Von Patricia Stöckemann

Zu den herausragenden männlichen Repräsentanten des Ausdruckstanzes, die in dieser eher von Frauen dominierten Kunstform eine Minderheit darstellen, gehören Rudolf von Laban, Kurt Jooss, Sigurd Leeder, Hans (Jean) Weidt, Alexander Sacharoff, Alexander von Swaine und Harald Kreutzberg. Die drei Erstgenannten zeichnen sich vor allem durch ihre Errungenschaften und Neuerungen auf dem Gebiet der Ensemblechoreographie, der Tanztheorie und Tanzpädagogik aus. Die Namen Sacharoff, Kreutzberg und von Swaine stehen besonders für den männlichen Podiumstanz. Hans Weidt, dem Gruppenchoreographen und Bewegungschorregisseur, kommt als einzigem politisch aktivem Tänzer eine Sonderstellung zu.

Nach dem Krieg widmeten sich nur noch ganz wenige männliche Tänzer dem Podiumstanz in ausdruckstänzerischer Nachfolge. Zu einem der letzten Vertreter dieser Richtung gehört der gebürtige Schweizer Roger George. Seine Choreographien tragen noch das unverkennbare Idiom des Ausdruckstanzes. Den heute überwiegend klassisch und in zeitgenössischen Techniken geschulten Tänzern ist diese spezifische Diktion der Bewegung nicht mehr eigen. Sie ist einem von weniger Pathos und Emotion geformten Erscheinungsbild des Tänzers gewichen und hat einem sachlicheren, mehr instrumentalen Körperausdruck Platz gemacht. Roger George suchte schon als Jugendlicher nach männlichen


Foto Siegfried Enkelmann © VG Bild-Kunst, Bonn

Vorbildern im Tanz. Er fand sie in Alexander Sacharoff, Kurt Jooss und Harald Kreutzberg. Sie wurden zwar – von Jooss abgesehen – nicht seine Lehrer, aber seine ideellen Wegweiser. George begann seine Solotanzkarriere mit Kammertanzabenden, die er gemeinsam mit einer Partnerin bestritt, zunächst mit Änne Michel-Goldschmidt, dann mit Elsie Lanz und zuletzt mit Hilde Baumann. 1954 wagte er sich zum ersten Mal rein solistisch an die Öffentlichkeit.

Er zählte bald zu den "männlichen, ganz und gar nicht verspielten Typen der europäischen Tanzarena", wie es in Kritiken hieß. Ein Merkmal, das ihn von seinem Vorbild Sacharoff unterschied, dessen feminines Körperspiel zu seinem Signum gehörte. Die Assoziation von Tanz mit Weichheit oder Weiblichkeit traf auf Sacharoff, der seine Erfolge in den 1910er und 1920er Jahren feierte, als die Androgynität Leitbild einer ganzen Generation war, noch zu. Der Schriftsteller Hans Brandenburg beschrieb Sacharoff einmal als Erscheinung, die trotz durchgebildeter Muskulatur "nichts männlich Kräftiges, sondern eher etwas Weichliches hat". Im Falle Harald Kreutzberg verbietet sich eine derartige Zuordnung bereits. Feminines und Maskulines fließen bei ihm ineinander.

Roger George ist vielfach mit Kreutzberg verglichen worden. Doch seltener, um ihre Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, als vielmehr um die eklatanten Unterschiede ihrer Kunst und ihrer Persönlichkeit herauszustreichen. Kreutzbergs Themen kreisen um das "Ewig-Menschliche" in Form symbolischer Gestalten und lassen den Bezug zu einem übergeordneten Zusammenhang, zum Metaphysischen spürbar werden. In ihrer theatralischen Absicht betonen sie insbesondere die dramatischen Momente.

Das Gegengewicht dazu bilden zahlreiche Tänze Kreutzbergs, in denen spielerische Heiterkeit, Leichtigkeit und feinsinniger Humor den Tenor bestimmen. Roger Georges Tänze hingegen zeichnen sich durch eine Akzentuierung der realistischen Sichtweise aus. Sie nehmen auf reale und historische Situationen Bezug, das "Allgemein-Menschliche" ist gesellschaftlich umschrieben, auch dann, wenn das soziale und zeitkritische Engagement auf humoristisch-parodierende Weise eine tänzerische Umsetzung findet. Charakterzeichnungen historischer Figuren, karikierende Bewegungsdarstellungen von Gestalten aus dem täglichen Leben gehören neben Situationsschilderungen diesem Themenbereich an.


Foto Siegfried Enkelmann © VG Bild-Kunst, Bonn

Abstrakte Bewegungsstudien, rein musikalisch inspirierte Gestaltungen und sich ins Artistische steigernde Stücke, die an Clownerien erinnern, bilden einen Kontrapunkt zu den realistischen Inhalten seiner Tänze. Nahezu alle seine Choreographien hat George, wie auch Kreutzberg, jahre- und jahrzehntelang in seinem Repertoire behalten, aber nie ohne an ihnen weiter gearbeitet, gefeilt und sie auf den Kern der Aussage verdichtet zu haben.

Die Nachkriegszeit, in der die Tänzerkarriere von George begann, wird wiederholt zum Auslöser seiner choreographischen Gestaltungen. In Form kleiner Zyklen setzt er sich mit der Situation nach 1945 auseinander, die von totaler Verwüstung durch den Krieg gekennzeichnet war. Seine Allegorien und sein Unvergessenes Tagebuch breiten in beklemmenden Bildern Krieg, Terror und zerstörerische Gewalt kaleidoskopartig aus. Das Requiem für einen zerbombten Schwertengel zur Musik von Bach bildet den letzten Teil der Allegorien. Es gehört zu den eindrucksvollsten zeitkritischen Stücken Roger Georges. Mit abrupten, gebrochenen Gebärden beschwört er darin das Bild der Nachkriegszeit herauf: Aus Schutt und Asche ragt ein steinerner Arm und Fuß empor. Eine zerstörte Grabstatue versucht zum verstimmten Klang der Orgel ihre ursprüngliche Stellung wieder einzunehmen.

Stalag, aus dem Zyklus Unvergessenes Tagebuch zur Musik von Daniel Lazarus konfrontiert den Zuschauer mit der menschenverachtenden Situation in den KZs. Kommandos der Lageraufseher, in einer stramm aufrechten Haltung bewegungsmäßig dargestellt, nötigen den physisch und seelisch immer schwächer werdenden Häftling zu ununterbrochener Arbeit. Momente der Hoffnung, durch Reminiszenzen an ein Mädchen, die Kindheit, die Heimat, die Freiheit ausgelöst, macht ein Peitschenhieb schlagartig wieder zunichte.

"Stalag", 1954
Foto © Deutsches Tanzarchiv Köln

Zu den kritischen, heiter-humoristischen und eine Situation parodierenden Tänzen zählt die Persiflage Jeeps. Mit steptanzartigen Fußbewegungen, labilen, kippenden Pirouetten oder hüftschwenkenden Rotationen bei kaugummiverzerrtem Gesicht gebärdet sich der in einem Jeep daherrollende Amerikaner über alle Probleme erhaben. Zu einem der ersten Stücke Roger Georges gehört Minstrels zu Musik von Debussy, eine komödiantische Tirade, die den mittelalterlichen fahrenden Spielmann und Gaukler in akrobatischer Manier lebendig werden lässt.

Roger Georges ausgeprägte Musikalität schlägt sich vor allem in seinen allein aus der Musik inspirierten Tänzen nieder. Aus dem Mikrokosmos von Béla Bartók wählt er zwei Stücke in bulgarischen Rhythmen, für die er eine abstrakte auf die musikalische Struktur abgestimmte Bewegungsform entwickelt. Fußrhythmen, auf verschiedenen Raumwegen vollzogen, alternieren hier mit einem isolierten Spiel der Hände. Seine Freude an der reinen Bewegung zeigt sich in abstrakten Tänzen, die Bewegungsstudien oder Etüden gleichkommen und in denen die Fülle der Möglichkeiten körperlicher Motionen, Gebärden und Gesten studiert und zu einer Komposition verdichtet werden. Diese Art von Tänzen tragen entsprechend schlichte Titel wie Hände oder Füße und können als korrespondierende Gestaltungen zu den rein musikalischen angesehen werden.

"Jeeps", 1963
Foto © Deutsches Tanzarchiv Köln

Ein besonderer Reiz lag für George in der Bewegungszeichnung von Figuren. In seinem Zyklus Aus einem Marionettenspiel zu Musik von Mozart stellt er im Habitus agierender Marionetten den studierenden Doctor Faustus, dessen stief-staksigen Famulus Wagner, den schnellen Geist Mephistopheles und Hanswurst als futternden Diener dar. In seiner Jugend hatte sich George selbst als Marionettenspieler betätigt und kannte aus eigener Erfahrung die Funktionsart dieser durch Drähte zum Leben erweckten Puppen.

Der Eigenheit anderer Wesen spürte er auch in seinem Zyklus Zoologische Rätsel nach, in dem er die Wesensart von sieben verschiedenen Tieren durch Überzeichnung ins Menschliche Spiegelt. Als anthropomorphisierte Gestalten treten Löwe, Bock, Vogel, Elefant, Schlange, Pavian und Schwan in karikierter Pose auf. Der Schwan als eine Art Schwanengesang zur entsprechenden Musik aus dem Karneval der Tiere von Saint Saëns umgesetzt, wirkt mit seinen flügelschlagenden, allmählich erlahmenden und ins Wasser sinkenden Todesbewegungen wie eine Persiflage auf den Sterbenden Schwan der Anna Pawlowa.

Lübecker Totentanz in der Choreographie von Lola Rogge in der Marienkirche: Der Tod (Roger George) holt den Papst (Helmut Heckelmann).
Foto © du Vinage / Deutsches Tanzarchiv Köln

Die hier erwähnten Tänze sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der tänzerischen und choreographischen Arbeit von Roger George. Einen ganz eigenen Komplex bilden die Rollen, die er als Solist an verschiedenen deutschen Theatern gestaltete. Als George 1983 seine Tänzerkarriere beendete, widmete er sich vor allem seiner bereits 1970 begonnenen pädagogischen Tätigkeit. Heute setzt er sich außerdem dafür ein, seine Choreographien mit jungen Tänzern einzustudieren und die Tänze von Kreutzberg zu rekonstruieren, die ihm selbst noch gegenwärtig sind und die er auf Grund seines phänomenalen Gedächtnisses und seiner Musikalität imstande ist, zu memorieren.

Erstveröffentlicht in Tanzdrama. Magazin. H. 16, 3. Quartal 1991, S. 12–15. Roger George verstarb 1998.