von Geertje Andresen
„Das mag überhaupt einen großen Teil meiner eigenen Zeit als Tippelschickse ausmachen, nämlich wirklich ein grenzenloses, ja ein brüderlich-schwesterliches Verhältnis zu denen, die so entsetzlich ohne einen Halt waren. Ich fühlte mich zu ihnen hingezogen und das, ich schwöre dir, das ist heute noch genau dasselbe!“ (Jo Mihaly 1981 zu Klaus Trappmann, abgedruckt in: Dies.: Michael Arpad und sein Kind. Berlin 1981, S. 159.)
Die sich selbst ihr Leben lang den Zigeunern, Vagabunden, Kunden, den Recht- und Heimatlosen zugehörig fühlt, wird als Elfriede Alice Kuhr (genannt Piete) am 25. April 1902 in der deutsch-polnischen Grenzstadt Schneidemühl (heute Piła) geboren. Gemeinsam mit ihrem hochmusikalischen, drei Jahre älteren Bruder Willi (genannt Gil) wächst sie bei ihren Großeltern auf. Die Eltern der Geschwister leben schon so lange getrennt, dass sich Piete nicht an ih-ren Vater erinnern kann und ihn auch nicht vermisst. Sie hat lediglich von diesem Mann gehört, der Architekt in Danzig ist und für zwei (ihr ebenfalls lange Jahre unbekannte) ältere Brüder zu sorgen hat. Ihre Mutter Margarete ist Sängerin und leitet in Berlin die Meisterschule für Bühne und Konzert. Piete und Gil schwärmen für ihre Mutter. Sie halten sie für die eleganteste Erscheinung der Welt. Wenn „Muttchen“ zu Besuch nach Schneidemühl in ihr eigenes Elternhaus kommt, weichen ihr ihre Kinder nicht von der Seite. Sie vermissen sie in ihrer Abwesenheit schrecklich. Aber im Haus ihrer Großeltern fühlen sie sich dennoch wohl und geborgen. Der Großvater gehört als Architekt, Maurermeister und Stadtrat zu den Honoratioren der Kleinstadt. Als Piete erst zehn Jahre alt ist, stirbt er. Er hinterlässt seiner Familie jedoch ausreichend Geld, damit sie weiter in ihrem Haus leben kann und bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges keine Not zu leiden hat.
Zu Pietes festem Spielplatz gehört der Geschirrplatz ihres Großvaters, der zur Lagerung des Werkzeugs seiner Handwerker bestimmt ist. Auf diesem Platz lässt der Großvater auch durchreisende Zigeuner campieren. Sie müssen oft wochenlang auf die Überprüfung ihrer Papiere durch die Grenzbeamten warten. Piete findet diese Menschen außerordentlich interessant. Sie freundet sich mit ihnen an und nimmt Partei für sie, die unter Vorurteilen und Gewalttätigkeiten der einheimischen Bevölkerung zu leiden haben. Als eine Zigeunersippe eines Tages von einem betrunkenen Schneidemühler tätlich angegriffen wird und sich wehren muss, sperrt die herbeigerufene Polizei nicht etwa den einheimischen Angreifer, sondern die fremden Angegriffenen ein. Das empört die zehnjährige Zeugin des Geschehens so dermaßen, dass sie einen erbosten Beschwerdebrief an den Bürgermeister von Schneidemühl schreibt und den Vorgang zurechtrückt. Die unverzügliche Freilassung der Unschuldigen bewirkt dieser Brief zwar nicht, aber die Zigeuner sind von dieser Geste der Solidarität so berührt, dass sie dem Kind den Namen Jo Mihaly – Einer von ihnen geben. Piete empfindet diese Zugehörigkeit als Auszeichnung, der sie sich ein Leben lang würdig erweisen will.
Diese menschliche Auszeichnung gilt in ihrer Kaiserin-Augusta-Viktoria-Schule für höhere Töchter jedoch nichts. Im Gegenteil: Elfriede Kuhr wird von ihren Lehrern als ungezogen, faul und unordentlich, als „das böse Mägdlein mit dem bösen Blick“ diffamiert. Ihre Großmutter, ihr Bruder, ihre Freundinnen und Freunde und meist auch ihre Mutter bestärken das Mädchen jedoch in ihrem oft unkonventionellen, immer aufrichtigen und vor allem solidarischen Verhalten gegenüber zu Unrecht Angegriffenen. Piete sieht sich kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges gezwungen, zwei Mal einen Schulkameraden zu verprügeln, der einer jüdischen Schülerin „Judensau“ hinterher gebrüllt hat. Der plötzlich offen zutage tretende Antisemitismus der meisten Kinder und Erwachsenen in Schneidemühl bleibt ihr unverständlich. Sie kann ihn schon gar nicht teilen und ergreift in ihrer Schulklasse demonstrativ Partei für ihre verleumdeten Mitschülerinnen. Unrecht kann sie nicht ertragen.
Ihre Mutter fordert sie auf, über den Verlauf des Ersten Weltkrieges Tagebuch zu führen und ihre Erlebnisse und Eindrücke festzuhalten. Vier Jahre lang schreibt das Kind einen einzigartigen Bericht über die Verwandlung ihrer ursprünglichen Kriegsbegeisterung zu einem nicht mehr zu erschütternden Pazifismus. Sie schildert fast täglich die Kriegsauswirkungen auf ihr Leben. Piete hilft ihrer Großmutter täglich, in der Rot-Kreuz-Station von Schneidemühl die durchreisenden Soldaten zu verpflegen. Dabei widersetzt sie sich einer Anordnung von zuständigen Beamten und sorgt dafür, dass auch Kriegsgefangene auf ihrem Transport in die Gefangenlager so gut es geht versorgt werden. Sie ist nicht bereit, einem Menschen Hilfe zu verweigern.
Ihre Kriegserlebnisse lassen die evangelisch Erzogene immer stärker am Glauben an einen Gott zweifeln. Erschüttert ist ebenfalls ihr Vertrauen in eine vernünftige Staatspolitik, die das Wohl aller Menschen in den Mittelpunkt ihrer Gesetze und Entscheidungen stellt. Ihr Zweifel, ihre Intelligenz, ihre Offenheit und Aufrichtigkeit animieren viele Lehrer ihrer Schule dazu, Piete moralisch zu diffamieren. Nach einer letzten Beleidigung als „leichtes Mädchen“ durch den Vikar an der Schule, verlässt Piete wutentbrannt die Schule. Sie hat ihre Pflichtschuljahre abgeleistet und will sich nicht länger der Dummheit und dem Machtwillen ihrer Lehrer aussetzen. Pietes Großmutter billigt diesen Entschluss, meldet das Kind mit dem Hinweis auf das pädagogische Fehlverhalten der Lehrer ordnungsgemäß von der Schule ab und entspricht auch dem Wunsch des Mädchens, fortan im Kinder- und Säuglingsspital als Schwesternhelferin zu arbeiten. Sie meldet sie dort zur Ausbildung an, und bis zu ihrem 18. Geburtstag engagiert sich das junge Mädchen mit all ihrer Kraft für die jüngsten Opfer des Krieges.
Gleich nach Ende Krieges gelingt es Margarethe Kuhr, ihre Gesangsschule in Berlin neu aufzubauen. Sie beordert ihren Sohn Wilhelm zu sich, der später die Schule übernehmen soll. Für ihre Tochter Piete hat Margarethe Kuhr ebenfalls eine Ausbildung zur Konzertsängerin vorgesehen. Der liegt jedoch entschieden mehr am Tanzen. Sie hat sich schon seit Jahren in Schneidemühl mit den Themen auseinandergesetzt, die sie auf die Bühne bringen will, und sie hat sich Basiselemente des klassischen Balletts zeigen lassen, die sie unermüdlich, wenn auch ohne professionelle Anleitung, trainiert. Als 1920 ihre Ausbildung zur Säuglings- und Kinderschwester abgeschlossen ist, darf auch sie endlich zur Mutter nach Berlin ziehen. Sie erhält die vorgesehenen Gesangsstunden, arbeitet als Sekretärin und verdient sich durch Überstunden genug Taschengeld, um davon heimlich ihren Tanzunterricht zu finanzieren. Endlich kann sie unter professioneller Anleitung tanzen lernen. Sie entdeckt außerdem die Welt des Varietés für sich und wird selbst vom Modeschöpfer und Kunstprofessor Otto Haas-Heye entdeckt, der sie für sein privates Ballettensemble engagiert.
Ab 1922 tingelt Elfriede Kuhr mit dieser Truppe durch die Varietés Europas, lebt in billigsten Absteigen, muss erleben, dass ihre Gage nicht zum Leben reicht, lernt die Solidarität von Kollegen aus aller Welt kennen und ist glücklich. Die junge Frau genießt das Unterwegssein, das Tanzen und die zahllosen interessanten Menschen, denen sie unterwegs begegnet.
Während sie in Europa unterwegs ist, erhält sie 1924 die Nachricht vom Tod ihrer Mutter. Dieser Verlust ist für Elfriede Kuhr das endgültige Ende ihrer Kindheit. Sie beschließt, in ein neues, unbekanntes Leben aufzubrechen und verwandelt sich. Sie schneidet ihre Haare ab, zieht sich Hosen an, nimmt ihre Gitarre, verlässt die Tingeltruppe von Otto Haas-Heye und begibt sich unter dem Namen „Jo Mihaly“ als „Tippelschwester“ auf die Landstraße. Einige Monate lebt sie unter Vagabunden und Zigeunern, lernt die Zigeunersprache, erlebt sowohl die große Not als auch eine ebenso große Solidarität unter den Heimatlosen. Ihnen fühlt sie sich zugehörig.
Als Lebensperspektive für sie taugt das Leben auf der Straße jedoch nicht. Jo Mihaly muss Geld verdienen. Sie sieht sich als Mittlerin zwischen den Heimatlosen und der bürgerlichen Welt und beschließt, ihre Tanzkunst für diese Vermittlung einzusetzen. Dass sie die Geschichten von Krieg, Tod, Not und Heimatlosigkeit mit ihrem Tanz erzählen will, weiß sie bereits seit ihrer Kindheit im Krieg.
In der Spielzeit 1925/26 erhält sie gemeinsam mit Lisa Ney und Lou Eggers am oberschlesischen Dreistädtetheater Beuthen-Gleiwitz-Hindenburg ein Engagement als moderne Tänzerin. Jo Mihaly bleibt ihrer neuen Identität treu, tritt als androgyne und herbe Tänzerin auf und zeigt dort u.a. ihre gesellschaftskritische Choreographie „Der Arbeiter“. Bedeutsam daran ist nicht nur, dass sie als Frau glaubwürdig einen Mann auf der Bühne darstellt, sondern dass sich in ihrer Choreographie ein geknechteter und notleidender Arbeiter in einen kraftvollen Kämpfer verwandelt. Dass sich Opfer aus ihrem Schicksal befreien können, ist ihre Botschaft. Choreographie und Botschaft kommen bei Presse und Publikum überzeugend an.
In der Spielzeit 1926/27 kehrt Jo Mihaly nach Berlin zurück. Sie hat in dieser Stadt wesentlich mehr Möglichkeiten als in der Provinz, ihre Solotänze zu entwickeln und zu zeigen. Und sie kann mit gelegentlichen Gruppenauftritten Geld verdienen. In der Volksbühne schlüpft sie 1927 in Fritz Holls Inszenierung des Sommernachtstraums von William Shakespeare in die Rolle der Elfenanführerin. Selbst mit diesem kleinen Auftritt erregt sie wegen ihrer Bühnenpräsenz die Aufmerksamkeit der Kritiker.
Auf sie aufmerksam wird auch der in dieser Spielzeit ebenfalls an der Berliner Volksbühne engagierte erfolgreiche Schauspieler und Regisseur Leonhard Steckel. Er ist von Jo Mihalys Begabung überzeugt, fördert sie, unterstützt ihre Arbeit und heiratet sie 1927. Das junge Ehepaar zieht in die gerade fertig gestellte „rote Künstlerkolonie“ am Breitenbachplatz, Bonner Straße 1. Es lebt nun in unmittelbarer und guter Nachbarschaft mit vielen anderen linksintellektuellen Künstlern, zu denen u.a. auch der Arbeitersänger und Schauspieler Ernst Busch zählt. Die Ehe mit Leonhard Steckel gibt Jo Mihaly die Möglichkeit, finanziell abgesichert ihre verschiedenen Talente zu entwickeln.
In dieser neuen, existentiell gesicherten Lebenslage fühlt sie sich den Menschen aus ihrer Vagabundenzeit besonders verpflichtet. Sie entdeckt 1928 in einer Zeitung den Aufruf an alle Vagabunden vom Anarchisten Gregor Gog, sich zu Pfingsten 1929 in Stuttgart zu einem großen Vagabundentreffen einzufinden. Gog hat bereits 1927 die „Bruderschaft der Vagabunden“ gegründet und ist seitdem auch Schriftleiter der zeitgleich ins Leben gerufenen Zeit- und Streitschrift „Der Kunde“. Er will das soziale Bewusstsein der Obdachlosen stärken und sie politisch organisieren. Gog schwebt die Utopie einer freien und sozialistischen Gesellschaft vor, aus der die gescheiterten Existenzen, die Arbeitslosen und Aussteiger, die Tippelbrüder und romantischen Abenteurer nicht ausgeschlossen werden sollen. Jo Mihaly will dabei sein. Sie nimmt Kontakt zu Gregor Gog auf, besucht ihn 1929 und bittet ihn, sie auch in die „Bruderschaft der Vagabunden“ aufzunehmen. Sie schreibt fortan Gedichte und Geschichten für die Zeitschrift „Der Kunde“. Ihre Scherenschnittserie „Ballade vom Elend“ ist auf der Kunstausstellung, die begleitend zum Vagabundentreffen gezeigt wird, zu sehen und erscheint 1929 als ihr erstes Buch im Vagabundenverlag. Im gleichen Jahr erscheint dort auch ihr mit Tintenzeichnungen illustrierter Erzählband Kasperltheater und andere nachdenkliche Geschichten. Beide Bücher scheinen sich gut zu verkaufen. Also schreibt sie sogleich ihr nächstes Kinderbuch, „Michael Arpad und sein Kind“, in dem sie ihre Erlebnisse und Eindrücke aus ihrer Zeit als „Tippelschickse“ verarbeitet. Auch dieses Buch versieht sie mit Illustrationen. Es erscheint im Herbst 1930 im Geiger-Verlag. 1933 wird es von den Nationalsozialisten verboten, die Restauflage kann jedoch an die in der Schweiz gerade neu gegründete Büchergilde Gutenberg verkauft werden.
Download des gesamten Textes von Geertje Andresen
Foto © Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto © Kessler / Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto © Leonhard Steckel / Deutsches Tanzarchiv Köln
Arbeitsgemeinschaft junger Tänzer mit Jo Mihaly (und u.a.: Liselore Bergmann, Senta Hillert, Iva Langentels, Lisa Ney, Eva v. Sacher-Masoch, Lotte Auerbach und Andrei Jerschik).
© Deutsches Tanzarchiv Köln