Ellen Meissner wurde am 1. September 1932 in Lübeck geboren. Sie erhielt ihre Tanzausbildung nach anfänglichem Kinderballettunterricht in der Tanz- und Elevinnenklasse am Stadttheater Lübeck durch Jo Mensebach und danach durch Wilmo Kamrath. Am 13. Mai 1949 bestand sie in der Hamburger Lola-Rogge-Schule mit Erfolg die Abschlussprüfung für Theatertanz vor dem paritätischen Prüfungsausschuss unter dem Vorsitz von Olga Brandt-Knack.

Für die Spielzeiten 1949/50 und 1950/51 wurde Ellen Meissner als Gruppentänzerin am Stadttheater Bremerhaven unter der Ballettmeisterin Isabella Vernici verpflichtet.

Ab der Spielzeit 1952/53 war sie am Landestheater Dessau als Solotänzerin engagiert und bald darauf zur Ersten Solotänzerin ernannt.

Prämiert wurde sie in dieser Zeit mit der Medaille für „Ausgezeichnete Leistungen“ am 1. Mai 1954, am 13. Oktober 1956 und am l. Mai 1957. Sie errang ferner beim Tanzwettbewerb am 7. Mai 1956 in Halle den 1. Preis und beim „Tanzwettbewerb junger Künstler“ am 29. Juli 1956 in Karl-Marx- Stadt den einzigen Preis, der vergeben wurde.

Das Wirken mit ihrem Partner Rolf Händel 1956/57 bei Theateraufführungen sowie in dem Ballett Hamlet und in einen gemeinsamen Kammertanzabend brachte große Aufmerksamkeit. Das erstaunliche Abschneiden beider bei der Endauswahl junger Tanzsolisten für die 6. Weltfestspiele am 3. März 1957 in der Volksbühne Berlin sicherte ihnen einen Platz in der deutschen Delegation. Ellen Meissner wurde dort beim internationalen Tanzwettbewerb der Jugend und Studenten 1957 in Moskau mit einer Silbermedaille ausgezeichnet.

Mit der Gestaltung der Titelrolle in der Oper Die Stumme von Portici 1958 verabschiedete sie sich als gefeierter Publikumsliebling vom Landestheater Dessau.

Es folgten abendfüllende Gastspiele durch die gesamte DDR, Rumänien, die UdSSR und Polen. Mit ihren Kammertanzprogramm wurde sie zur anerkannten Initiatorin der Stunde des Tanzes.

Etliche Mitwirkungen bei Film und Fernsehen.

1961 entstand in der Regie von Wolf Dietrich Gerhard der Kurzfilm ...nicht nur in memoriam.

Und am 20.2.1965 erfolgte die Uraufführung der dramatischen Tanzdichtung " ... und heller wurde jeder Tag." in der Choreographie und Idee von Wilmo Kamrath. Musik: Heinz Röttger (Dessau), Text: Albrecht Kortüm (Halle), Sprecher: Gert Gütschow ( Leipzig).

1974 im Dessauer Theater in der Rolle der "Chica" in der Operette In Frisco ist der Teufel los.

Seit 1980 beschäftigte sich Ellen Meissner mit der Malerei und zeigte ein umfangreiches Œuvre bei mehreren Ausstellungen.

1989 starb ihr Ehemann und Choreograph ihrer Soloarbeiten, Wilmo Kamrath.

1990 begann Ellen Meissner-Kamrath mit der Aufzeichnung ihrer Autobiografie Mein Leben war Tanz, endgültiger Titel Meine Erinnerungen.

7.12.2010 Ehrung Ellen Meissner-Kamrath mit Bilderausstellung im Johannbau Dessau.

8.12.2010 Öffentliche Lesung Stadtbücherei Dessau aus der Autobiografie.

 

Vorbemerkung

Es folgen hier kapitelweise Auszüge aus den Memoiren von Ellen Kamrath-Meissner.

Ankunft in Dessau

Willi Bodenstein, damals Intendant in Görlitz, hatte immer wieder versucht, Kamrath als Tänzer und Ballettchef zu gewinnen, was dieser wegen anderweitiger Verpflichtungen aber nie ernst genommen hatte. Nun jedoch, da Bodenstein in höchster Funktion nach Dessau an das dortige, damals hochmoderne Landestheater berufen wurde, bekamen dessen erneute Angebote für den Umworbenen immer mehr Gewicht. Er folgte der Einladung und fuhr, trotz aller Vorbehalte, zu Vorgesprächen nach Dessau in die Ostzone.

Tief beeindruckt kehrte er zurück und schrieb mir von bombastischen Aufführungen, die er dort auf der riesigen Bühne in großer Ausstattung gesehen und erlebt hatte. Doch maßgeblich für seine spätere Entscheidung waren großzügige Zusagen des Intendanten, die nicht nur seine Gage, sondern auch seine Kompetenz als Ballettchef betrafen, mit der er ohne weiteres das vorhandene Tanzensemble erneuern und ergänzen konnte. Als ich die von mir sehnlichst erwartete Frage, ob ich gegebenenfalls mitgehen würde, schwarz auf weiß vor mir sah, stand es fest, dass sein Weg auch mein Weg war, egal wohin er führen würde, ob in die Hölle oder ins Paradies. [ ... ]

Dessau [ ... ] war nun erreicht und sollte, was wir damals noch nicht ahnten, für mehrere Jahrzehnte zu unserer Heimat werden. Eine ziemlich hässliche Bahnhofshalle hatte uns empfangen, die wir aber ohne Beachtung rasch durchquerten. Auch erste Blicke auf weite, aber trostlose Straßen versuchten wir zu ignorieren. Besonders wegen der Junkers Flugzeug- und Motorenwerke, so wusste K. mir zu erklären, habe es hier immer wieder schwere Luftangriffe gegeben. Bomben haben alles, was einst den Reiz dieser ehemals fürstlichen Residenzstadt ausgemacht habe, in Schutt und Asche gelegt. Nur noch Reste und der weite Blick in die begrünte Umgebung ließen erahnen, in welch harmonischer Schönheit sich dieser Ort einmal befunden hatte.

Auch vom bekannten Bauhaus, das nun öde und verwaist mit zugenagelter Fensterfront dastand, war jeder legendäre Glanz gewichen, und es fristete ohne erkennbare Bestimmung ein trauriges Dasein. Doch, um ehrlich zu sein, interessierte mich das alles nur am Rande. Es war einzig das Theater, worauf ich gespannt war und das sich nach ersten Schritten auf dem sogenannten Friedensplatz in stolzer Größe vor uns erhob. Ein heller Bau, ohne Schnörkel, sehr formschön, wie ich fand, und sehr beeindruckend. Bisher hatte ich ja erst wenige Theater kennen gelernt, wovon dieses zweifellos das Schönste und Größte war. [ ... ] Wir zählten [ ... ] 1952 fast noch zu der Neubesetzung, die sich, wie es später immer wieder hieß, leidenschaftlich für das Gelingen eines erfolgreichen Neubeginns eingesetzt hatte. Schnell war hier ein enormer Publikumszulauf zu verzeichnen und scharenweise kamen kunsthungrige Menschen aus allen Schichten herbeigeströmt, um bei Spiel und Gesang Nachkriegssorgen zu vergessen. Sie wurden mit Bussen aus Dörfern und Städten herangekarrt, um Abend für Abend die Reihen des Parketts bis auf den letzten Platz zu füllen.

Doch noch standen wir ziemlich unwissend vor dem imposanten Musentempel, um nun aber rasch und zielsicher den Bühneneingang anzustreben, der sich nicht, wie sonst üblich, an einer unscheinbaren Stelle befand, sondern in voller Breite die gesamte Rückseite des Gebäudes einnahm.

Hier war Leben, hier pulsierte das Kommen und Gehen aller Mitarbeiter, und ich betrat neben K. zum ersten Mal die Stufen, die hinaufführten zur glasverschanzten Pförtnerloge, die gleichzeitig als Zentrale und Sperre diente. Wir passierten diese Schleuse und standen nun im Vestibül, das zugleich Durchgang und Treffpunkt für alle war, die mit dem Theaterbetrieb etwas zu tun hatten. Ich stand also und schaute, angetan von der Geräumigkeit, den Sesseln und Bänken, sah Plakate und Anschläge, sah Türen und Aufgänge, die nach oben führten und sog den unverkennbaren Duft von Mastix und Schminke ein, den ich kannte und der mir wohl immer vertraut bleiben wird. Doch noch waren wir verspätete Neuankömmlinge, die eine lange Reise hinter sich hatten und nun vom Intendanten wärmstens in Empfang genommen wurden. Er wandte sich nach kurzer Begrüßung umgehend an Kamrath, seinen endlich gewonnenen Choreographen, der lachend das lange Händeschütteln erwiderte, und beide Männer verschwanden für die nächste halbe Stunde zu ersten Gesprächen hinter irgendeiner Tür. [ ... ] Schließlich kam K. mit Bodenstein zurück, und wir stiegen gemeinsam die vielen Treppen zum Ballettsaal hinauf, in dem schon das gesamte Ballett mit Spannung zu warten schien.

Als wir eintraten, verstummten augenblicklich alle Gespräche, Köpfe flogen herum und Blicke, so scharf wie Rasiermesser, trafen mich bis ins Mark, und mir zitterten die Knie. Doch schon ergriff Kamrath locker das Wort, um mit Witz und Humor das Eis zu brechen. Ich stand immer noch angestarrt daneben, weshalb ich mich nun mit vorgetäuschter Bescheidenheit nach einem Platz auf der voll besetzten Bank umsah, der mir auch sogleich bereitwillig eingeräumt wurde.

Eindrücke

Als Neue, das war klar, stand man erst einmal vor einer feindlichen Mauer und bekam den Argwohn derer zu spüren, die sofort Konkurrenz befürchteten, insbesondere wenn man, wie ich, auffallend angezogen war und obendrein mit dem neuen Ballettmeister aus der Westzone angereist kam. Dennoch hatten sie mir Platz gemacht, und ich konnte einen Blick auf die Runde ihrer bis dahin zugeknöpften Gesichter werfen, von denen einige immerhin schon nicht mehr ganz jung erschienen. "Sie sind gewiss eine der neuverpflichteten Solotänzerinnen?", fragte mich schließlich eine kesse Blondine, was ich erschrocken, aber geschmeichelt verneinte, obwohl mir nichts lieber als das gewesen wäre.

Doch diese Klarstellung sollte das Klima auf der Stelle verbessern und schon rückten alle näher, duzten mich und zeigten mir den freigewordenen Platz in der Garderobe, den ich zufrieden in Besitz nahm. [ ... ] Schwatzend huschten wir dann wieder hinauf und nahmen Aufstellung zum ersten, gemeinsamen Training, während K. sich an den erhöhten Stuhl gewöhnte, von wo aus das tanzende Heer seiner neuen Truppe besser zu übersehen war.

Später sollte ich endlich auch die riesige Bühne zu sehen bekommen, deren Ausmaße jeden Neuling überraschen mussten. Sie war nicht nur drehbar, sondern auch verschieb- und versenkbar, hatte gewaltige Seitenbühnen und ein beeindruckendes Ausmaß an Stellwerken und Beleuchterbrücken. Umgeben war diese Zauberwelt von hauseigenen Werkstätten, die für imponierende Ausstattungen sorgten. Es waren Tischlerei, Schlosser und Stuckateurbetrieb, und unterm Dach fand man den Malersaal, in dem gigantische Kulissen lagen und mit meterlangen Pinseln eimerweise Farben verbraucht wurden.

Doch sprachlos staunend stand ich erstmalig im überdimensionalen Kostümfundus dieses Theaters und konnte mich nicht satt sehen an der Fülle aufgereihter Kostbarkeiten, die hier eingemottet auf den nächsten Einsatz warteten.

Natürlich gab es auch eine Requisitenkammer, die aber, allein wegen ihrer Größe, nicht mit dem gemütlichen Stübchen meines lieben Coppelius in Bremerhaven verglichen werden konnte, weshalb ich sie unbeachtet ließ. So wäre nur noch das Konversationszimmer zu erwähnen, das gleich neben der Bühne lag und den Darstellern einen ruhigen Raum für letzte Konzentration vor dem Auftritt bot.

Nur ein Ziel

Im Fischereiweg war mein Zimmer, und K. bezog in der Nähe zwei komfortable Räume in der Ziebigker Straße. Er war mit hohen Vorsätzen voll in seine künstlerischen Aufgaben eingestiegen, so dass für Privates kaum noch Zeit blieb.

Ich hatte mich also selber zurechtzufinden, was auch ganz gut gelang, denn irgendwie fühlte ich mich doch von ihm beschützt. Mein ganzes Trachten gehörte nun dem Vorwärtskommen. Im Ballettsaal und auf der Bühne hatte ich mich ja leider noch im Gruppengefüge einzuordnen, was mir verdammt schwer fiel, aber auch Ansporn dafür war, dass mir ständig mein Ziel vor Augen blieb, nämlich eines Tages dort zu stehen, wo jetzt, an vorderster Stelle, die Solisten trainierten, die ich sehr beneidete. [ ... ]

Kamrath hatte, nachdem die Paul-Lincke-Operette Frau Luna mit größeren Tanzbildern erfolgreich über die Bretter gegangen war, sofort mit den Vorproben zu de Fallas Ballett "Der Dreispitz" begonnen, das als seine erste Premiere in Dessau geplant war. Um das Ensemble nun auf spanische Rhythmen einzustimmen, ließ er den stets mitdenkenden Korrepetitor Behrend-Emden, dem später auch die Stabführung der Vorstellung anvertraut wurde, schon während der morgendlichen Trainingsbegleitung Passagen aus der Partitur dieses Werkes spielen, damit sie den Tänzern in Fleisch und Blut übergingen.

Eine erste kleine Rolle als Müllerbursche stand in Aussicht, auf die ich mich sehr freute. – Doch fast mehr noch über die Tatsache, dass mir Kamrath erlaubte, gelegentlich Zuschauer bei Soloproben zu sein, wenn mit der kleinen, aber zähen Lore Teichmann der "Tanz der Müllerin" einstudiert wurde. Da konnte ich miterleben, wenn der Saal von unermüdlichen Hackenschlägen dampfte, wenn komplizierte Schrittfolgen ausprobiert, wieder verworfen und neu erfunden wurden, wenn Zurufe durch den Raum gellten und das straffe Taktzählen der Tänzerin ihr mehr und mehr Sicherheit verlieh. Und wenn schließlich alle Bewegungsabläufe geschmeidig miteinander verbunden waren, Synkopen geatmet und Ausdruck gegeben wurde, erst dann war der Tanz fertig und konnte später als ein wichtiger Baustein im Stück seinen festen Platz einnehmen.

Die Arbeit an Kamraths eigenen Tänzen erstreckte sich oft bis tief in die Nacht, wenn er im Saal stand, um an seinen kraftvoll männlichen Bewegungen zu feilen, die ihn in der Rolle des "Müllers" zeigen sollten. Sein Erfindungsreichtum war schier unerschöpflich und mit Bravour gelangen ihm auf einem erhöhten Podest waghalsige Sprünge, die er mit eigenwilliger Zügellosigkeit versah und die zu wahren Kabinettstücken reiften. Auch musikalische Feinheiten wurden von ihm stets beachtet, denn sie waren, wie er mir zu erklären versuchte, fast immer der Schlüssel zur tänzerischen Aussage. Auch wenn Inhalt und Ablauf eines vorliegenden Tanzwerkes fest lagen, nahm er sich stets die Freiheit, darin Platz für eigene Ideen zu schaffen, weil es ihm auf logisches Denken ankam, das gepaart mit Fantasie seiner Choreographie fast immer die unverwechselbare Färbung verlieh. [ ... ]

[Es wurde] für mich zu einer lehrreichen Erfahrung, als plötzlich eine unerwartete Bewährungsprobe gefordert wurde, der sich allerdings niemand von den drei Gruppentänzerinnen mit Soloverpflichtung zu stellen wagte. Ohne Probe für die am Knöchel verletzte Solistin im "Lunawalzer" einzuspringen, schien ihnen unmöglich. Ich aber war dreist genug und bot sofort meinen Einsatz an! [ ... ] Doch mir schienen meine Bewegungen verkrampft und wenig überzeugend. Auch wenn kein Wackler die große Unsicherheit verraten hatte, fühlte ich mich ihr dennoch erlegen, um spätestens nun zu erkennen, dass es eben doch nicht so einfach war, mit abgeguckten Bewegungen das Ausmaß einer so großen Bühne zu füllen. Trotzdem brachte mir das mühsame Gestümpere ein gnädiges Schulterklopfen des Meisters ein und später sogar weitere Übernahmen, die allerdings gründlich geprobt wurden. [ ... ]

Die Einhaltung vorgeschriebener Ruhepausen fiel Kamrath schwer, denn wenn er mit Volldampf in Arbeit steckte und sich gerade guter Einfälle erfreute, schien es ihm unmöglich, auf die Minute nach Zeitplan aufzuhören, was ihm oft genug unnötigen Ärger einbrachte. Nur notgedrungen duldete er es, dass zu gegebener Zeit die Gruppensprecherin mit beamtischer Genauigkeit auf den Zeiger ihrer Uhr wies, um damit das endgültige Achtungszeichen für den Schlussakkord zu setzen. Dem war zu danken, dass wir es meistens noch rechtzeitig zum Mittagessen schafften, das für alle in der Kantine preisgünstig zu haben war. In großen Kübeln wurden die Portionen aus irgendeinem Werk angeliefert, das im Gegenzug mit verbilligten Eintrittskarten für Belegschaftsmitglieder entschädigt wurde.

Ich wusste bis dahin kaum, dass es in Dessau noch so viele funktionierende Betriebe gab, wozu Waggonbau, Junkalor und natürlich die stinkende Zuckerfabrik gehörten, deren gelbliche Luftschwaden zeitweilig das Klima über der Stadt gehörig verpesteten. Und natürlich hatte ich auch keinen blassen Schimmer, was dort im Einzelnen produziert wurde, da es in den Geschäften ohnehin nichts Besonderes zu kaufen gab. Notwendige Lebensmittel bekam man ohne Marken, wenn auch verteuert, in sogenannten HO-Läden und anderes fand man, wenn überhaupt, in den zwei größeren Konfektionsläden, was aber rundweg als Einheitsware zu bezeichnen war, weshalb ich meine Kleider selber zu nähen begann, wofür später sogar eine Nähmaschine angeschafft wurde, die immerhin schon mit der Güteklasse "S" ausgezeichnet war. [ ... ]

Nicht nur im Theater tanzten wir, sondern bei allen möglichen Anlässen war das Ballett gefragt und unsere Auftritte in Fabrikhallen, vor Kinowänden oder auf improvisierten Bühnen wurden immer beliebter. Kamrath als Initiator und selber noch tanzend, konnte davon nie genug bekommen und ließ sich stets Neues einfallen, um sein Publikum, das gerne kam, zu überraschen. Es wurde in Parks vor Schlössern in Wörlitz und Mosigkau mit Serenaden, Konzerten und Tanzspielen verwöhnt, wofür es sich mit bleibender Anhänglichkeit bedankte. [ ... ] Es war durchaus keine Seltenheit, dass sein choreographischer Einsatz auch im Schauspiel gefordert wurde, bei dem dann steifbeinigen Darstellern federndes Schreiten oder souveräne Fecht-Technik beigebracht werden musste.

Für jeden Hopser war damals der Ballettmeister zuständig, was heutzutage völlig undenkbar wäre, denn welcher Ballettchef, zumindest an größeren Bühnen, verfügt gegenwärtig nicht über ein Heer tüchtiger Assistenten, die solchen Kleinkram mit links erledigen. Geradezu lästig erschienen dem Geplagten die unvermeidlichen Einstudierungen für das Buffo-Paar, das keineswegs auf abgedroschene Gags und billige Effekthascherei verzichten wollte und K. zur Raserei bringen konnte, weil es im Tiefsten gegen sein Berufsethos verstieß. Doch leider sollten gut gemeinte Reformversuche vergeblich bleiben, denn noch heute sieht man ja niedliche Soubretten-Paare Purzelbäume schlagen. [ ... ]

Enoch Arden

Als letzte Inszenierung unserer Spielzeit war die Oper Enoch Arden von Gerster geplant, zu deren Premiere der Komponist persönlich erwartet wurde. Der Inhalt dieses Werkes erzählt vom Leben eines Seefahrers, dessen tragisches Schicksal es war, als Schiffbrüchiger zehn Jahre lang auf einer Insel zu leben, um bei seiner endlichen Rettung und Rückkehr die Geliebte in den Armen eines anderen zu finden. Eigentlich gab es darin nur einen harmlosen Matrosentanz, der Kamrath wenig Mühe gekostet hätte, wenn seine immer empfängliche Spürnase nicht in der Partitur diese interessante Ballettmusik entdeckt hätte, die zwar dick durchgestrichen war, ihn aber dennoch zu einem eigenständigen Tanzbild inspirierte. Als Vision sah er die dramatische Geschichte des Seefahrers und seiner Annemarie vor Augen und ging mit der Idee zu Bodenstein, der als Regisseur fungierte. Hellwach und angetan kündigte der sein Kommen im Ballettsaal an, bei dem das Vorhaben näher besprochen werden sollte.

Ich stand neben K., als der schwergewichtige Mann eintrat, denn ich durfte wegen der Spontaneität dieser Arbeit ausnahmsweise beim Andeuten einiger Bewegungen, die wir vorher im Rohbau festgelegt hatten, mithelfen, dem jetzt gespannt Zuschauenden ein Bild davon zu geben, wie sich K. alles vorstellte.

Wir waren voller Enthusiasmus bei der Sache, als unser lieber Intendant, der bis dahin brav zugeschaut hatte, immer unruhiger wurde und plötzlich auf die Uhr schauend aufsprang und rief: "Nichts für ungut, lieber Kamrath, was Sie da vorhaben ist o.k., aber ich muss mich sputen, denn mein neues Auto steht vor der Tür, auf das ich ewig gewartet habe. Machen Sie nur weiter, streichen können wir es ja immer noch." – Na, Mahlzeit, der hatte Nerven. Wir strampelten uns ab und lagen in sichtbaren Geburtswehen, während er an sein neues Auto dachte. Dennoch, das Vorhaben wurde realisiert und nach intensiven Proben von den Solisten auch anschaulich dargestellt.

Nach der Premiere verlangte Gerster den Choreographen zu sprechen und antwortete diesem auf seine Frage, ob jene Musik jemals getanzt wurde mit: "Ja, einmal in Rom, aber das war grauenvoll, denn denken sie nur, es erschienen doch tatsächlich trippelnde Möwen als Spitzentanz, was mich dazu veranlasste, diese Musik kurzerhand zu streichen." Hinzufügend meinte er noch: "Ich wusste ja nicht, dass es auch Choreographen gibt, die mit mehr Gespür an meine Musik herangehen und damit wie Sie deren absoluten Nerv getroffen haben." Nun, ein größeres Lob konnte sich Kamrath nicht wünschen und auch Bodenstein war zufrieden, denn er buchte einen Teil dieses Lobes auf sein eigenes Konto. [ ... ]

Die Neuigkeiten am ersten Tag der Spielzeit 1952/53 waren umwerfend! – Wir erfuhren, dass sich inzwischen unser Solotanzpaar nach dem Westen abgesetzt hatte, was zu der Zeit, ohne Mauer, ja noch gut möglich war. Und da auch Hannelore L. gegangen war, stand das Tanzensemble ohne Solisten da, was nicht nur für die Ballettleitung zum Problem hätte werden können, sondern auch dem Intendanten einiges Kopfzerbrechen bereitete. Jedenfalls sollte sich das Blatt für mich damit grundsätzlich wenden, und zu meiner übergroßen Freude wurde ich Nutznießer dieser aufgetretenen Notlage, denn ohne Umschweife bekam ich von Bodenstein einen Vertrag vorgelegt, der mich auf der Stelle zur Solotänzerin erklärte, was ich nur noch, wenn auch mit zitternder Hand, zu unterschreiben brauchte.

Damit begann eine andere, eine erfüllte, keine leichte aber erfolgreiche Zeit, die unvergessen zu den glücklichsten Jahren meines Lebens zählt und aus der ich die Kraft für das Dasein von Heute zu schöpfen gedenke.

Vorhang auf

So kündigte das Theater zu Beginn der Spielzeit eine Gala an, in welcher dem Publikum die neuen Hauptdarsteller vorgestellt werden sollten. Auch von mir, als frisch gekürte Solotänzerin wurde nun eine entsprechende Darbietung verlangt. Ich wollte unbedingt ein Irrlicht tanzen, ein huschendes, zuckendes Flämmchen im Moor, das phosphorisierend den Wanderer lockt, ihn umkreist und verführerisch an sich zieht, bis es endlich, getroffen vom ersten Dämmerschein, kraftlos als Nichts in sich zusammensinkt. Die geeignete Musik fand ich in Rachmaninoffs Humoreske und hatte auch noch eine bestimmte Vorstellung vom Aufbau meiner Idee, über die ich ausführlich mit Kamrath sprach. Er war sofort bereit die Choreographie zu übernehmen und wir nutzten jede freie Minute. Dieser Tanz stand, wie man schon bei der Arbeit spürte, unter einem guten Stern. Er entwickelte sich zügig und nahm mühelos prägnante Gestalt an. Die Musik inspirierte zu brauchbaren Einfällen und so wirbelte ich mit kreisenden Beinen über den Boden, züngelte weich in die Höhe und verharrte in lauernder Haltung, überschlug mich wie ein rotierender Feuerball und tauchte geisterhaft an anderer Stelle mit ausgebreiteten Armen auf, bis am Schluss, vom Licht getroffen, der Spuk mit zwei letzten Tönen beendet war.

Der Wurf gelang und wir konnten ihn mit Recht als erste gemeinsame Kreation bezeichnen, sozusagen als Erstlingswerk, das gewiss noch nicht auf den stabilen Beinen stand, wie bei späteren Gastspielen und Wettbewerben, oh nein, ich tanzte ihn anfänglich ja noch in Tüll, was sich dann aber durch den markanten Entwurf Wolf Hochheims grundlegend ändern sollte.

Dieser Tanz hat mich vom Anfang bis zum Ende meiner aktiven Zeit begleitet. [ ... ]

Coppelia

Zu diesem Ballett entschloss sich Kamrath, weil er glaubte, es einigermaßen besetzen zu können, weil es volkstümlich war und für den Anfang publikumswirksam erschien. Jedes andere größere Werk hätte das derzeitige Niveau unserer damaligen Truppe total überfordert [ ... ]. Immerhin erhielt ich die Doppelrolle "Coppelia/Swanhilda" und er selber traute sich den jugendlichen "Franz" zu, während Otto Schaper, ein zweiter Solotänzer, den Part des alten "Coppelius" zugesprochen bekam. [ ... ]

Schon während des Einstimmens der Instrumente im Orchester stand ich auftrittsbereit, mit Herzklopfen hinter dem Vorhang, der sich nun in wenigen Minuten öffnen würde. Premierenzauber für alle – jeder stand an seinem Platz und selbst die Kleinsten des Kinderchors wuchsen in ihre Aufgabe hinein, um tanzend die Geschichte von der Puppe mit den Emaille-Augen zu erzählen. Mit dieser ersten Hauptrolle ertanzte ich mir die Gunst des Dessauer Publikums, das mir so viele Jahre die Treue halten sollte. Glücklich und erschöpft standen alle Darsteller beim Schlussapplaus an der Rampe, während sich der Vorhang immer wieder öffnete und schloss. Ich genoss das Anschwellen des Beifalls, die Zurufe begeisterter Menschen und sah dabei in strahlende Gesichter, die man mit Aufhellung des Zuschauerraumes erkennen konnte. Erst spät, nach einer ausgelassenen Feier, im Foyer, stand als Überraschung ein rosengeschmücktes Auto vor der Tür, in das K. und ich einstiegen, um wie kleine Könige nach Hause gebracht zu werden. [ ... ] Das war immerhin schon die neu erworbene Wohnung am Bauhausplatz, die wir als glückliche Mieter bezogen hatten. Sie wurde zuvor von einem stadtbekannten Architektenpaar bewohnt, mit dem wir befreundet waren und das sich in der Nähe ein Häuschen gebaut hatte. [ ... ]

Mein lieber Mann war nun ständig auf der Suche nach schönen, brauchbaren Dingen, was allmählich auf mich abzufärben begann, und so ergatterten wir gemeinsam recht seltene Stücke, um die uns Kenner beneideten. So kam es auch, dass K. wieder einmal bei Spielmeyer, einem der beiden in Dessau ansässigen Antiquitätenhändler saß, der ihn gerne in seine Werkstatt führte, wo es immer etwas zu entdecken gab. Hierbei fand er nun eine fast lebensgroße Figur aus Keramik, die türkisfarben und nackt ihre Arme wie zum Gebet empor streckte und die von der Hand des gleichen Künstlers stammte, der auch unsere Vase gemacht hatte.

Natürlich wurde sogleich ein annehmbarer Preis ausgehandelt und schon saß mein lieber Freund mit seiner Dame im Arm im nächsten Taxi, um damit stolz durch die Stadt nach Hause zu fahren. Am nächsten Tag hieß es überall, der Ballettmeister sei mit seiner gefeierten Solotänzerin, die splitternackt gewesen, im Auto durch die Gegend gefahren, wobei nicht zu übersehen wäre, dass die Schöne verzweifelt ihre Hände über den Kopf zusammengeschlagen habe.

Ein junger Tänzer

Neunzehn Jahre jung, blond gelockt, etwas schüchtern, aber keineswegs auf den Mund gefallen, so stand ein junger Mann vor uns, der Wolfgang Winter hieß und zum Vortanzen aus Gera gekommen war. Sein Vortrag In der Höhle des Bergkönigs von Grieg machte einen nachhaltigen Eindruck, und weil auch alles andere an ihm in Ordnung schien, wurde er sofort als erster Solist verpflichtet. Gute Tänzer waren schon immer schwer zu bekommen, weshalb wir uns über diesen Gewinn sehr freuten. Und natürlich hoffte auch ich auf eine fruchtbare Zusammenarbeit, um damit das bis dahin recht klein gefasste Repertoire zu erweitern. [ ... ]

Mit Winter war nun klar zu erkennen, dass uns auch im Charakterfach noch mehr Wege offen standen, zumal das Theater ohnehin die vielfältigsten Aufgaben dafür bereithielt. So tanzten wir nicht nur Den schwarzen Panther, zu dem ich in einer Gondel auf die Bühne hinunter gelassen wurde und Winter, der aus einer Litfaßsäule gesprungen kam, mich als verwegener Rowdy umtigerte. Wir tanzten nicht nur Hoftänze oder Weingeister, sondern kreierten auch mal orientalische Bilder oder ließen die Schwerter blitzen, wenn es das Stück oder die Oper verlangte. Auch im frechen amerikanischen Stepptanz versuchten wir uns, um das ganze Spektrum der Möglichkeiten auszuschöpfen.

Eine neue Idee

Nun plante Kamrath für den Abend der Tanzbühne zwei musikalische Werke des ungarischen Komponisten Zoltán Kodály und hatte bereits ein Libretto für die beiden zusammengefassten Stücke Tänze aus Galanta und Marosszéker Tänze konzipiert. Über seine Idee hatte er während einer Budapester Studienreise mit dem damals schon 72-jährigen Komponisten persönlich reden können und, ermutigt durch dessen Interesse, stand nun fest, dass als nächste Premiere die Dramatische Tanzdichtung Des Teufels Peitsche als Uraufführung herauskommen würde. [ ... ]

Wie alle sah auch ich dem Besonderen dieser Arbeit entgegen und gierte nach der Gestaltung dieses fremdartigen Stoffes, der anspruchsvoll und sehr ungewöhnlich erschien. Als Inhalt sollte das Leben eines friedlichen Steppenvolkes geschildert werden, das eines Tages von wilden Stämmen überfallen und all seiner jungen Frauen beraubt wird, die nach gewaltsamer Verschleppung dem Bandenführer als Beute vorgeworfen werden. Nur dem beherzten Mädchen "Ara" gelingt es, diesen lüsternen Tyrannen im vorgetäuschten Liebesspiel zu überlisten und ihn vor den verängstigten Blicken seiner Haremsfrauen zu erdolchen, was die augenblickliche Befreiung der versklavten Menschen bedeutet und was zur spontanen Verbrüderung beider Stämme führt. Auf einem Schild wird das Mädchen den herbeieilenden Männern, die nichts ahnend von der Jagd ins leere Dorf gekommen waren, entgegengetragen und schließlich im großen Finale als Heldin gefeiert.

Die Spieldauer der genannten Stücke reichte als abendfüllende Vorstellung leider nicht aus, weshalb uns für den ersten Teil Glucks fein gesponnene Musik zu L‘Orfano della China geeignet erschien, um darauf eine klassische Tanzsinfonie zu choreographieren, bei der edle Linien und schöne Formen zur Geltung kommen sollten. Manfred Schröder schuf dafür ein zauberhaftes Bühnenbild, das nur aus schwarzen Vorhängen, weißen Gittern und stilisierten Schwüngen bestand. [ ... ]

Ganz in Gold

Aida, die bekannte Verdioper mit dominanten Tanzbildern, sollte demnächst im Landestheater zur Aufführung gelangen, womit natürlich jedes Choreographenhirn sofort mobilisiert wurde. Mit dieser Inszenierung wollte Kamrath sein 25-jähriges Bühnenjubiläum begehen, was vom Theater und von der Presse dann auch gebührend beachtet wurde. Wieder hieß es für die Truppe, sich auf Neues einzustellen, und es sollten Bilder entstehen, die möglichst frei gestaltet aber in Anlehnung an überlieferte Wandmalereien ägyptischer Grabkammern spezifisch gefärbt werden sollten. [ ... ] Kamraths Wissen und seine Erfahrung reichten aus, um für die große Bühne stilistisch sichere Bilder zu schaffen, die sich nahtlos in das gesamte Spiel der Oper einfügten. – Wunderbar gelang der weihevolle Tempeltanz im letzten Akt, der vor edler Kulisse von weißgekleideten Priesterinnen nach Verdis herrlichen Chorgesängen feinnervig zelebriert wurde.

Fast artistisch war dagegen mein großer Auftritt im Bild. Als vergoldete Königstänzerin wurde ich von vier Sklaven auf einem Brett getragen. Dort hielt ich mich frisch vergoldet, in pagodenharter Starre, nur mit dem Löwenkopf geschmückt und wurde beim Ertönen der berühmten Fanfaren aus hinterer Bühnentiefe im Triumphzug nach vorn getragen. Auf leicht schwankender Fläche begann nun mein Solo, das wegen drohender Absturzgefahr allergrößte Konzentration fordert, bis mich die Arme meines Partners auffingen und wir auf festem Boden unter den Füßen unser Duett beginnen konnten. Danach hatte ich punktgenau wieder auf meinem Hochsitz zu landen, um nun aufrecht den Abmarsch der vier Träger zu überstehen, die ich mir mit einem leisen Pfiff zur Einigkeit ihrer Schritte und damit zu meiner eigenen Balance erzogen hatte.

Nach diesem Abgang wurde es dann höchste Zeit, um schleunigst unter die Dusche zu kommen, da die damals doch recht gefährliche Bronze nicht länger als zwanzig Minuten auf der Haut bleiben durfte. Doch auf Frau Bella, meine flinke Garderobiere, war immer Verlass. Gewissenhaft stand sie mit dem Bademantel bereit, in dem ich eingehüllt mit ihr die Treppen hinauf in den dritten Stock stürmte, wo das Wasser schon rauschte und noch mehr Helferinnen mit Bürsten bereitstanden, um mir gründlich das Fell zu schrubben. In dicken Strömen rann dann die glänzende Brühe an mir hinunter, und noch tagelang waren winzige Partikel der Goldbronze nicht aus den Poren zu kriegen. [ ... ]

Rolf Händel

Am 15. März 1956 stand Rolf Händel, damals noch Solotänzer an der Leipziqer Oper, vor uns und schien aus unbegreiflichen Gründen bereit zu sein, einen möglichen Wechsel nach Dessau zu erwägen, was natürlich bei dieser Tanzpersönlichkeit für unser Theater ein Glückstreffer werden konnte [Solotänzer Wolfgang Winter hatte Dessau in Richtung Hannover verlassen]. Deshalb begannen schon kurz nach dem Kennenlernen zähe Verhandlungen mit Bodenstein wegen der geforderten höheren Gage, auf die unser sparsamer Intendant aber nur ungern einging. Doch letztendlich führten die Verhandlungen doch noch zum glücklichen Abschluss, mit dem alle zufrieden waren, und eine große Zeit sollte nun für uns beginnen. [ ... ]

Doch bevor die Arbeit mit Händel beginnen konnte, hatte ich mich auf einen wichtigen Wettbewerb vorzubereiten, zu dem in Halle die Vorentscheide stattfanden. Ich tanzte das Irrlicht und nach Béla Bartóks Suite für Piano, op. 14 alle vier Sätze, die wir Jugend, Gesichte, Alpdruck und Zuversicht nannten. Gerade in jenen Wochen war der Spielplan randvoll und Neuinszenierungen kosteten alle Kraft, so dass für zusätzliche Arbeiten eben nur die Ruhezeiten infrage kamen, die ich ohne Rücksicht auf körperliche Bedürfnisse nutzte.

So mag es durch nervliche Überlastung passiert sein, dass ich bei meiner Ankunft im Hallenser Theater feststellte, dass für den ersten Tanz ein wichtiges Kostüm vergessen wurde. Der Schreck war groß und guter Rat teuer, aber da Not zum Glück ja bekanntlich erfinderisch macht, wurde flugs der alte Übungsrock geschlitzt und mit einem eng gebundenen, roten Mieder, das zufällig irgendwo am Haken hing, kombiniert, was so zur akzeptablen Lösung führte. Ich errang damit den ersten Platz, der natürlich zu weiteren Vormärschen anspornte, zu denen nun alle Tore geöffnet waren. [ ... ]

Schon am 29. Juni 1956 war es soweit. Es trafen sich die Gewinner der Bezirke zum großen Wettstreit beim "Fest der jungen Künstler" in Karl-Marx-Stadt. [ ... ] Überall wimmelte es schon von Tänzerbeinen, und aufgeregte Kandidaten hetzten durch Gänge und Garderoben, prüften die Beschaffenheit des Bühnenbodens oder sortierten Noten und Ballettschuhe. Andere vollführten zum Aufwärmen extreme Körperverrenkungen und ließen sich von Helfern strecken und dehnen. Den Mitgliedern der Jury ging ein guter Ruf voraus und man wusste, dass sich unter ihnen auch Palucca, Tom Schilling und Emmy Köhler-Richter befanden.

Es galt also wieder Nerven zu zeigen, was ich trotz innerer Unruhen zu beherzigen versuchte. Mein Einsatz war total und ich tanzte das "Flämmchen" mit ganzer Hingabe: langhaarig, barfüßig und wie vom Teufel getrieben.

Nach längerer Beratung wurde mir von der Jury ein dritter Preis zuerkannt, während der erste und zweite Platz nicht verliehen wurden, was mich immerhin zur einzigen Preisträgerin dieses Wettbewerbes machte und in der Presse später noch heiß diskutiert wurde. Dort fand ich mich jedenfalls auf Titelseiten wieder, was Zuversicht für kommende Zeiten gab. [ ... ]

Rolf Händel, mit dem nun die neue Spielzeit begonnen hatte, war völlig anders als alle Tänzer, die während meiner Zeit auf den Brettern unseres Theaters gestanden hatten. Er sah nicht nur blendend aus, sondern war schön, wodurch sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das sich für andere bis zur Unerträglichkeit steigern konnte, entstanden sein mochte. Seiner hoch künstlerischen Dominanz und Kamraths Einfühlungsvermögen war es zu danken, dass es dennoch zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit kam [ ... ]. Soweit ich mich erinnern kann, tanzten wir zum ersten Mal mit dem Corps de Ballett in Wagners Rienzi, körpergebräunt, in Seide und Gold. [ ... ]

Der Feuertanz nach der Musik von M. de Falla entstand, und wir ließen uns von seinen dunkelglimmenden Tönen mit aufbrechender Glut inspirieren, was zu einem damals neuartigen Bewegungsstil führte, mit dem später sogar angesehene Tanzgemüter in Russland in Aufregung versetzt wurden. Mit diesem Tanz in Rot und Schwarz auf erhöhter runder Fläche, die wir unseren "Schweizer Käse" nannten, holte uns das Fernsehen erstmalig nach Berlin zu einer Konzertübertragung, bei der wir, vom großen Orchester begleitet, für optische und anspruchsvolle Bereicherung sorgten.

Ermuntert durch den dort errungenen Erfolg strebten wir nun nach der Verwirklichung eines abendfüllenden Kammertanzabends, bei dem jeder von uns seine Stärken einzubringen gedachte, aber das Hauptgewicht auf den geplanten und bestehenden Duetten liegen sollte. Das Vorhaben blieb glücklicherweise keine Utopie, und schon bald sollte sich auch dafür der Vorhang unseres Theaters heben, vor dem ein Publikum saß, dessen Wertschätzung wir nun immer intensiver zu spüren bekamen. [ ... ]

Kammertanzabende dieser Art mochten wohl schon immer ein Wagnis für jedes Theater gewesen sein, weshalb wir froh sein konnten, einen verständnisvollen Intendanten zu haben, der mit uns der gleichen Meinung war, dass man dem Publikum unbedingt Vielseitigkeit in der Spielplangestaltung anzubieten habe, was in unserem Fall dann auch mit vollen Häusern für seinen Etat zu Buche schlagen sollte.

So ging der Vorhang auf und wir tanzten An den Frühling. Hellblau und zartgelb waren die Kostüme, so zart wie das Liebesduett selber, mit dem der bunte Reigen eröffnet wurde, wenn man das Expandieren unserer Themen überhaupt so nennen durfte. Denn Händels Tyrann (B. Bartók), unsere Fronarbeit (Mussorgsky) oder der Feuertanz (de Falla) waren alles andere als liebliche Tänzchen. Dennoch gelang eine glückliche Mischung von "Hell" und "Dunkel", von "Ernst" und "Heiter", was sich mit Jugend und wachsender Reife recht gut vertrug.

Aus M. Mussorgskys Bildern einer Ausstellung lieferte der "Ochsenkarren" den musikalischen Unterbau zum Duett Fronarbeit, für das Rolf Händel nicht nur die Idee, sondern auch den Aufbau einbrachte, den Kamrath wegen seiner meisterhaften Konzeption sofort akzeptierte und nur noch für den letzten Schliff zu sorgen brauchte, mit dem die Wucht der Dramatik überzeugend verstärkt wurde. [ ... ] Diesem Werk gebührt daher die Krone unserer einjährigen Zusammenarbeit, unter der wir gelitten, gestritten, aber auch gejubelt haben. [ ... ]

Nun glaubten wir gerüstet zu sein und wollten den Sprung in die Metropole unseres Landes wagen, denn Berlin hatte zu einem Wettbewerb der besten Instrumental-, Gesangs- und Tanzsolisten aufgerufen, um die daraus hervorgehenden Sieger zum sommerlichen, internationalen Festival nach Moskau zu schicken. [ ... ] Allerdings waren dafür noch einige Barrieren zu überspringen, denn auf keinen Fall durften deswegen laufende Vorstellungen im Spielplan versäumt werden, auch dann nicht, wenn man sich auf ein Rundschreiben des Kulturministeriums berufen konnte, worin um mögliche Freistellungen der angenommenen Kandidaten gebeten wurde. [ ... ] Da Berlin aber nicht allzu weit entfernt lag, versuchten wir, durch genau ausgewogenes Pendeln per Bahn, wenigstens für die wichtigsten Vorkämpfe in der Hauptstadt zu sein, in der wir erstmals zum Kreis der Solisten gehörten, die sich zum Teil schon einen Namen gemacht hatten und sich entsprechend in Szene zu setzen wussten. [ ... ] Schließlich blieben nach mehrmaliger Durchsiebung vom Heer der Bewerber nur noch sechs Paare übrig, von denen wir das einzige Duo waren, das nicht aus Berliner Theatern kam. Es war also geschafft und im Theaterdienst fanden wir uns mit der Fronarbeit auf der Titelseite wieder, was uns jubeln ließ, der Konkurrenz aber sicherlich nicht sehr behagte. [ ... ]

Bevor im August die Zeit in Moskau begann, wurde in Berlin für die Elitetruppe, der wir nun angehörten, ein Festprogramm zusammengestellt, das unter der künstlerischen Leitung von Jean Weidt in sämtlichen Großstädten der DDR gezeigt werden sollte. Für Rolf und mich hieß das, dem heimischen Betrieb noch häufiger fernzubleiben, was laut staatlicher Anordnung von der Leitung aber ohne Murren hingenommen wurde, da es schließlich auch dem Ansehen unseres Theaters diente. [ ... ] In der gesamten Presse erschienen nun aktuelle Bildberichte über das viel beachtete Auftreten unserer Moskautruppe. Im Radio gab es Interviews und Übertragungen. Selbst die DEFA beteiligte sich mit Dokumentarstreifen an den Ereignissen der Zeit und schickte uns Kameramann Ewald Krause zu Filmaufnahmen nach Dessau. [ ... ] Ja, und irgendwann mussten wir auch mal wieder nach Hause, wo das Vorhaben eines Ballettabends auf dem Programm stand und Kamrath sich für Hamlet von Boris Blacher entschieden hatte, da er in Rolf Händel die ideale Besetzung sah. [ ... ]

Preisträgerin in Moskau

Nun endlich war der Tag gekommen, an dem Rolf und ich mit Sack und Pack, bis Berlin von K. begleitet, den Zug nach Moskau zum VI. Festival 1957 besteigen konnten. [ ... ] Ich wusste, dass es nicht leicht sein würde [ ... ], hoffte aber auf die Stärke, mit der wir schon weit vorgedrungen waren. Doch die bange Frage blieb, ob es in Moskau gegen die Weltelite überhaupt eine Chance für uns geben würde. [ ... ] Inzwischen tobte überall der Kampf um Sieg und Platz. [ ... ] So schlug auch meine Stunde, und wie vom Blitz der Erleuchtung getroffen legte ich los, tanzte das Irrlicht, tanzte Rachmaninow und war eins mit beiden, getragen von der Virtuosität des Pianisten, dem so vieles zu danken war. Noch zwei letzte Töne: Klick – Klack, Licht aus, ich sank hin und ... Wie ein erfrischender Regenschauer rauschte Applaus auf mich nieder, der so wohl tat wie ein Schluck aus dem Füllhorn der Götter. Doch ohne Verzug raste ich, ungeachtet meiner blutenden Füße, zum Umzug in die Garderobe, wo Rolf schon unruhig stand und mir das nächste Kostüm hinhielt, in das ich flog, um von ihm gezogen zum nächsten Auftritt, dem Feuertanz, zu eilen. [ ... ] Mit der Fronarbeit schloss das Programm und es blieb zu hoffen, dass dieses Duett auch hier seine Eindrücke hinterlassen hatte. [ ... ]

Spannungsgeladen saßen dann alle [ ... ] in den Zuschauersesseln, bis sich das Jurykollegium auf der Bühne versammelt hatte. [ ... ] Nummer Eins im Solofach [ ... ] wurde die Koreanerin, im Duo ein sowjetisches Paar und zwei Deutsche, Ursula Heinrich und Petro Hebestreit für Steinigung. Danach wurden mit Silber bedacht – nein, ich hatte mich nicht verhört – es war mein Name gefallen [ ... ], das war mehr als ich heimlich erhofft, das war Freude pur, obgleich neben mir ein enttäuschter Rolf saß, der sich mit Bronze begnügen musste, was bei diesem Wettbewerb immerhin noch ein toller Preis war, doch ihm, im Hinblick auf andere, nicht zu genügen schien. [ ... ]

In Dessau waren Rolf und ich nun weniger mit der Theaterarbeit als vielmehr mit den zu absolvierenden Einladungen befasst. Zeitungsleute wollten Artikel schreiben, im Rathaus gab es eine Feierstunde mit anschließendem Essen, und auch Intendant Bodenstein ließ sich nicht lumpen, er ließ Prämien und Diplome überreichen und Publikumsgespräche organisieren [ ... ]. Zudem wurde mir nun endlich für die kommende Spielzeit die Traumrolle in der Oper Die Stumme von Portici angeboten, was ich mir schon lange gewünscht hatte. Für Rolf stand nun endgültig fest, dass er Dessau verlassen und ins nächste Engagement nach Braunschweig gehen würde. [ ... ]

"Die Stumme von Portici"

Nun aber versuchte ich mich ganz in die Rolle des armen Fischermädchens zu versetzen, die in der vorliegenden Oper zur Zentralfigur der neapolitanischen Fischeraufstände vom Juli 1647 bis März 1648 wird. Sie erzählt von ihrer Liebe zu dem herrschenden Fürsten, Alfonso, vom Hass und von den Kämpfen des einfachen Volkes gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft. Mit der Musik von Auber wurde dieses Werk 1828 an der großen Oper in Paris uraufgeführt und soll einen epochemachenden Erfolg gehabt haben.

Als die Proben begannen, wusste ich nicht, was auf mich zukam. Zum Glück ließ Bodenstein, der Regie führte, einige markante Szenen musikalisch und tänzerisch mit Kamrath im Ballettsaal vorarbeiten, so dass bei ersten Bühnenproben schon etwas anzubieten war und ich mich allmählich in diese schwierige Gestaltung einfinden konnte. Es war schon recht ungewöhnlich, in einer stummen Rolle neben stimmgewaltigen Sängern zu stehen, deren vibrierende Resonanzböden man bei jeder Berührung zu spüren bekam, wobei ich besonders an das lyrische Schlaflied denke, bei dem es in den liebenden Armen des Bruders, Masaniello, während seiner großen Arie doch recht unbequem werden konnte. Dramatische Spannung boten auch tumultartige Volkszenen, in denen Fenellas Auftritte zu Verfolgungsjagd und Massenaufständen führten, woraus sich auf dem Marktplatz eine trotzige Tarantella ergibt.

Stark und neu war es, mit einem Dolch umzugehen, und ich beging bei Proben prompt den Fehler, mein Opfer von hinten erstechen zu wollen, was Bodenstein lachend korrigierte und mir umgehend erklärte, dass Meuchelmord zu einer Heldin nicht passen würde, wobei er mir den Trick mit der Achselhöhe beibrachte, den ich sofort übernahm und nun mein Opfer auf anständige Weise zur Strecke brachte. Ein siegreiches Schlussbild rundete das Werk, in dem sich das Volk noch einmal zum Schwur gegen Knechtschaft vereint und der lodernden Fackel des Mädchens folgt, das es mutig befreit hat und nun tapfer vorauseilt. [ ... ]

Ein Haus und Grundstück

Kaum aus anderen Welten zurückgekehrt, überfiel mich K. mit seiner neuesten Idee, ein Haus in Dessau kaufen zu wollen. Zufällig war er dem Architekten Willi Stamm begegnet, der sein Anwesen in der Vorstadt baldmöglichst verkaufen wollte. Allerdings sei es noch vermietet, läge aber herrlich im Naturschutzgebiet, direkt an der Mulde, in Nachbarschaft der uns bereits bekannten Familie Bringezu. Sogleich musste ich zur Besichtigung mitkommen und war dann auch ziemlich enttäuscht bei der näheren Betrachtung des grauen Hauses, das von hohen Bäumen fast erdrückt wurde und ungepflegt inmitten verwilderter Einsamkeit stand, aus der zu allem Überfluss noch lagernde Gerüste einer Baufirma herausragten. Das alles sei rasch zu ändern meinte K. und machte mich auf den besonderen Stil des Hauses aufmerksam, der sich nach Art französischer Landhäuser durch schöne Ausführungen tiefgezogener Fenster und Holzläden auszeichnete, was unschwer zu erkennen war. Natürlich gäbe es viel zu tun, hörte ich weiter, aber er sähe dem Resultat aller körperlichen wie finanziellen Anstrengungen dennoch mit Zuversicht entgegen, wogegen eigentlich nichts einzuwenden war.

In den Wohnräumen gab es überall Parkettböden und wunderschöne, in Holz gefasste Rundbögen an bleiverglasten Fenstern und Türen, was seinen besonderen Reiz im Erker fand, von wo aus der Blick ins Dickicht des Gartens fiel. Küche, Bad und Flure waren mit echten Solnhofer Platten ausgelegt und stilvolle Kachelöfen fielen ins Auge. Alles wurde von K. mit Kennerblick wahrgenommen, obwohl Mängel, die durch Krieg und, wie wir hörten, durch Einquartierungen amerikanischer Besatzer verursacht wurden immer noch zu sehen waren. Uns wurden Brandstellen unterm Teppich gezeigt, die anscheinend durch offene Feuerstellen beim Grillen entstanden waren. Auch ein Friseur hatte versucht, hier sein Geschäft zu führen, und im Keller gab es böse Verbiss-Spuren von Schafen, die in den schweren Zeiten von der Besitzerin zum Überleben gehalten wurden. Trotz aller Hindernisse und Nachteile ließ K. nicht locker, und die Verhandlungen wurden mit Stamm immer intensiver, so dass bald schon ein Termin beim Notar gemacht war, bei dem K. und ich je zur Hälfte als Eigentümer im Grundbuch eingetragen wurden. [ ... ]

Sehr viel Kraft und Zeit verbrachte K. nun mit der Umgestaltung des Gartens, den man eher als Forst bezeichnen konnte und aus dem er einen Park mit verschlungenen Wegen und verträumten Ecken machen wollte, was bei der Größe des Grundstückes eigentlich den Einsatz einer ganzen Brigade von Gärtnern gefordert hätte. Leider konnte mit meiner Hilfe nicht groß gerechnet werden, da ich ständig im Einsatz steckte und für Verträge mit der Konzert- und Gastspieldirektion fit bleiben musste.

Estraden und Abschied

In Leipzig begann nun, da wir die feste Bindung zum Theater lösen wollten und mein Name Zugkraft bekommen hatte, eine etwas wilde aber nicht zu verachtende schöne und sogar lukrative Zeit. Denn überall passte ich rein. Ob in Konzert-, Kultur- oder Varietéhäusern, ob bei Pressefesten, Filmkongressen oder Ärztetagungen, überall trommelte ich mit den Absätzen, tanzte spanisch, rumbate und orientalte durch die Gegend, klagte dramatisch in Agitationsveranstaltungen, fror beim Filmen vor dem Denkmal in Buchenwald und tanzte sogar in der "Postkutsche" im Schummerlicht einer Bar. Das alles war nötig, um den eigenen, abendfüllenden Kammertanzabend als "Stunde des Tanzes" durchzusetzen. Nur so konnte es gelingen, beim breiten Publikum eine Lanze für den Ausdruckstanz zu brechen, der es wert war neben allen anderen Künsten erhalten zu werden.

Doch zuvor hieß es den schmerzvollen Abschied vom Theater zu vollziehen, womit sich unser Intendant nur schwer abfand, weshalb ich noch einen Jahresgastvertrag für die Stumme unterschrieb, mit dem am Ende der Spielzeit dann aber unsere endgültige Abschiedsvorstellung auf der geliebten Bühne stattfand, auf der alles so wunderbar begonnen hatte und die sich nun mit Blumen füllte, sich der Vorhang immer wieder hob, bis der Eiserne sich langsam zu senken begann, durch dessen kleinste Pforte ich ein letztes Mal vom Publikum gerufen wurde. [ ... ].

Ein großer Abend

Wie vom Schicksal gewollt, fanden [ ... ] im September 1974 die Vorbereitungen für das Programm zum 25. Jubiläum der Wiedereröffnung des Landestheaters Dessau statt, wozu ehemalige Mitglieder aus Nah und Fern zusammengerufen wurden, um nach etlichen Jahren mit dem Dessauer Publikum ein Wiedersehen zu feiern. Natürlich gehörten auch wir dazu, und was konnte es Schöneres geben, als wieder auf der Bühne zu stehen, die man besonders gern hatte und auf der alles begonnen hatte, auch wenn es nur ein letztes Mal sein sollte. In vollen Zügen wollte ich kraftvoll meine Kreise ziehen, wollte das Irrlicht tanzen, das dort entstanden und mit mir gereift und gewachsen war.

Auch mein lieber Mann freute sich auf das Ereignis und sorgte mit Verstand für den geschäftlichen Teil und dafür, dass ich mich wieder zu längeren Trainingsstunden im Saal einfand, um mit guter Kondition ins Rennen zu gehen.

Einen Tag vorher begannen die Proben und man traf überall im Theater auf alte Bekannte, die nun an Jahren gereift, oft fetter und lauter geworden, aber immer noch wach und regsam geblieben waren. Brüderlich lag man sich in den Armen, musterte sich verstohlen und gab willig Kunde über sein jetziges Tun, wobei auch schon mal etwas übertrieben wurde. Es waren Sänger und Schauspieler, die zum Teil in Berlin und anderswo Karriere gemacht hatten und nun gerne mit ihrer alten Wirkungsstätte ein Wiedersehen feiern wollten. Von ihnen sei vor allem der damals junge Helmut Strassburger genannt, der als Statist und Techniker begonnen hatte und nun in Berlin als angesehener Regisseur wirkte.

Mir war als kehrte ich aus fernen Welten zurück, und ich genoss alle Herzlichkeiten, das Gefühl erkannt und gemocht zu werden [ ... ] das Heimische dieses Hauses, in dem ich mich immer noch bis in den letzten Winkel auskannte.

Rückblickend kann behauptet werden, dass jener Abend gelang und kaum Wünsche offen ließ, was vom Publikum mit entsprechenden Kundgebungen quittiert wurde. Eine rauschende Nacht des Feierns schloss sich an, in der geprostet und ausgelassen getanzt wurde und ich sogar einen richtigen Schwips bekam.

Das Comeback

Schon wenige Tage nach dieser Präsentation meldeten sich der derzeitige Ballettchef Dieter Klimaszyk und der Regisseur Hans Eichhorn, um mir den tänzerischen Part in der neu zu startenden Operette In Frisco ist der Teufel los anzubieten. Eine mexikanische Tänzerin namens Chica sei darzustellen, die in einer Bar tanzt, sehnsüchtig auf ihren Seemann wartet und mit nur einem Satz durchs gesamte Stück führt. Das erschien ungewöhnlich aber reizvoll, weshalb das Team auch nicht lange auf meine Antwort zu warten brauchte und ich mich zielstrebig zu ersten Proben im vertrauten Ballettsaal einfand.

Doch die Arbeit mit dem etwas laxen und unsicher wirkenden Ballettchef war schwerer als erwartet, da auf Feinarbeit und Musikalität kaum Wert gelegt wurde, was für das Heer der Gruppe regelmäßig zu katastrophalen Einsätzen führte und sie ziemlich lahm erscheinen ließ. Zum Glück wurden mir erhebliche Freiheiten eingeräumt und ich konnte mich in Zusammenarbeit mit den drei Tänzern einigermaßen durchsetzen.

Im himmelblauen Rüschenkleid war dann mein Seemann zu betören, der mich fest an sich riss, um mir im Refrain, mit den Stimmen des rundum platzierten Chores, sein Begrüßungslied ins Ohr zu schmettern. [ ... ].

So kam es, dass ich mit dieser Inszenierung noch eine weitere Spielzeit am Dessauer Theater wirkte, was über aufkommende, wehmütige Gedanken hinweghalf, die ich mir über das nahende Ende meiner Tänzerinnenzeit zu machen begann.