von Frank-Manuel Peter
Erstveröffentlicht (gering abweichend) in "Tanzdrama" Nr. 22/23, 1993, S. 56-58.

Begrifflichkeiten

Im Vorwort eines "Tanztheater in Deutschland" betitelten Buches vermutet der Autor, der Begriff "Tanztheater" sei zum ersten Mal durch Kurt Jooss verwendet worden, und zwar in einem 1935 im Exil geschriebenen Aufsatz. Er meint dazu: "ob diesen Text in Deutschland mehr als eine Handvoll Leute gekannt hat, bevor ihn der Kritiker Hartmut Regitz 1986 in dem von ihm herausgegebenen 'Ballettjahrbuch' veröffentlichte, ist mehr als zweifelhaft. Der Begriff 'Tanztheater' jedenfalls bleibt auf Jahrzehnte hinaus ungebräuchlich, und als er im Westen Deutschlands zum erstenmal benutzt wird, bezeichnet er keinen Stil und keine Ästhetik, sondern das Ensemble, das einer ganz bestimmten neuen Ästhetik verpflichtet ist. […] Als Gerhard Bohner 1972 Ballettdirektor in Darmstadt wurde, nannte er seine Gruppe das 'Tanztheater Darmstadt', möglicherweise in direkter Anlehnung an das Nederlands Dans Theater in Den Haag, das zu Beginn der siebziger Jahre allen progressiven Tanzkompanien Europas als Vorbild diente."

Leider irrt sich der Autor des Buches hier. Der Begriff "Tanztheater" ist spätestens seit 1923 verwendet worden, wie Rudolf von Labans in diesem Jahr veröffentlichter Aufsatz "Choreographie und Tanztheater" beweist. Und als der Begriff "im Westen Deutschlands zum erstenmal benutzt wird" und damit ein Ensemble bezeichnete, so war dies nicht 1972, sondern 1928! Nachprüfbar in Bühnenjahrbüchern, Kritiken, auf Programmzetteln und Briefpapier ist der Begriff schon spätestens ab 1928 auf ein Tanzensemble angewendet worden: auf das des Stadttheaters Hagen. In der Spielzeit 1928/29 hatte Inger von Tramp die Leitung des Kammertanztheaters Hagen inne. Ihr Erster Solist wurde der Leiter und Choreograph der folgenden Spielzeiten: Günter Hess.

Multitalent

Hess war ein Multitalent und ist vor allem aus den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung, in denen er ganze Schauspielergenerationen in Bewegungslehre und Regie unterrichtete: von 1951 bis 1968 an der Max Reinhardt Schule des Landes Berlin, an der Berliner Hochschule für Musik, an der Deutschen Oper Berlin und auf zahlreichen Gastkursen, z.B. in Oslo, Stockholm, Salzburg, Brüssel oder Essen-Werden. Und außer mit unzähligen Schulaufführungen ist Hess immer wieder auch auf namhaften Bühnen in einer Mischung von Regisseur und Choreograph in Erscheinung getreten, z.B. 1949 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit dem vielbeachteten Am-stram-gram, sowie bei Film und Fernsehen.

Günter Hess arbeitete vornehmlich 'grenzüberschreitend'. In einem nachgelassenen Manuskript "Gedanken zur Totalität des künstlerischen Menschen" von 1938 findet sich beispielsweise die Äußerung: "Der deutsche Ausdruckstänzer, der im Gegensatz zum klassischen Ballett jede Spezialisierung und jedes Virtuosentum ablehnt und nur künstlerische Form natürlicher Bewegungsphasen sein will, ist zutiefst mit seinem innersten Wesen dem Schauspiel verbunden." Selbst in englischer Kriegsgefangenschaft in Kiel gründete Hess 1944 ein "Marine-Tanz-Theater" und schrieb im August des Jahres: "Die letzte Vollendung in der Form, sowie im Ausdruckswillen, scheitert an der Unzulänglichkeit des Materials, da wir keine Sprecher und Sänger haben, denen gleichzeitig die Bewegung geläufig ist, und umgekehrt keine Tänzer, die Ton und Wort technisch beherrschen. Sollte dennoch eine elementare Wirkung erzielt werden, so zeugt dies nur für die ungeheueren Wirkungsmöglichkeiten, die bei technischer und ausdrucksmäßiger Durchdringung dieser Kunstform von einem Menschen in dieser Art einer neuen Kunstgattung liegen." Dieses Tanz-Theater führte Hess nach der Entlassung aus der Gefangenschaft noch bis 1947 unter dem Namen "Die Galgenvögel" fort und leitete im Sommer 1946 ein "Tanz-Theater-Studio" in Westerland auf Sylt. Der Lehrplan verpflichtete zu Klassischem Tanz, Ausdruckstanz, Bewegungslehre (Improvisation, Kombination, Gestaltung), Musik und Sprache.

1920/30er Jahre

Betrachtet man die zwanziger und dreißiger Jahre, findet man Günter Hess solistisch und in Duetten u.a. mit Lore Jentsch, mit seiner Schülerin Lisa Kretschmar sowie mit Ursula Deinert, ferner als Pädagogen, als Bewegungschorleiter u.a. bei der A.E.G., als Tanzleiter und Ballettmeister an den Bühnen in Osnabrück, Dessau, Hagen, Chemnitz und Wuppertal, als Gastchoreographen an der Duisburger Oper, Tanzleiter der Deutschen Tanzbühne in Berlin und bei diversen Festspielen, als Tänzer unter Lizzie Maudrik an der Berliner Staatsoper und gastweise an verschiedenen Theatern, als Autor einiger 'Tanzwerke' und in den dreißiger Jahren gelegentlich staatstreuer Artikel in der Zeitschrift "Der Tanz".

Am interessantesten sind aus heutiger Perspektive vielleicht die Spielzeit in Dessau 1927/28, wo er mit Kandinsky bei den Bildern einer Ausstellung zusammenarbeitete, und seine Zeit in Hagen. Hess tanzte hier u.a. den Ritter in den Vogelscheuchen in der Ausstattung von Oskar Schlemmer oder einen "Gast der Opiumhöhle, roter Traum" in der Bajadere mit der gelben Maske (Maske und Kostümentwurf der Bajadere: Sigurd Leeder, Folkwangschulen Essen). Zu den von ihm herausgebrachten Uraufführungen in Hagen gehörte Fassade mit Musik von William Walton und Kreislauf zur Musik von Arthur Honegger, beide mit Bühnenbildern von Hein Heckroth. Kreislauf, auch Kreislauf zur Ewigkeit, hat im Szenario den Untertitel "Sinfonische Tanz-Licht-Abstraktion von Karlheinz Gutheim und Günter Hess". Es treten folgende Gestalten auf: Mensch­Geist (Günter Hess), Mensch-Materie (Aurel von Milloss), Weib (Oda von Holten) und Masse (Bewegungschor). Ein Zitat aus der Handlungsbeschreibung: " ... aber in der Liebe glüht schon der Hass und in der Vereinigung die Zerstörung. Kaum vereint, streben sie voneinander fort, Mann und Weib" ­ Ähnlichkeiten zum 'Geschlechterkampf'-Grundthema im Tanztheater der 1980er Jahre sind rein zufälliger Natur.

Tanz-Theater

Hess wollte, wie der zwei Jahre ältere Jooss, den modernen Tanz im Betrieb der Theater etablieren. Ein grundsätzlicher Unterschied in beider Auffassung lässt sich jedoch darin sehen, dass Günter Hess in Hagen den Tanz nicht zugleich in den Opern- und Schauspielbetrieb eingebunden wissen wollte, sondern auf eine strikte Trennung bzw. Gleichberechtigung der drei Sparten achtete. Außerdem erweiterte er interessanterweise das Erscheinungsbild der Sparte Tanz wiederum erheblich durch Einbeziehung von Schauspiel- und Opernelementen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen Hess und das Kammertanztheater Hagen dem Wuppertaler Tanztheater verwandter als Jooss und seine modernen Tanzkompanien. Günter Hess unterscheidet sich damit auch deutlich von Vera Skoronel, die zwar zur gleichen Zeit, als Jooss in Münster war, die Tanzleitung am Oberhausener Theater innehatte ­ und dies wie bei Hess ohne Verpflichtungen zu Opern- und Schauspieleinlagen der Tänzer -, jedoch ausschließlich am puren Tanz interessiert war. Zu der Zeit, als Jooss in Essen und Hess in Hagen tätig wurden, hatte sie sich vom Theaterbetrieb bereits wieder zurückgezogen. (Nebenbei bemerkt: Hier haben vier Städte aus derselben Region Tanz-Theatergeschichte gemacht: dem heutigen Nordrhein­Westfalen).

An einem Briefwechsel mit der Organisationsleitung des Münchner Tänzerkongresses wird der Standpunkt von Günter Hess deutlich: "Unser Kammertanztheater", schreibt er am 25.3.1930, "ist das einzige in Deutschland, welches am Theater eine selbständige Funktion ausfüllt. Wir arbeiten genau wie die anderen Kunstgattungen Oper und Schauspiel vollständig selbständig und laufen unsere Vorstellungen durch alle Abonnements. Trotzdem wir bemüht sind, auch dem Theater geschäftlich eine Stütze zu sein, arbeiten wir nicht nach Publikumsgeschmack, sondern zielbewusst und erzieherisch." Man traut seinen Augen kaum, wenn man liest, was Martin Gleisner antwortet: "Wir würden Sie von uns aus lieber bitten, im Rahmen unseres Operntanzstudios einige Operneinlagen zu machen […] Sollten Sie sich dazu nicht entschließen können, so könnten wir Ihnen einen Platz im Gruppentanzstudio einräumen […]." Hess verteidigt natürlich sein Credo: "Ich habe in dem letzten Jahr als Leiter des Kammertanztheaters das Ziel verfolgt, dem Tanz im Theater einen Platz als selbständige Kunstform zu erobern. [ ... ]". Er bekommt jedoch in mehreren Briefen von Gleisner immer wieder den Operntanz aufgetischt: ,,[ ... ] verstehen wir nicht, warum Sie sich nicht lieber an dieser Veranstaltung beteiligen."(2.5.30), "Sie wollten ja keinen Operntanz bringen, wie ich es Ihnen angeboten habe und wie es die Hauptaufgabe des Theatertanzes ist." (30.5.30). Und selbst bei der Finanzierungsfrage hat das Hagener Ensemble darunter zu leiden, dass es Hess nicht um Tanz als Operneinlage geht. Hess schreibt: "Ich möchte noch bemerken, dass wir Tänzer des Kammertanztheaters die gesamten Kosten dieser Aufführung selbst tragen und hoffen wir, dass unser Idealismus von Ihnen unterstützt wird." Gleisner antwortet zum Thema: "Ich werde versuchen, für Sie das Fahrgeld durchzudrücken, kann es Ihnen aber noch nicht versprechen. Wenn Sie sich entschlossen hätten im Rahmen des Operntanzstudios aufzutreten, wäre das möglich gewesen." - Vielleicht war die Theaterzeit noch nicht reif für die Sprache des Tanztheaters?

Bewegungslehre

Günter Hess ließ sich nicht beirren und entwickelte seine Bewegungslehre weiter. In den Zeiten der Ballettrenaissance wechselte er die Fronten, noch bevor sie sich verhärteten und unterrichtete von nun an Schauspieler im Fach Bewegung. Dass die Bewegung heute einen so viel größeren Anteil im Schauspiel hat, ist nicht unwesentlich auch sein Verdienst. Horst Koegler schrieb 1973 zum 70. Geburtstag von Günter Hess in der Zeitschrift "Das Tanzarchiv": "Labans großes Beispiel dürfte es [ ... ] gewesen sein, das ihn veranlasst hat, von Anfang an seinen Wirkungskreis über die engen Kompetenzgrenzen des professionellen Tanztheaters hinaus auszudehnen. Und wenn heute überall gefordert wird, die Kunst aus ihrer elitären Isolation herauszuführen und die kreativen Initiativen des Publikums zu stimulieren, kann er sich die Hände reiben - denn das ist genau das, was er auf dem Gebiet der Bewegung seit über fünfzig Jahren getan hat."

Biographische Notiz

Günter Hess wurde am 11. Februar 1903 in Berlin geboren. Ab April 1920 erhielt er seine Tanzausbildung im Ballett-Studio von Hanns Storck, dem 1. Solisten vom Eric Charell-Ballett. Später bildete er sich bei Max Terpis in Berlin, an der Hamburger Labanschule und an der Novikoff-Schule in London weiter. Am 15. Januar 1921 hatte er den ersten Tanzabend. 1924 tanzte er den Joseph in der Josephslegende an der Leipziger Oper in der Choreographie von Heinrich Kröller. Ab 1925 ist er fest an Theatern engagiert. - Am 18. März 1979 starb Günter Hess in Berlin.