von Geertje Andresen
Dore Hoyer gilt als die mit Abstand wichtigste deutsche Solistin des modernen Tanzes von den 1930er bis zu den 1960er Jahren. Sie wurde am 12. Dezember 1911 in Dresden als viertes Kind des Maurers Gustav Hoyer und seiner Frau Amalia geboren. In der Schule begeisterte sie sich vor allem für den Gymnastikunterricht und erhielt daher auf Empfehlung ihrer Lehrerin ab ihrem 12. Lebensjahr kostenlosen Rhythmikunterricht.
Diese Ausbildung setzte sie ab 1928 an der neu eröffneten Gymnastikschule von Ilse Homilius, einer Absolventin von Hellerau-Laxenburg, fort. Sie trat bereits im gleichen Jahr mit ihrer Lehrerin öffentlich auf und bestand an dieser Schule 1930 die Prüfung zur Gymnastiklehrerin. Im Anschluss an dieses Examen besuchte Dore Hoyer ein weiteres Jahr die Palucca-Schule, um zusätzlich eine moderne Tanzausbildung zu absolvieren.
Direkt nach ihrem Tänzerinnenexamen erhielt Dore Hoyer für die Spielzeit 1931/1932 ihr erstes Engagement als Solotänzerin in Plauen.
1932 lernte sie den erst 18-jährigen Musiker Peter Cieslak kennen, mit dem sie eine tiefe Liebes-, Lebens- und Arbeitsbeziehung verband. Cieslak schrieb im Dezember 1932 für Dore Hoyer „Ernste Gesänge“, die die beiden gemeinsam an Dore Hoyers erstem Solotanzabend am 30. März 1933 im Künstlerhaus Dresden aufführten. Dieser Abend war ein großer Publikumserfolg und animierte die beiden Künstler, für das kommende Jahr den nächsten Solotanzabend mit Kompositionen von Cieslak und Choreographien von Hoyer ins Auge zu fassen.
Um genügend Geld zu verdienen, damit Peter Cieslak die Zeit zum Komponieren finden konnte, verdingte sich Dore Hoyer für die Spielzeit 1933/1934 als Ballettmeisterin in Oldenburg, wo sie ausschließlich Tanzeinlagen für Opern und vor allem Operetten zu choreographieren hatte. Ab Juni 1934 lebte sie wieder gemeinsam mit Peter Cieslak in Dresden. Sie konnte noch im selben Jahr ihren zweiten Solotanzabend in der Komödie Dresden geben. Im Februar 1935 zeigte Dore Hoyer dann im Hygienemuseum ihren dritten Solotanzabend, bei dem sie auch „Fünf namenlose Tänze“ präsentierte, die Peter Cieslak für sie komponiert hatte.
Cieslak beendete am 5. April 1935 sein Leben, woran sich Dore Hoyer die Mitschuld gab. Bis zu ihrem Lebensende litt sie unter dem großen Verlust ihres Geliebten und idealen künstlerischen Partners. Unmittelbar nach diesem tragischen Ereignis unternahm auch Dore Hoyer ihren ersten Suizidversuch. Nach ihrer Genesung und ihrer Wiederhinwendung zum Leben schwor sie sich, unermüdlich weiter an ihren Tänzen zu arbeiten, weil sie keinen anderen Sinn für sich selbst und den Tod ihres Geliebten finden konnte.
Zunächst einmal bat sie Mary Wigman, sie in ihre neue Gruppe aufzunehmen. Ab September 1935 durfte sie an den Proben für „Tanzgesänge“ teilnehmen, die im November 1935 während der „Tanzfestspiele“ Premiere hatten. Die Aufführung wurde ein sehr großer Erfolg und sorgte auch in der anschließenden mehrmonatigen Tournee für ausverkaufte Häuser.
Ab Mai 1936 nahm Dore Hoyer ihre solistische Arbeit wieder auf. Sie lernte den Pianisten und Komponisten Dimitri Wiatowitsch kennen, mit dem sie für den Rest ihres Lebens zusammen arbeitete. Dore Hoyer hatte nur selten Gelegenheit, mit eigenen Solotanzabenden in die Öffentlichkeit zu treten und etwas Geld zu verdienen. Die dramatischen Inhalte ihrer Choreographien stießen bei den nationalsozialistischen Konzertagenturen auf Ablehnung, so dass Dore Hoyers einzige Auftrittschance in privat organisierten Tanzabenden lag. Sie arbeitete unermüdlich an neuen Tanzideen und zeigte sie in verschiedenen Städten auf eigenes Risiko. Wirtschaftlich war Dore Hoyer zeit ihres Lebens auf die Unterstützung ihrer Freunde angewiesen, die sie oft kostenfrei bei sich wohnen ließen.
1940 wurde Dore Hoyer Mitglied in der Tanzkompanie „Deutsche Tanzbühne“, die Hanns Niedecken-Gebhardt für das Propagandaministerium gegründet hatte. Diese Kompanie wurde jedoch 1941 schon wieder aufgelöst und in ein Ballettensemble zur Wehrmachtsbetreuung umgewandelt. Dore Hoyer jedoch bekam in Dresden im Theater des Volkes für die kommenden beiden Spielzeiten ein Engagement als Solotänzerin. Gemäß der verordneten anspruchslosen Unterhaltung, die insbesondere seit Kriegsbeginn auf deutschen Bühnen gezeigt werden musste, hatte Dore Hoyer vor allem in Operetten kleine Ballettszenen mitzutanzen. Um ihre eigenen Vorstellungen von Tanz nicht vollkommen aufzugeben, organisierte sie 1943 noch eine kleine Solotournee für sich, die ihr angesichts der schwierigen Auftrittsmöglichkeiten den Lebensunterhalt wieder nicht sichern konnte. Im Anschluss an diese kleine Tournee kam Dore Hoyer für die letzte Kriegsspielzeit am Theater in Graz unter. Der dortige Ballettmeister Karl Bergeest hatte sie als Solotänzerin engagiert.
Im September 1944 wurden alle deutschen Bühnen geschlossen und sämtliche Künstlerinnen und Künstler zum Rüstungseinsatz zwangsverpflichtet. Dore Hoyer leistete ihren Zwangsdienst in einer Zweigstelle der Zeiss-Ikon-Werke ab und überlebte das Inferno über Dresden am 13./14. Februar 1945 in einem Keller von Bekannten in Dresden-Blasewitz.
Im Juni 1945 konnte Dore Hoyer in die ehemalige Wigman-Schule in Dresden einziehen und dort ein eigenes Tanzstudio einrichten, das sie gemeinsam mit Til Thiele, Nora Friedrich und dem Pianisten und Komponisten Ulrich Kessler zum Leben erweckte. Als erstes Werk entwickelte sie aus Improvisationen ihrer Schülerinnen nach Musik von Ulrich Kessler und eigenen choreographischen Vorgaben den Tanzzyklus „Tänze für Käthe Kollwitz“. Diesen Zyklus widmete sie der KP.
1947 entstand ihr zweiter Tanzzyklus „Der große Gesang“, der ihr den Vorwurf des „Formalismus“ von den Kulturpolitkern der SBZ einbrachte. Die subjektiven Inhalte des Ausdruckstanzes, das Allgemein-Menschliche und Abstrakte ihrer Choreographie entsprachen nicht den Vorstellungen eines sozialistischen Realismus’. Die Bemühungen der SED, Dore Hoyer dazu zu bewegen, ausschließlich nach ihren Vorstellungen für die Ziele der Partei zu choreographieren, vertrieben die Tänzerin 1948 aus der SBZ.
Zunächst gastierte die Tänzerin in Augsburg und ging 1949 als Ballettmeisterin nach Hamburg an die Staatsoper. Ihre Choreographien setzten dort neuartige Akzente im Spielplan. Neben eigenen Solotänzen entwarf sie auch drei Gruppenarbeiten für das Tanzensemble der Staatsoper, die im Februar 1950 uraufgeführt wurden. Dore Hoyer versuchte, aus der Hamburger Ballettkompanie ein modernes Tanzensemble zu formen. Dieses Projekt scheiterte allerdings an den Betriebsbedingungen der Institution Opernballett. Im Februar 1951 gab sie deswegen ihre Tätigkeit in Hamburg auf. Aber sie erhielt für ihre herausragende choreographische Arbeit 1951 auch den Deutschen Kritikerpreis.
Trotzdem konnte sie keine Intendanten anderer deutscher Theater für ihre Solotanzabende begeistern. Sie erhielt keine Engagements und musste wieder auf eigene Rechnung Theater mieten, um ihre Programme zu zeigen. Sie lebte nach wie vor unterhalb des Existenzminimums.
Ihre Regiearbeiten hingegen waren durchaus gefragt. Sie konnte in den 1950er und 1960er Jahren mehrfach an verschiedenen Theatern ihr Interesse an der Arbeit mit Schauspielern und der Verbindung von Wort und Tanz umsetzen und Erfolge als Regisseurin feiern.
Die Möglichkeit, 1952 gemeinsam mit ihrem Pianisten und Komponisten Dimitri Wiatowitsch in Argentinien und Brasilien vor einem großen und enthusiastischen Publikum aufzutreten, gab der Tänzerin Dore Hoyer großen Auftrieb. Sie war begeistert von Südamerika und organisierte für die kommenden Jahre regelmäßige Tourneen durch diesen Kontinent. Hier wurde ihre Tanzkunst gefeiert. In Deutschland traf sie mit ihren Choreographien indes kaum noch auf Interesse.
Dore Hoyers tänzerische Innovation des Modernen Tanzes lag in der Präzision der Körperbeherrschung, für die sie dem klassischen Balletttraining eine große Bedeutung beimaß. Für Dore Hoyer musste die Form und Formensprache des tanzenden Körpers in der Lage sein, gleichberechtigt den Inhalt ihrer Choreographien zu gestalten und zu erklären.
1957 erhielt Dore Hoyer auf Vermittlung Mary Wigmans eine Einladung zum zehnten American Dance Festival. In den sechs Wochen, die dieses Ereignis dauerte, arbeitete sie mit den damals wichtigsten amerikanischen Tänzern und lernte die Tanzmethoden u.a. von Martha Graham, Doris Humphrey und José Limón kennen, die ihr sehr zusagten, da sie ihrer eigenen Arbeit glichen.
Ihre positiven Erfahrungen in den USA und in Südamerika waren auf Deutschland nicht übertragbar. Hier war die Tanzästhetik erstarrt und auf eine virtuose Technikbeherrschung von Balletttänzern reduziert. Daher nahm Dore Hoyer gern das Angebot des argentinischen Erziehungsministeriums an, einen Bewegungschor und eine Kammertanzgruppe in der Nähe von Buenos Aires ins Leben zu rufen. Obwohl sie dieses Projekt beglückte und erfüllte, erwiesen sich ihre Sprachschwierigkeiten als so gravierend, dass sie Heimweh bekam und 1962 nach Deutschland zurückkehrte.
Hier entwickelte sie den Tanzzyklus „Affectos Humanos“ nach Texten von Spinoza und zu Musik von Dimitri Wiatowitsch. Dore Hoyer widmete sich in diesem Zyklus den Themen „Ehre / Eitelkeit“, „Begierde“, „Hass“, „Angst“ und „Liebe“ und beschrieb damit noch einmal die emotionalen Beweggründe ihres Tanzens. „Affectos Humanos“ ist quasi die einzige Filmaufzeichnung, die von einem Tanz Dore Hoyers heute noch existiert.
Nach ihrer sechsten und letzten erfolgreichen Tournee durch Süd- und Mittelamerika im Jahre 1963 konnte sie in Deutschland kaum noch als Tänzerin in Erscheinung treten. Sie war darauf angewiesen, immer wieder zu unterrichten oder an Theatern zu choreographieren.
Ab 1964 lebte sie vorwiegend in der West-Berliner Akademie der Künste und begann dort, Dostojewskis Erzählung „Die Sanfte“ für einen neuen Solotanz umzugestalten. Nach der erfolgreichen Aufführung dieses Solos begann sie, sich ihren Traum einer freien Tanzgruppe zu erfüllen. 1965 zeigte sie mit dieser Tanzgruppe und sich selbst als Solistin das Stück „Großstadt“, das aber nicht den ersehnten Erfolg zeitigte.
Auf Initiative des Goethe-Instituts unternahm Dore Hoyer im Herbst 1965 eine Tournee durch Südostasien, die sie ob der überall sichtbaren Armut schwer erschütterte. Ihre Eindrücke verarbeitete sie 1967 in ihrem letzten Tanzprogramm, das sie thematisch wieder konkret werden ließ, indem sie die Menschen in ihrer Liebe und in ihrer Not zeigte.
Für diesen letzten Auftritt mietete sie das Theater des Westens und trug sämtliche Kosten für den Abend. Als nur etwa einhundert Zuschauer in das Theater gekommen waren, musste Dore Hoyer erkennen, dass ihre künstlerisch sehr wertvolle Arbeit kaum noch vom Publikum angenommen und verstanden wurde. Zwar erhielt sie im Dezember 1967 sogar noch einmal den Deutschen Kritikerpreis, aber ihre Verzweiflung über das definitive Ende ihres tänzerischen Weges trieb sie in der Sylvesternacht 1967/1968 in den Selbstmord.
Die Urheberrechte an den Choreographien und Texten von Dore Hoyer liegen beim Deutschen Tanzarchiv Köln. Zum Bestandsverzeichnis
Hedwig Müller / Frank-Manuel Peter / Garnet Schuldt: Dore Hoyer. Tänzerin. Berlin 1992 238 S., 201 schw.-w. Abb. 19,90 Euro (nur noch im Buchhandel)
„Ein bewundernswertes Beispiel akribischer Recherche und wissenschaftlich-faktischer Genauigkeit, die die intelligente Photoauswahl abrundet.“ Eva-Elisabeth Fischer, Süddeutsche Zeitung.
„Dieses Buch ist ein Schatz“. Irene Sieben, tanzAKTUELL.