Mit Mary Wigman 'eins im Geiste' ...
von Frank-Manuel Peter
„Ulrich Keßler hatte die Gabe, den geistigen Gehalt und Aufbau (...) eines Solotanzes oder Gruppenwerkes, musikalisch umgesetzt, entscheidend mitzuleiten und mitzugestalten, ihm den richtigen Aufbau zu geben. Ja, er griff oft wie ein Tanzregisseur ein, denn er empfand und begriff alles, wie wenn er selbst ein Tänzer wäre. So wurden Tänze und Werke enorm durch seine Musik unterstützt und aufgewertet, ohne daß ein einfacher Zuschauer und Zuhörer sich dessen bewußt wurde“, schrieb seine Witwe, die Tänzerin Maria Kindscher, rückblickend 1990.
Mit drei eng miteinander verknüpften Berufen ist Ulrich Keßler in die Tanzgeschichte eingegangen: Als Komponist insbesondere von Tanzwerken, als musikalischer Konzertbegleiter namentlich des modernen deutschen Tanzes und als improvisationsbegabter Korrepetitor für Tanz an etlichen Schulen, vor allem bei Mary Wigman und an der Folkwangschule in Essen. Dabei hatte der in Dessau geborene Keßler, nachdem er vom Gymnasium in ein Volontariat bei einem Malergeschäft gewechselt und anschließend ein kaufmännisches Lehrjahr in einer Versicherungsgesellschaft durchlaufen hatte, zunächst von 1925-1928 eine Ausbildung zum Gebrauchsgraphiker und Illustrator absolviert. Einige wenige Zeichnungen, die den Krieg überlebt haben (und z.T. mit dem Pseudonym Ulrich van der Lieves signiert sind), und eine an ihn adressierte Einladung zum Reimann-Ball 1928 erinnern an diese Zeit und belegen Begabung und damalige Interessen. Doch das Studium finanzierte er sich als Pianist, und Anfang 1929 kam er in der von Margarete Wallmann geleiteten Berliner Wigman-Schule erstmals als musikalischer Mitarbeiter mit dem Tanz in Verbindung.
Fortan war Keßler als Tanzkomponist tätig und begleitete viele Tänzerinnen und Tänzer mit eigenen und fremden Werken bei ihren Tanzabenden am Flügel oder spielte zum Unterricht im Ballettsaal: Hans (Jean) Weidt und seine Gruppe („Morgens, mittags, abends“, 1930), Maria Kindscher aus der Weidt-Gruppe (Künstlername zeitweilig: Maria Altdorfer; er heiratete sie 1943 in zweiter Ehe), Georg Groke und Ruth Abramowitsch, Gertrud Wienecke („Nebel und Sonne“, 1934), Lotte Wernicke (ab 1933; „Geburt der Arbeit“ 1935), Marianne Vogelsang (ab 1937; er heiratete sie 1939 in erster Ehe), Hanna Berger (1937), Ilse Laredo, Alexander Kamaroff (Camaro) und Liselore Bergmann, Erika Lindner, Erika Klütz, Tamara Rauser, Margo Ufer, Maria Litto (1945), Lore Jentsch oder in der Nachkriegszeit die Wigman-Schülerinnen Manja Chmièl, Karin Waehner, Jacqueline Robinson, Gisela Herold, Nahami Abbell, Emma Lewis Thomas oder Joan Woodbury bei ihren ersten Solowerken.
Seit September 1934 war Ulrich Keßler für die Deutsche Tanzbühne und von Mai 1936 bis August 1938 für die Meister-Stätten in Berlin tätig, wo er auch Musik- und Formlehre für Tänzer unterrichtete. „Ich möchte Ihnen gern noch einmal schriftlich sagen, dass Ihre musikalische Begleitung meiner Unterrichtsstunden in den Deutschen Meister Stätten für Tanz für mich nicht nur eine Freude, sondern auch eine wesentliche Hilfe war“, formulierte es Mary Wigman 1938 bei seinem Fortgang; „Ihre stete Bereitschaft und Ihr volles Sich Einsetzen, ob es sich um ein rein Übungsmässiges Begleiten oder um ein künstlerisches Sich Einfühlen handelte, hat sehr zur lebendigen Vermittlung des Lehrstoffes beigetragen. Dafür danke ich Ihnen herzlich.“
Von 1938-1942 war Ulrich Keßler als musikalischer Leiter an der Tanzabteilung der Folkwangschulen der Stadt Essen beschäftigt, von 1943-1945 in gleicher Funktion wieder an der Deutschen Tanzbühne Berlin. In diesen Jahren nahm Keßler selbst ergänzenden Unterricht bei Dr. Heinrich Eckert in Essen, bei Ernst Keller, dem Leiter der Abteilung für katholische Kirchenmusik an den Folkwangschulen, und bei Prof. Raoul von Koczalski in Berlin. 1945 folgte ein Engagement als Korrepetitor und Ballettkapellmeister an der Städtischen Oper Berlin und vom September 1945 bis zum März 1947 die Zusammenarbeit mit Dore Hoyer als Komponist und musikalischer Leiter ihres Dresdener Tanzstudios. Für Dore Hoyers Tanzgruppe komponierte er die „Tänze für Käthe Kollwitz“ und „Die Schiessbude“. Nach der Auflösung der Gruppe war Keßler von 1947-1948 an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Rostock als Dozent und musikalischer Leiter tätig. Eine weitere langjährige Zusammenarbeit mit Mary Wigman und ihrer Schule folgte, der er trotz eines guten Angebots von Kurt Jooss für die Folkwangschule Essen (1950) die Treue hielt.
„Mary Wigman hat das Glück, in Ulrich Keßler einen Helfer zu besitzen, der nicht nur ein Komponist von Rang, sondern mit ihr auch ‚eins im Geiste’ ist. Seine Musik zu den chorischen Studien und zu einigen der Solotänze erfüllt beispielhaft, was von einer spezifisch tänzerischen Musik zu verlangen ist.“ (Fritz Heerwagen). Ein anderer Kritiker sieht bei einem Tanzabend von Gisela Herold die „attraktiven Kompositionseffekte des Schlagzeugers und Pianisten Ulrich Keßler“ als bestimmend an und beschreibt zu ihrem „großartig getanzten ‚Gerücht’“ Keßlers Musik als „lauernd herbeischleichende und wispernde, dann frech losschießende und anspringende Rhythmen“.
Obwohl einige Werke wie die „Schiessbude“ nachweislich auch im Rundfunk gesendet wurden, war Ulrich Keßler zu sehr in die sich ständig fortsetzende tägliche Arbeit des Unterrichts mit den Schülern und der Proben und Aufführungen mit den Tänzern eingespannt, um seine zahlreichen Kompositionen in Kammerkonzerten selbst aufzuführen, sie drucken und verlegen zu lassen oder auf Schallplatte einzuspielen. Trotz Kriegsverlusten, etlichen Umzügen etc. haben etwa 400 Notenautographen in seinem Nachlass überlebt und laden zu ihrer musikalischen Wiederentdeckung ein.
Ulrich Kesslers Witwe und Tochter übergaben 1990/1991 den Hauptnachlass der Schriften, Briefwechsel und Fotos und eine erste Auswahl tanzbezüglicher Noten zur Einrichtung eines Ulrich-Kessler-Archivs dem Deutschen Tanzarchiv Köln. Vereinbart war, dass weitere Schriftstücke und Briefwechsel, die noch herausgesucht werden sollten, ebenfalls zum Nachlassbestand kommen sollen. Für die Fülle der Noten wurde jedoch auf besonderen Wunsch der Familie eine Teilung vereinbart: Die weiteren handschriftlichen Noten mit Bezug zum Tanz und Tanzunterricht sollten aussortiert und dem Tanzarchiv übergeben werden, zum Beispiel die für Gisela Herold komponierten Werke, deren Nachlass sich im Tanzarchiv befindet; die freien, nicht für den Tanz entstandenen Kompositionen jedoch, die den überwiegenden Teil ausmachten, einem musikwissenschaftlichen Archiv – in der Annahme, dass sie dort eher erforscht und bekannt gemacht würden als im Tanzarchiv.
Die Familie wandte sich deshalb in der Folge u.a. an das Archiv der Akademie der Künste und wurde hier wegen der bisherigen Unbekanntheit Kesslers als Komponist und seiner ansonsten engen beruflichen Zusammenarbeit mit dem Bereich des Tanzes und der Berliner Wigman-Schule von der Abteilung Musik an die Abteilung Darstellende Kunst verwiesen. Diese konnte den Notenbestand aber nur aufnehmen, wenn er auch noch deutliche Bezüge zur darstellenden Kunst, also zum Tanz enthielt. Deswegen übergab die Familie den restlichen Notenbestand incl. der ursprünglich noch für das Tanzarchiv vorgesehen Tanznoten sowie weitere aufgefundene Briefwechsel mit Tänzerinnen und Tänzern und andere Archivalien an das Archiv der Akademie. Dadurch entstand ein "unsauber", d. h. mit deutlichen Überschneidungen zwischen den beiden Archiven geteilter Nachlass.
Beide Archive haben inzwischen in einem gemeinsamen Projekt knapp 150 Werke Ulrich Kesslers für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hierzu hat das Deutsche Tanzarchiv Köln / SK Stiftung Kultur durch Unterstützung der Familie die Finanzierung der Pianistin Corinna Fuhrmann beigesteuert, die Akademie das Tonstudio und den Tontechniker zur Verfügung gestellt und die Online-Stellung der Aufnahmen übernommen.
Teilnachlass im Deutschen Tanzarchiv Köln: Bestandsverzeichnis Teilnachlass in der Akademie der Künste Berlin: Bestandsverzeichnis
Alexis Pope hat 2008 zehn Klavierstücke eingespielt, von denen hier Beispiele angehört werden können.
Die CD ist über Franziska Sargon, die Tochter von Ulrich und Maria Keßler, die auch seine Urheber- und Aufführungsrechte verwaltet, käuflich zu erwerben: franziskasargon (googlemail.com).
Foto © Eckelt / Deutsches Tanzarchiv Köln
Die Musik zu den Tänzen 4, 5 und 6 sind eigene Kompositionen. Zum „chorischen Fragment in 3 Scenen“ heißt es im Programmzettel: „Morgens, mittags, abends, sind drei Stationen eines Werktags mit Menschen, die in den stets wiederkehrenden Gleichklang der Arbeit eingespannt sind. An jedem Tag geht es an die Arbeit, morgens mit Wünschen und Hoffnungen, das Aufbäumen gegen den Maschinenrhythmus wird herabgedrückt zur mechanischen Arbeit; Wünsche und Hoffnungen zerschlagen; es bleibt ein stiller verbissener Kampf, der mittags, wo sich alle in der Freizeit finden, zum Kampfruf wird […].“
in der Lotte Wernicke-Ausbildungsstätte für Tanz, Berlin (ca. 1935-1938).
Foto © Siegfried Enkelmann / VG BildKunst, Bonn
(c) DeutschesTanzarchiv Köln
Uraufführung 1947. Dore Hoyer als „Frau Überall“, Marianne Vogelsang als Gast („Die Rivalin“) und Gruppenmitglieder wie Ellen von Frankenberg oder Wiga Schade.
Foto © Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto: Ulrich van der Lieves (d.i.: Ulrich Kessler) © Deutsches Tanzarchiv Köln