müller nicht mehr nur für die Bühne lebt und sich mehr Raum für Familie und Privatleben gestattet. Die Briefe von Wigman an Gudrun Müller geben kleine Einblicke ins Private, denn Wigman erkundigt sich auch nach Sohn und Ehemann.
Tanz bleibt dabei das zentral-verbindende Thema, egal ob Wigman über ihre Aktivitäten als Schulleiterin oder Referentin zu Tanz-Themen berichtet, ob sie Eintrittskarten für ihre Choreographie von Sacre du Printemps in Berlin schickt oder sich über Gudrun Müllers Erfolg als Tänzerin freut: „Es war richtig schön, Dich auf der Bühne zu sehen und besonders überrascht war ich, wie gut Dir das Zusammentanzen mit Groke gelungen ist. Ihr waret „prima“.[...] Ein schöner und sehr interessanter Abend.“
Gelegentlich gelingt den beiden sogar ein Treffen, das in der Korrespondenz sehr herzlich nachbereitet und gewertschätzt wird.

Auch andere Verbindungen zur Tanzszene pflegt Gudrun Müller über Jahre hinweg. Kollegen-Freunde aus der Leipziger Zeit wie Emmy Köhler-Richter und Johannes Richter stehen mit ihr in brieflichem Kontakt. Hanns (Johannes Richter), der seine Zeichen-Begabung ausgebaut hat, schickt aus Leipzig noch in den 1980er Jahren „mit den besten Wünschen ein paar Kostproben“ seiner Radierungen.
Es überrascht auch nicht, dass Gudrun Müller zu den ersten zählt, die sich anmelden, als am 13. November 1986 in Köln die Mary Wigman-Gesellschaft ins Leben gerufen wird mit dem Ziel, das Erbe Wigmans zu pflegen und den direkten Wigman-Schülerinnen und -Schülern eine Anlaufstelle zu bieten.

„Balance ist alles“, Radierung von Johannes Richter. 1981.
Grafik © Johannes Richter

In der Regel haben die Wigman-Absolventen Leben und Werk ihrer Lehrerin sehr genau verfolgt, und so findet sich auch im Nachlass von Gudrun Müller eine kleine Sammlung zu Mary Wigman mit Fotos, Programmzetteln und Rezensionen.

Dass Gudrun Müller auf ihrem Weg zur erfolgreichen und vielseitigen Tanzsolistin ihre Wigman-Grundlagen nie vergessen hat, dokumentiert eine Tanzkritik zur Vorstellung vom 20. April 1969. Bei „spectrum“ in Frankfurt – einem Forum für die Arbeiten junger Choreographen, „wo junge Tänzer frei von traditionsgebundenen Formen experimentieren können“, bescheinigt ihr dies Jutta W. Thomasius, denn unter den sieben auftretenden Tänzerinnen vertrat „Gudrun Müller-Kutschera als einzige die Relikte des Wigmanschen Stiles […] mit großem Kostüm, pathetischer Geste und grellem Expressionismus, aber auch mit beherrschter Technik….“.

In der Tradition Wigmans. Tanzaufnahme von Gudrun Müller.
Foto: Siegfried Enkelmann © VG BildKunst, Bonn

In der Neuen Zürcher Zeitung vom 5. Mai 1969 wird unter „Wiedergeburt des Ausdruckstanzes? Spectum 69 – ein Tanztreffen in Frankfurt a. M.“ gleich die Grundsatzfrage gestellt nach dem Freien Tanz und seiner Überlebtheit im Gegenspiel zum Ballett und seinem diagnostizierten Neuerblühen. Trotz des kritischen Untertons wird anerkennend festgestellt: „Gudrun Müller-Kutschera versuchte sich – als einzige – am Ausdrucktanz alter Schule, indem sie mit sinnfälligen Gewändern Tod und Habgier darstellte; die eiserne Konsequenz und Beherrschtheit, mit der sie das tat, waren beachtlich“.

Von der ersten Faszination angesichts einer Kinderballettaufführung über den schwierigen Weg in die Wigman-Schule, bis hin zu den Erfahrungen im Theateralltag Leipzigs und Berlins sowie in der freien Tanzszene in den 1960er Jahren in Frankfurt war Gudrun Müller-Kutschera mit Leib und Seele dem Tanz verschrieben. So vielfältig und bereichernd ihre unterschiedlichen Tanz- und Theatererfahrungen auch waren, am Ende setzt sie ein Statement im Geiste Wigmans. Gudrun Müller-Kutschera bleibt ihren Wurzeln treu: Ein Kreis schließt sich.

Privatfoto von Gudrun Müller und Mary Wigman bei einem der seltenen, aber sehr geschätzten Treffen. Ca. Ende der 1960er Jahre.
Foto N.N. © Deutsches Tanzarchiv Köln

Dankenswerter Weise hat Gudrun Müller-Kutscheras Sohn dem Deutschen Tanzarchiv Köln 2012 das Bestandsmaterial geschenkt.

Alle hier zitierten und angeführten Dokumente sind Teil des Bestandes 372, Gudrun Müller-Kutschera im Deutschen Tanzarchiv Köln (im Folgenden DTK abgekürzt), wenn nichts anders vermerkt ist.
Entsprechend der Dokumente, die ihre Arbeit als Tänzerin betreffen, wird im folgenden Text als Name zunächst Gudrun Müller benutzt; erst ab den 1960er wird der Doppelname Müller-Kutschera verwendet, so wie er dann auch in Programmen oder in Rezensionen erscheint.

[1] Der zugehörige Programmzettel befindet sich nicht im Bestand von Gudrun Müller-Kutschera sondern im Bestand 151 / Programmzettelslg im DTK. Wie so häufig bei Recherchen im Deutschen Tanzarchiv Köln gibt es unterschiedliche Fundorte, die das Bild einer Tänzerin/eines Tänzers vervollständigen: im Falle von Gudrun Müller kommen Ergänzungen zum Bestand vor allem durch das Familienarchiv Mary Wigman sowie durch den Nachlass von Herbert Freund.

[2] Nachweise für Engagements Gudrun Müllers finden sich z.B. im Bühnenjahrbuch von 1944 (Leipzig, Tanzmeisterin: Gsovsky) sowie im Bühnenjahrbuch von 1945/48 (Leipzig, Tanzmeister: Herbert Freund).

[3] Ohne Datum, ohne Quelle. Koff.: "Wiedergeburt des Opernballetts. Ballettabend: Mohaupt - Glazunow - Borodin"".

[4] Gudrun Müllers erster eigener Tanzabend - wie in der Rezension angegeben - war diese Vorstellung vom 24. September 1947 aber wohl nicht. Schon im Juli hat sie im Weißen Saal getanzt, zumindest findet sich in ihren Geschäftsunterlagen eine Abrechnung mit der Konzertdirektion Scholl für die Tanzvorstellung am 24. Juli 1947 in Leipzig, Weißer Saal, Zoo.

[5] DTK, Bestand 45, Herbert Freund. Programmzettel 1948. Obj. 47975.

[6] 28.04.1948, Absender: Gemeinderat Böhlen bei Leipzig: "Sehr geehrter Herr Freund! Wir erlauben uns, Ihnen und Ihren Solotänzerinnen Gyp Schlicht und Gudrun Müller auch auf diesem Wege noch einmal unseren herzlichsten Dank für die ganz ausgezeichnete Tanzveranstaltung, die Sie uns am Dienstag, den 27. April boten, auszusprechen. Der außergewöhnliche Beifall wird Ihnen gewiß gezeigt haben, wie die kunstinteressierte Bevölkerung unseres Ortes diese wohl in ihrer Art einmaligen Leistungen einzuschätzen weiß [...] Übermitteln Sie bitte auch den Damen Gyp Schlicht und Gudrun Müller, sowie dem Pianisten, Herrn Liebold, unseren ganz besonderen Dank.".

[7] Presse-Material, ca. 1950.
Ohne Quelle. Prof. Smigelski: „Eine wertvolle Bereicherung des Repertoires. Puccinis ‚Gianni Schicchi‘ und Coppelia-Ballett im Leipziger Opernhaus“.
Ohne Quelle. Br.: „Das Ballett ‚Coppelia‘“.