Von Garnet Schuldt-Hiddemann
Wofür stehen die Abkürzungen „Muna“ und „WW“? Und was haben diese Abkürzungen auf dem nebenstehenden Programmzettel zu bedeuten? Wie schön, dass es heute nicht selbstverständlich ist, etwas darüber wissen! Für Maria Mater war das anders, denn im letzten Kriegsjahr erlebt sie beides auf brutale Weise. Für einen Antrag auf Entschädigung verfasst sie später einen Bericht „Schilderung des Verfolgungsvorganges unter Angabe der Tatsachen, die zur Verfolgung geführt haben“: 12 handgeschriebene Seiten sind die Grundlage für 4 maschinenschriftliche, die nicht nur das Elend ihrer Zwangsarbeit dokumentieren, sondern auch die Gründe offenlegen, weshalb Tänzerinnen in geheimen Stollen, tief in der Erde, brandgefährliche Waffen zusammenschrauben mussten:
„Im Jahre 1943 bin ich in die Kammertanzgruppe der Landesmusikschule Hannover unter der Leitung von Frau Marianne Vogelsang (Roeder) verpflichtet worden. Da Hannover durch die damaligen Angriffe sehr zerstört wurde, wurden wir nach Salzderhelden, Kreis Einbeck, evakuiert. In Einbeck gaben wir dann am 13. Juli 1944 einen Tanzabend, zu dem unter anderem auch der Gauleiter von Hannover zugegen war. Da in unserem Programm auch Slawische Lieder und Gesänge vertanzt wurden, die der damaligen Auffassung nicht genehm waren, wurde dies von Herrn Lauterbacher als ‚Kulturbolschewismus‘ bezeichnet. Ein Tanz nach klassischer Musik, der eine betende Gebärde enthielt, wurde als ‚Zugeständnis zur katholischen Kirche‘ bezeichnet.“
„Beides wäre zu verwinden gewesen, wenn daraus nicht viel Schlimmeres entstanden wäre. Als 1944 alle kulturellen Institute zum Kriegseinsatz herangezogen wurden, hätte man uns gut in einer der Fabriken in und um Einbeck einsetzen oder mit Heimarbeit beauftragen können. Wir wurden aber durch unseren Tanzabend auf höheren Befehl in eine Munitionsanstalt unter Tage gesteckt.“ Munitionsanstalt: abgekürzt Muna – und WW steht für Waffenwerkstätte, womit die Kürzel vom Programmzettel geklärt wären.
Statt ihre 1938 bis 1941 in der Dresdner Schule von Mary Wigman erworbenen Fähigkeiten als Tänzerin unter Beweis zu stellen, findet sich die junge Maria Mater also plötzlich in Zwangsarbeit bei lebensbedrohlichen Einsätzen in den Bergwerken am Solling wieder. Ihr Vergehen war es, mit der Kammertanzgruppe um Marianne Vogelsang das "falsche" Programm präsentiert zu haben, so dass die komplette Truppe vom Tageslicht verschwindet und tief unter Tage für die Munitionsbeschaffung schuften muss. Was das im Einzelnen bedeutet hat, beschreibt Maria Mater schnörkellos in ihrer „Schilderung des Verfolgungsvorganges“:
Maria Mater lebt in einer Unterbringung „in Volpriehausen im Solling, wo die Muna lag, in engen Baracken zu 16 Personen mit Betten übereinander und einem Spind, in einem engen, kalten und schmutzigen Raum“. Die dortigen Arbeitsanforderungen gehen ständig über die Kräfte der Frauen hinaus: „Täglich mussten wir früh morgens mit einer Grubenlampe einfahren, 540 Meter tief lag die Sohle, in der wir arbeiteten. In den Wintermonaten sahen wir [...] kein Tageslicht mehr, und oft wurde auch Sonntags gearbeitet. Man sagte ‚freiwillig‘, […]. Draußen war es nun kalt und im Bergwerk warm und stickig, beim Einfahren tropfte einem oft Wasser auf den Kopf. Zusammengepfercht in einem Förderkorb ging es dann die 540 mtr. in etwa 2 Minuten nach unten, sodass die eine oder andere auch Nasenbluten oder Ohrensausen bekam.“ Nüchtern erläutert Maria Mater die Montagearbeiten in einer „Art Halle, in der ein ununterbrochener Lärm herrschte“. Vorträge eines Feuerwerkers über die Gefährlichkeit der Munition bereiten nur noch mehr Angst und Stress, denn für „die Arbeit an dieser hochempfindlichen Munition war die Gefahrenstufe 6 festgesetzt, die höchste, die es überhaupt gab. Danach kam nur noch das sog. ‘Himmelfahrtskommando‘. […] Die Unvorsichtigkeit eines einzigen konnte das ganze Bergwerk in die Luft gehen lassen.“ Die körperlichen, seelischen und psychischen Belastungen zehren extrem an den Gefangenen. Für jeden Einzelnen, der in die Arbeit der Muna gezwungen wurde, muss es unerträglich gewesen sein. Aber es fällt leicht, sich die besondere Verzweiflung einer jungen Tänzerin vorzustellen, die doch gerade erst alle Energien und Hoffnungen ins Engagement bei einer zu ihr passenden Tanzgruppe getragen hatte: „Für einen künstlerischen Menschen, eine Tänzerin, auch als Choreographin schöpferisch tätig, ist der Zwang, 4000 mal täglich den gleichen Handgriff an einer todbringenden Munition verrichten zu müssen, mehr als nervenzermürbend, ja er führt zu seelischen Schäden. Mehrfach drohten einige von uns mit allen Anzeichen körperlicher und seelischer Erschöpfung zu versagen, doch unerbittlich wurden sie in den fließbandartigen Rhythmus des Arbeitsvorganges gezwungen. Es gab auch keinen Krankheitsgrund, der entschuldigt hätte. […] Sehnenscheidenentzündungen, die am Anfang sehr oft vorkamen, wurden misstrauisch behandelt, da man immer Drückeberger vermutete. Ausreißer wurden von der Gestapo oder Polizei (ich weiß nicht, wer dafür zuständig war) zurückgeholt. […] In das Essen wurde ein Beruhigungsmittel gegeben, jede Flüssigkeit gelierte beim Erkalten. Die aufkommende Müdigkeit durch den Mangel an frischer Luft musste ständig überwunden werden. Weiterhin verschlimmert wurde der Aufenthalt unter Tage durch die jugendlichen Schwerverbrecher, die jeden Tag geschlossen aus Moringen gebracht wurden. [….] die gesamte Anlage [war] durch deren Sabotageakte ständig gefährdet. […] Das Schlimmste aber war, dass man nicht wusste, wie lange man das durchhalten musste. Wenn ich von Anfang an gewusst hätte: 5 Monate, dann hätte man sich darauf einstellen können und alles wäre leichter gewesen. Aber wir konnten kein Ende absehen, und das war sehr niederschmetternd. Verschiedene maßgebliche Leute haben auch versucht uns herauszuholen, aber es schlug immer wieder fehl (mit der Begründung, wir arbeiteten an einer geheimen Munition) ……“.
Pressemitteilungen hingegen beschreiben ein kleines Idyll und betonen die Einbindung der Tänzerinnen für die „Fertigung kriegswichtigen Materials“. Dass die Frauen dafür unter Tage und unter Zwang gearbeitet haben, wird mit keiner Silbe erwähnt.
Zwei schlussendlich doch noch zugestandene Urlaubstage zum Weihnachtsfest 1944 zwingen Maria Mater „mit völlig zugeschwollenen Augen ins Bett“ – aber sie ist in Sicherheit, im Haus ihrer Eltern. Auf ärztliche Anweisung muss sie wegen Augenentzündung und Diphterie daheim bleiben und endlich ist die Zwangsarbeit im Bergwerk vorbei: „am 1. Januar 1945 erhielt ich direkt einen Anruf, dass wir entlassen seien. Wir wurden dann zum Zelte nähen eingesetzt.“
Was für eine Erlösung nicht mehr unter Tage zu müssen, aber die schikanösen Umstände der Bergwerks-Arbeit belasten Maria Mater noch lange danach: „bei der Schlepperei dieser schweren Granaten habe ich mir wahrscheinlich meinen Unterleibsschaden geholt“ und nach der Entlassung leidet sie „unter einem depressiven Druck, der mich auch kaum glauben ließ, nun ständig wieder Tageslicht sehen zu dürfen.“
Verwunderlich ist der ganz oben abgebildete Programmzettel von den Vorweihnachtstagen 1944 schon, wenn man den Hintergrund kennt, vor dem Maria Mater und die anderen Tänzerinnen der Kammertanzgruppe Hannover diese Vorstellungen gestemmt haben. Sollten sie für ein bisschen gute Stimmung sorgen und gemeinsam mit den „3 Flacoris“, ein paar Gedichten und der Kapelle der Waffenwerkstätte den Alltag vergessen lassen? Wie konnte Maria Mater ihren Auftritt Der Nörgler und das Duo mit Friedel Drolinvaux – Tango Bolero – oder den Step mit Ingeborg Rohloff und Marianne Vogelsang vorbereiten? Sollte diese Vorstellung ein winziger Lichtblick sein bei der buchstäblichen Finsternis der Minengänge – für Darstellende und Publikum? War Maria Mater trotz ihres gesundheitlichen Zustandes überhaupt in der Lage dazu? Es ist fraglich, ob sie tatsächlich tanzen konnte, zumindest sind Ihre Programm-Beiträge handschriftlich gestrichen!
Auf jeden Fall führt die Planung der Weihnachts-Auftritte von 1944 zurück zu einem Leben für den Tanz. Tanz! - dafür hatte sich Maria Mater mit ihrem Eintritt in Mary Wigmans renommierte Schule entschieden. Sie gehört "zu der letzten Generation, die von Mary in Dresden noch voll ausgebildet wurde (1938-41)"[2] und entwickelt ihre tänzerischen Fähigkeiten in einem Umfeld, in dem sofort klar ist, dass es zu hundert Prozent um Tanz geht - im Zweifelsfalle eher um mehr.
Wigman selber lebt das vor: ihre Bühnenerfolge sprechen für sich, ihr Unterricht geht den angehenden Tänzerinnen und Tänzern in Kopf und Körper und wenn dafür noch Zeit bleibt, setzt sie sich in Gremien, mit Schriften und Vorträgen für die Belange des modernen Tanzes ein. Trotz dieses Pensums mobilisiert Wigman abends noch letzte Energien, um scheinbar mit der ganzen Tanz-Welt zu korrespondieren: mit Kollegen, Kritikern, Schülern oder Theaterleuten – aus dem Inland und dem Ausland, Europa und Übersee. Am 22. November 1944 schreibt Wigman einen Brief an Maria ins „Gemeinschaftslager Volpriehausen“ und berichtet, dass auch ihre letzte Schülergruppe ins Studentische Gemeinschaftslager "weit weg" musste. Wigman wünscht inniglich, dass Mater von der Arbeit unter Tage befreit werde. Zumindest enthält der Brief bei allem Kriegsgrauen ein paar Informationen über Freunde und Weggefährten aus der Schule.
Obwohl die Arbeit im Bergwerk einen harten Einschnitt in Maria Maters berufliche Entwicklung gerissen hat, steht sie schon ab Januar 1945 wieder als Ensemblemitglied der Kammertanzgruppe Hannover auf der Bühne.
Die Titel der Tanzabende reichen von Bunter Abend über Festliche Tänze nach alten Meistern am 25. Januar 1945 in Volpriehausen bis zu einer Verwundeten-Veranstaltung mit der handschriftlichen Notiz „Letzter Abend im Krieg“ in der Schauburg von Northeim[3]. Auf dem maschinenschriftlich abgefassten Programm vom 25. Januar 1945 sind die handschriftlichen Ergänzungen interessant. Beim Tippen haben sie dem Frieden wohl nicht so ganz getraut und die im Juli 1944 so verhängnisvollen, als „kulturbolschewistisch“ eingestuften Tänze nicht aufgenommen. Erst später wird der „II. Teil“ des Programms handschriftlich ergänzt um Slawischer Gesang und Tanz und Ungarischer Tanz.
Maria Mater hat Programmzettel der Tanzgruppe um Vogelsang aufbewahrt, die noch bis weit in den Sommer 1945 hineinreichen – manchmal nur handgeschrieben, oft nur behelfsmäßig in einer Gaststätte präsentiert – z.B. am 18. August im Goldenen Löwen in Einbeck. Diesen Abend für Englische Unteroffiziere teilen sich Vogelsangs Tänzerinnen mit Einlagen von Gesang und Schifferklavier. Allzu tiefgründig war das Programm mit Wiener Walzer, Rumba, Ungarischer Tanz, Tango und Blues wohl nicht. Aber es war ein Anfang und entspricht ziemlich genau dem Zuschnitt, in dem Tänzerinnen so schnell nach Kriegsende wieder auf die Bühnen finden konnten.
Professioneller wirkt da schon die Gestaltung der zweisprachig vorliegenden Programmzettel Frohe Laune bzw. Melody and Rhythm vom 28. und 29. September, für die das „Welt-Theater“ bespielt wird. Ganz so großartig wird dieses Theater wohl nicht gewesen sein, denn der englische Programmzettel kündigt schlicht das „Cinema Einbeck“ an. Statt „Marianne Vogelsang mit ihrer Tanzgruppe“ tritt in der englischen Version „Marianne Vogelsang with her girls. (modern dance.)“ auf.
Interessant ist der Zusatz „modern dance“, denn er zeigt, dass die moderne Ausrichtung wichtig genug ist, um explizit genannt zu werden. Das wird Maria Mater nur recht gewesen sein, weil hiermit ihre tänzerische Ausrichtung präzise verortet wird. Eine Ausbildung an Mary Wigmans berühmter Schule für modernen Tanz; erste Bühnenerfahrungen in der Kammertanzgruppe der konsequent modern arbeitenden Marianne Vogelsang – die Moderne im Tanz des 20. Jahrhunderts ist absolut vertraut für Maria Mater und tatsächlich interessiert sich eine weitere, herausragende, Protagonistin dieser Stilrichtung sehr für sie: Es ist Dore Hoyer, die Maria Mater für die Arbeit an einem neuen Gruppenprojekt gewinnen möchte.
Dore Hoyer kann mit Unterstützung des Dresdner Stadtrats seit dem Sommer 1945 in der ehemaligen Wigman-Schule ein Tanzstudio einrichten. Auf der Suche nach professionellen, modern ausgebildeten Tänzerinnen versucht sie, über Maria Maters Mutter den Kontakt zu Maria herzustellen. Sehr typisch für Dore Hoyer stellt sie gleich unmissverständlich klar, worum es geht, nämlich um intensive Arbeit mit der Fähigkeit, Solopartien auszufüllen – bei zu ihrem Leidwesen ungesicherter Honorierung. In ihrem Brief vom 23. Juni 1945 beschreibt Hoyer realistisch die begrenzten finanziellen Mittel ihres Dresdner Tanzstudios:
„Ich persönlich habe die Absicht, eine Kollektivgruppe aufzubauen mit vorwiegend anerkannten Solisten und 3–4 Gruppenleuten, die ebenfalls solistische Fähigkeiten haben müssen. Ich weiss, dass Maria ein zuverlässiges Mitglied einer Gemeinschaft ist, und könnte sie gut in meiner Kollektivgruppe brauchen. Ich möchte aber vorher betonen, dass die Honorierung bei mir geringer sein wird, als wenn Maria sich an einem Theater bewirbt. Wenn also Maria unbedingt auf Geldverdienen angewiesen ist, würde ich ihr raten, sich an einem Theater zu bewerben. …“
Allein ums Geldverdienen geht es Maria Mater nun wirklich nicht und so ist die prekäre Finanzlage kein Hinderungsgrund, sich Dore Hoyer anzuschließen. Damit beginnt eine intensive und vielfältige Arbeit, bei der Maria Mater auch ihre Eignung als Lehrkraft entdecken und entwickeln kann. Zunächst stehen jedoch die Choreographien des Zyklus Tänze für Käthe Kollwitz[4] im Mittelpunkt der Arbeit. Wie es Dore Hoyers Art entspricht und wie sie es von ihren Solo-Choreographien gewohnt ist, feilt sie unerbittlich und perfektionistisch an der Produktion. Als ein schwerer Knieunfall Dore Hoyer am 16. Dezember 1945 in einen riesigen Gipsverband zwingt, ändert sich die Produktions-Situation. Eigenständiger müssen sich die Tänzerinnen von nun an mit Hoyers Grundideen und Vorgaben auseinandersetzen. Improvisierend bieten die Tänzerinnen der Invaliden jetzt Bewegungsmaterial an, das Hoyer dann auswertet und zu den einzelnen Tänzen des Kollwitz-Zyklus formt.
Die Gruppe muss fest zusammenstehen in diesen schwierigen Zeiten. Nahrungsmittel sind knapp oder überhaupt nicht vorhanden, aber die dynamischen Passagen der Kollwitz-Tänze fordern vollen körperlichen Einsatz; Stoffe sind knapp oder überhaupt nicht vorhanden, so dass auch hier improvisiert werden muss, um doch noch zu passablen Kostümen zu kommen. Alles ist knapp oder überhaupt nicht vorhanden, aber die tänzerische Arbeit erfüllt die jungen Frauen zutiefst und bietet eine Perspektive im oft tristen Einerlei der unmittelbaren Nachkriegs-Wirklichkeit.
Im Dresdner Tanzstudio engagiert sich Maria Mater weit hinaus über den rein tänzerischen Einsatz für Hoyers Gruppe. In einem Brief von 1987 schreibt sie knapp: „Von 1946–48 war ich Lehrkraft bei Dore in Dresden (in den ehemaligen Räumen der Wigman-Schule) und mit ihr auf Tournee mit den Käthe Kollwitz Tänzen."[2]. Tatsächlich wird Maria Mater zur unabdingbaren Stütze des Schulbetriebs, denn Dore Hoyer weiß Marias pädagogisches Talent zu schätzen und vertraut ihr nach und nach immer mehr Schüler an. Hoyers exzessiver Einsatz kostet seinen Preis – zeitlich, kraft- und gesundheitsmäßig –, so dass sie dringend jemanden braucht, der im Notfall einspringen kann.
Die Notlage des Dresdner Tanzstudios spitzt sich immer weiter zu. Verzweifelt versucht Dore Hoyer am 4. Februar 1948 für Maria, die vor kurzem geheiratet hat und jetzt Trejtnar[5] heißt, eine „Lebensmittelkarte für Arbeiter“ zu beantragen. Dazu schildert sie sehr präzise deren "hochkünstlerischen" und unverzichtbaren Beitrag für die Schule, tritt energischst für ihre Lehrkraft ein. Überhaupt versucht Hoyer, Maria Maters pädagogischer Arbeit gerecht zu werden, muss aber ständig mit den finanziellen Möglichkeiten/Un-Möglichkeiten jonglieren. Als sie im Sommer endlich einmal etwas Geld zusammengekratzt hat, schreibt sie: „Liebe Maria! inliegend die Restzahlung für Unterrichtshonorar Juni. Damit bist Du am höchsten von allen honoriert. Bitte lass die Berliner Matineen mit inbegriffen sein. Die Schule steht sowieso sehr schlecht. …“.
Lange kann Dore Hoyer das Dresdner Tanzstudio nicht mehr halten: „1948 machte sie die Schule zu und ich ging als Ballettmeisterin nach Trier und engagierte nur moderne Tänzerinnen“[2].
Ein Zentrum der Moderne kann Maria Mater in Trier nicht etablieren und sie wird auch den Titel "Ballettmeisterin" nicht immer los, aber die Presse bescheinigt ihr: "Der Stolz des Trierer Theaters ist sein kleines, aber künstlerisch hochwertiges Ballett. Die Ballettmeisterin, Maria Mater, verkörpert hohe Dresdner Tanzschule. Hier übt sie mit Mitgliedern ihres Balletts auf einem Terrassendach über der Stadt - Idealismus hilft auch hier selbst die schwierigsten äußeren Verhältnisse in Kauf zu nehmen".
Im Tanz Prisma vom Februar 1951 lobt der Rezensent -g- den Trierer Solo-Tanzabend der „Tanzmeisterin“ Maria Mater, „ihre reife Kunst, Gesehenes und Gefühltes, durch die Musik vermittelt, auszudrücken. Dabei reagiert ihr feinnerviger Körper wie eine feine Membrane auf die leiseste Schwingung. Bemerkenswert ist die Vielfalt ihrer Verwandlungskraft ….“. Dank dieser Kritik kennen wir auch einige Tanz-Titel, die Maria Mater 1951 bei ihren Auftritten gezeigt hat: Suite alter Meister, Schwertlied, Wiegenlied, Gotische Figur, Feuertanz, Angst, Der Nörgler, Jugendfreude, Vor dem ersten Ball, Die Gärtnerin. Wenn sie dabei zur Musik von Aleida Montijn und Hanns Hasting tanzt, nutzt Maria Mater die Kompositionen der vertrauten Musiker aus ihrer Zeit bei Mary Wigman.
In Insider-Kreisen ist man schnell darüber informiert, wer den modernen Tanz wo und in welcher Funktion vertritt und so fragt Mary Wigman im April 1949 bei Maria Mater an, ob es nicht möglich sei, eine ihrer talentierten Schülerinnen fürs Trierer Ensemble zu verpflichten. Selbstverständlich hält Wigman Maria Mater auch über ihre eigenen Aktivitäten auf dem Laufenden und schildert ein paar Wochen später, am 20. Juli, ihren Umzug von Leipzig nach Berlin, wo sie im neu gegründeten "Mary Wigman Studio" – unter anderm mit Unterstützung von Marianne Vogelsang – eine neue Schule aufbaut.
In ihrem gesamten tänzerischen Arbeiten und Wirken hat Maria Mater sich als Vertreterin des modernen Tanzes verstanden und so überrascht es auch nicht, dass sich in ihrem Bestand Dokumente zu drei bedeutenden Vertreterinnen der Moderne deutschen Tanzes finden. Mary Wigman, Marianne Vogelsang und Dore Hoyer waren zentrale Wegbegleiterinnen von Maters künstlerischer Entwicklung und auch in späteren Jahren bleibt Maria Mater dem Kreis treu, der den Wurzeln der Ausdruckstanzes eng verbunden ist. Sie meldet sich sofort in der Mary Wigman-Gesellschaft an, als diese am 13. November 1986 aktiv wird, um das Erbe der Ausdruckstanzbewegung zu pflegen und als Anlaufstelle für Wigman-Schülerinnen und -Schüler zu fungieren.[7]
Die Dokumente einer Tänzerin – es ist immer etwas Besonderes, wenn man sich auf die verschiedenen Stationen einer Tänzerbiographie einlassen darf, den oft verschlungenen Wegen durch Stile, Techniken, Ausbildungs- und Karrierephasen folgt und dabei unterschiedlichen Persönlichkeiten der Tanzwelt begegnet. Im Fall von Maria Maters Bestand im Deutschen Tanzarchiv Köln gibt es leider kaum Fotos, die ihre Arbeit bezeugen und lebendig werden lassen. Vielmehr erdrücken die Dokumente zur Zwangsarbeit fast die Zeugnisse der tänzerischen Biographie. Man sollte meinen, dass Tanz und Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb unter Tage rein gar nichts miteinander zu tun haben und muss erschreckt feststellen, wie eng sie im Leben der jungen Maria Mater miteinander verwoben waren. Ein trauriges Beispiel dafür, dass Tanzgeschichte immer auch Zeitgeschichte ist.
Fußnoten
Dankenswerter Weise hat Hedwig Müller dem Deutschen Tanzarchiv Köln 2015 die Dokumente überlassen, die diesem Artikel zu Maria Mater-Andreas zu Grunde liegen. Vor allem ab 1950 werden die Informationen zu Maria Maters Arbeit immer lückenhafter. Das Deutsche Tanzarchiv Köln ist an weiteren Informationen sehr interessiert und freut sich über Hinweise auf Maria Maters Leben und Werk.
[1] Alle hier zitierten und angeführten Dokumente sind Teil des Bestandes 416, Maria Mater-Andreas im Deutschen Tanzarchiv Köln (im Folgenden DTK abgekürzt), wenn nichts anders vermerkt ist. Das Eingangs-Bild gehört nicht zum Bestand Nr. 416 sondern entstammt der Zeitschriften-Sammlung im DTK. Tanz Prisma, Deutsches und internationales Nachrichtenorgan, Februar 1951. S. 2. Ein Fotograf ist nicht angegeben, nur der Hinweis: "Foto: Privat". Rezension von -g-: "Tanzabend Maria Mater in Trier" auf S. 15f. Wie so häufig gibt es im DTK unterschiedliche Fundstellen, die über Leben und Werk einer Tänzerin Auskunft geben
[2] Brief von Maria Mater an Hedwig Müller vom 29.03.1987 mit kurzen Hinweisen auf besondere Stationen ihres Lebens.
[3] Die Programmzettel der Vorstellungen Bunter Abend (20. Januar 1945; DTK, Obj. 31734) und Verwundeten-Veranstaltung (27. März 1945 in Northeim; DTK, Obj. 31735) sind in der Programmzettelsammlung im DTK archiviert.
[4] Für detaillierte Informationen zur Arbeit im Dresdner Tanzstudio und zum Zyklus Tänze für Käthe Kollwitz siehe: Müller, Peter, Schuldt: „Dore Hoyer“. Berlin, 1992. S. 33–36 und S. 102–109.
[5] Der Name Trejtnar taucht auf den englisch-deutschen Programmzetteln aus Einbeck vom 28. und 29. September 1945 (s.o.) auf. Rudolf Trejtnar wird dort als Musiker für Akkordeon genannt.
[6] Zeitungsausschnitt aus der Dokumentationsabteilung im DTK, Trier 1950. [7] Anmeldekarte von Maria Mater für die Mitgliedschaft in der Mary Wigman-Gesellschaft (DTK, Bestand 65, Familienarchiv Mary Wigman, Obj. 35792). In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre lebt Maria Mater in Düsseldorf. Marianne Vogelsang weiß, dass Maria jetzt Mater-Andreas heißt und schickt ihr dorthin am 11. August 1957 eine Ansichtskarte mit herzlichen Grüßen. Am 17. Dezember 1966 erreichen Wigmans Dank für die Glückwünsche zum 80. Geburtstag und verbindliche Grüße Maria Mater in München.