„Wieviel Ausbildungsschüler sind es wohl, und wieviel mehr Laienschüler, die Jahr für Jahr ihre solide gymnastische Durchformung und Freude an den unerschöpflichen Bewegungsmöglichkeiten durch unsere verehrte und einzigartig begabte Nora Güldenstein-Siebert erfahren haben?“, fragte Annemarie Häberlin in der National-Zeitung Basel am 2. Januar 1964. Und machte mit dieser Einleitung deutlich, dass die Bedeutung der damals zu ihrem 60. Geburtstag Geehrten vor allem die einer ausgezeichneten Bewegungspädagogin war.

Nora Siebert wurde 1904 in Ratibor geboren, einer Stadt in Oberschlesien mit gut 32.000 Einwohnern. Von 1910 bis 1918 besuchte sie dort die Volksschule, danach die Handelsschule und war nach deren Abschluss in verschiedenen Büros tätig. Davon, dass dies ihre berufliche Lebensaufgabe und Bestimmung werden könnte, war sie jedoch noch nicht überzeugt. Sie hatte sich schon früh der Jugendbewegung bzw. dem "Wandervogel" angeschlossen und sang und tanzte in dessen Kreisen begeistert mit den anderen Jugendlichen. Auch nahm sie an Aufführungen von Märchen- und Mysterienspielen wie Der Tor und der Tod von Hugo von Hofmannsthal (am 9. November 1915) teil. Eine mögliche berufliche Perspektive hatte sich im Zusammenhang mit dieser Freizeitbeschäftigung jedoch bisher nicht aufgezeigt.


Als sie im Sommer 1922 von der Schule für Rhythmus, Musik und Körperbildung in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden hörte und dass dort eine Bürokraft gesucht wurde, bewarb sie sich und wurde angestellt. Ein Laienkurs reizte sie zur Teilnahme, und schon 1923 wurde sie auf Vorschlag der Tanzlehrerin Rosalia Chladek von Christine Baer-Frissell, der pädagogischen Leiterin, aufgrund ihrer Begabung als Berufsschülerin aufgenommen.

Karl Kriegshaber, Nora Siebert und Holt Kieslich im Hellerauer Luftbad Karl Kriegshaber, Nora Siebert und Holt Kieslich im Hellerauer Luftbad
Karl Kriegshaber, Nora Siebert und Holt Kieslich im Hellerauer Luftbad

Vormittags nahm sie am Unterricht teil und verdiente sich die Ausbildungskosten und den Lebensunterhalt durch die Bürotätigkeit am Nachmittag. Die Leiterin der Tanzausbildung, Valeria Kratina, ließ Nora Siebert in ihrer Tanzgruppe mittrainieren und erstmals in Der Mensch und seine Sehnsucht von Darius Milhaud auftreten.

Nachdem Wolf Dohrn verstarb, der Gründer und Mäzen von Hellerau, und die Schule 1925 nach Österreich auf das Schloss Laxenburg umzog, setzte Nora Siebert ihre Ausbildung dort fort und erhielt Tanzunterricht insbesondere bei Rosalia Chladek. Ihre Ausbildungsgruppe war die „Vorzeige-Klasse“, die mit den Lehrerinnen auf Tournee ging. 1926 legte Nora Siebert ihr Diplom für Körperbildung in Hellerau-Laxenburg ab und wurde sogleich am Institut als Gymnastiklehrerin angestellt. Sie unterrichtete unter anderem in Wien eine eigene „Herrenklasse“, die mit rhythmisch-gymnastischen Vorführungen unter ihrer Leitung die Arbeit der Schule Hellerau-Laxenburg öffentlich präsentierte (beispielsweise am 18. März 1927 in der Wiener Urania).

Gruppenstudien in Laxenburg Gruppenstudien in Laxenburg
Gruppenstudien in Laxenburg
Kleine Choreographien entstehen. Nora Siebert kniet rechts. Kleine Choreographien entstehen. Nora Siebert kniet rechts.
Kleine Choreographien entstehen. Nora Siebert kniet rechts.

Bei Valeria Kratinas Gastspiel 1927 im griechischen Theater in Syrakus wirkte Nora Siebert als Tänzerin mit (ebenso später bei der Wiederholung dieser Tournee 1933 unter der Leitung von Rosalia Chladek und bei Chladeks Tournee 1938 mit der Tanzgruppe Hellerau-Laxenburg im griechischen Tempel von Paestum).


"Iphigenie auf Tauris" in Syrakus, 1933. Foto © F. A. Maltese / Deutsches Tanzarchiv Köln

1927 zog Nora Siebert für zunächst ein Jahr nach Basel, um den Musikpädagogen Gustav Güldenstein bei seinen Rhythmik-Kursen am Konservatorium als Assistentin zu unterstützen. Güldenstein war Émile Jaques Dalcroze einst von Genf nach Hellerau gefolgt und zur Zeit von Nora Sieberts Ausbildung gleichzeitig als Schüler und Lehrer dort. Jetzt war er am Konservatorium in Basel angestellt. Er hatte die Laxenburger Schule immer wieder um eine Assistentin gebeten, und schließlich schickte Christine Baer-Frissell Nora Siebert nach Basel.


Rhythmik-Übungen am Konservatorium in Basel

Sie hielt dort Rhythmik-Kurse für Kinder und Erwachsene ab, später dann für Auszubildende der Rhythmik und Musik und für angehende Gymnastiklehrer. Als von 1928 bis 1930 Rosalia Chladek als Ballettmeisterin am Theater in Basel und zugleich als Lehrerin am Konservatorium tätig war, tanzte Nora Siebert bei ihr am Theater die weiblichen Hauptrollen wie die "Ballerina" in Petruschka oder einen japanischen Tanz mit der Chladek und leitete manchmal die Proben der Tanzgruppe. 1930 trat sie mit Chladeks Tanzgruppe beim Tänzerkongress in München auf, und 1930 wurde sie Chladeks Nachfolgerin am Theater Basel als Leiterin der Tanzgruppe.


Das Ergänzungsfach Gymnastik für die Rhythmik-Ausbildung der Studierenden war inzwischen zu einem selbständigen Fach geworden. „So wurden aus dem einen Jahr in Basel zwei und mehr und schließlich bin ich ja überhaupt hiergeblieben, und ich habe es nie bereut“, schrieb sie in ihren unveröffentlichten Memoiren. 1938 heirateten sie und Gustav Güldenstein.


Nora Güldenstein tanzt eine Improvisation

Bis 1967 blieb Nora Güldenstein am Konservatorium in Basel. „Sie wirkte in diesen 40 Jahren auf die vielfältigste Weise: als Gymnastiklehrerin der Ausbildungsklassen und Laiengruppen, der einige Zeit dem Konservatorium angeschlossenen Schauspielschule, der Musikstudenten des Konservatoriums; 1950–1966 war sie Gastlehrerin an der Eidgenössischen Turn- und Sportschule in Magglingen für das Spezialfach ‚Gymnastik‘ der Sportlehrer, 1959–1972 Lehrerin am kantonalen Lehrerseminar Basel für Gymnastik im Ausbildungskurs für Kindergärtnerinnen.“ Die Auflistung ihres pädagogischen Wirkens im Bereich der Bewegungsschulung ist damit keineswegs vollständig.


Nora Güldenstein-Siebert war, so kann man es in der Schweizer Zeitschrift Tanz und Gymnastik (Heft 1/1974) nachlesen,  „mit ihrer großartigen Begabung, ihrem umfassenden Können und ihrer menschlichen Ausgeglichenheit eine wunderbare Lehrerin.“