Daisy Spies hat ihren Nachlass mit allen Dokumenten zu ihrer tanzkünstlerischen Laufbahn testamentarisch dem Deutschen Tanzarchiv Köln vermacht. Bevor die Testamentsvollstreckerin ihn in der Wohnung übernehmen und dem Tanzarchiv aushändigen konnte, holte ein anderer Familienangehöriger alle Dokumente aus der Wohnung, um sich vorab Fotokopien zu machen. Im Laufe der Jahre hat er bisher nur einen Teil des ihm nicht gehörenden Bestandes an Originalen dem Tanzarchiv ausgehändigt.
Daisy Spies
Unhöflich, wer das Alter der Damen verrät! Und doch: Zum 90. Geburtstag und bei einem so prominenten Namen darf nicht länger geschwiegen werden. Daisy Spies wurde am 20.12.1905 in Moskau geboren, übrigens als Schwester des Komponisten Leo Spies und des in Bali verehrten Malers Walter Spies. 1915 kam sie nach Deutschland, über Dresden und einen zweimonatigen Aufenthalt mit der Familie in Hellerau (1919) nach Berlin. Oskar Kokoschka malt und zeichnete sie 1921. Im gleichen Jahr wurde sie Tanzschülerin von Toni Freeden (von der man heute leider kaum mehr als einen von ihrem Mann Rudolf Belling geschaffenen abstrakten Bronzekopf kennt). Ausgebildet wurde sie ferner u.a. bei Iril Gadeskow, Berthe Trümpy, Ellen Tels und Julian Algo, später trainierte – und tanzte – sie bei Victor Gsovsky. Sie debütierte 1922 als Elfe in Max Reinhardts "Sommernachtstraum" und kam im gleichen Jahr ans Königgraetzer Theater.
Max Terpis engagierte sie 1924 an die Berliner Staatsoper, wo sie etwa als Partnerin von Harald Kreutzberg (anfangs noch ohne sein späteres Markenzeichen, den rasierten Kahlkopf) in Balletten und Opern tanzte. Als wichtigste Auftritte dieser Zeit sind die Aufführungen vom Geburtstag der Infantin (Schreker), Geschichte vom Soldaten und Pulcinella (Strawinsky) und Die Liebe zu den drei Orangen (Prokofjew) zu nennen, als Solistinnen neben ihr Elisabeth Grube, Dorothea Albu und Eugenia Nikolajewa. Kennzeichnend ist auch ihre Vielseitigkeit. Auf einer "Krollredoute" trat Daisy Spies beispielsweise mit Kreutzberg und der Puppenbildnerin Lotte Pritzel in von dieser entworfenen Kostümen auf. Und 1926 nahm sie für Oskar Schlemmer im "Triadischen Ballett" in dessen schönen, aber schwergewichtigen Kostümen an den Donaueschinger Musikfestspielen teil.
Seit 1928 war ihr Bruder Leo als Ballettkapellmeister an die Staatsoper Unter den Linden verpflichtet. Nach der Kündigung aller Solisten durch Laban im Zuge großer Etatkürzungen entstand 1931 die legendäre Tourneegruppe "Die 6 von der Staatsoper" mit u.a. Rudolf Kölling, Jens Keith, Rolf Arco und später Werner Stammer. Daisy Spies kann allein hier auf 625 erfolgreiche Auftritte in acht Ländern zurückblicken. Als die Truppe 1933 ihren Namen aufgeben sollte und auseinanderbrach, wurde Kölling als Solist von Lizzie Maudrik an die Charlottenburger Oper geholt. Daisy Spies dagegen ging mit Victor Gsovsky und seinem "Gamajun-Ballett" auf Tournee.
Die Maudrik wurde 1934 Nachfolgerin von Laban an der Staatsoper, Kölling ihr Nachfolger als Ballettmeister am Deutschen Opernhaus und Daisy Spies dort Erste Solotänzerin, umgeben von anderen Solisten der "6 von der Staatsoper", und später Meistertänzerin und Stellvertretende Ballettmeisterin. Zu den bekanntesten Aufführungen des Jahres zählten die Ajanta Fresken (mit Rolf Arco).
1935 holte Kölling, mit dem Daisy Spies von 1940 bis 1953 verheiratet war, ihren Bruder Leo Spies an die Charlottenburger Oper. Eine Periode überaus erfolgreicher Zusammenarbeit der drei begann. Werke von Leo Spies wie Apollo und Daphne (mit Werner Stammer) und insbesondere der Stralauer Fischzug, zu dem Daisy Spies das Libretto verfasste, fallen in diese Jahre, aber auch diverse Arrangements von Spies wie für Kampf um Helena nach Gluck (mit Kurt Lenz). Weitere Solisten waren zu dieser Zeit etwa Jockel Stahl und Liselotte Köster, Jens Keith, Lisel Spalinger, Ursula Deinert und die Höpfner-Zwillinge. Daisy Spies trat in jenen Jahren auch wieder mit dem Gsovsky-Ballett auf, beispielsweise im Märchen Das Mädchen mit den Zündhölzern, und unternahm als Konzerttänzerin ferner Gastspieltourneen, 1943 sogar mit einer eigenen Kammertanzgruppe. Sie hatte im Februat 1945 im Renaissance-Theater ihren letzten Soloabend, veranstaltete mit Leo Spies und Rudolf Kölling im Juni 1945 den ersten Nachkriegs-Ballettabend in Berlin und war nach kurzem Weimarer Intermezzo (1946) freischaffend tätig.
Von 1951–55 kehrte Daisy Spies als Ballett-Chefin an die Deutsche Staatsoper Berlin zurück und choreographierte dort u.a. La Valse (Ravel), Aschenbrödel (Prokofjew), Apollo und Daphne (Leo Spies), Das Recht des Herrn (Uraufführung, V. Bruns) und Der bekehrte Spießer (Kabalewsky).
In diese Zeit fiel auch die berühmte Diskussion um den Realismus im Tanz. Daisy Spies bewies hier in einem von Sachlichkeit, Fachkenntnis und Vernunft geprägten Artikel ihre Fähigkeiten als Autorin. Da die Intendanz der Staatsoper nachweislich die westlichen Mitglieder aus ihren Positionen drängte, ist es nicht verwunderlich, dass sich Daisy Spies von der Ballettleitung zurückzog. Ihre Nachfolgerin (1955 bis 1970) wurde Lilo Gruber, die in der Realismusdebatte geschrieben hatte: "Frau Daisy Spies zeigt die Schwierigkeiten, die uns Tanzschaffenden hinlänglich bekann sind, schon zum Teil auf. Wesentlicher ist uns aber, welche anderen Voraussetzungen noch vorhanden sein müssen, um zum sozialistischen Inhalt und zur nationalen Form kommen zu können. Es muß deshalb die Aufgabe der Tanzschulen und der Ballettmeister sein, nicht nur den klassischen und modernen Tanz, sondern, neben diesem notwendigen technischen Rüstzeug, ein gründliches Studium des Marxismus-Leninismus und der Lehren Stalins zu vermitteln. Außerdem müssen sie es verstehen, die Scheu vor dem deutschen Volkstanz überwinden zu helfen, der auch meiner Meinung nach eine wesentliche Hilfe ist, das Ballett seiner Stagnation zu entreißen und es zu befruchten." (Weltbühne, 18.2.1953). Mit dem, was Daisy Spies seit 1924 an der Staatsoper erlebt hatte, wird dies nicht mehr viel gemein gehabt haben.
Bis 1959 wirkte Daisy Spies dann als Ballettmeisterin am Hamburger Operettenhaus und 1959 bis 1961 als Ballett-Chefin in Linz, und von 1962 bis 1965 leitete sie die klassische Ballettausbildung an der Mary-Wigman-Schule in Berlin. – Ganz herzliche Glückwünsche zum Geburtstag!
Frank-Manuel Peter
(erstveröffentlicht in Ballett intern, Nr. 3/ Dezember 1995, S. 34f.)
1905 am 20. Dezember in Moskau als Kind einer deutschen Kaufmannsfamilie geboren, bürgerlicher Vorname: Margarete; von ihren Brüdern wird Leo später Komponist, Walter Maler und Musiker mit Wohnsitz auf Bali. Bis 1915 lebt die Familie in Moskau; dort bis zum 11. Lebensjahr Privatunterricht.
1915 Übersiedlung der Familie über Dresden nach Berlin. Daisy Spies besucht bis 1921 das Lyzeum.
1919 zweimonatiger Aufenthalt mit der Familie in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden.
1921 Oskar Kokoschka malt und zeichnet Daisy Spies. Schülerin in künstlerischem Tanz bei Toni Freeden, der Gattin des Bildhauers Rudolf Belling, die sie durch ihren Bruder Walter kennenlernt (er begleitet sie am Klavier). Erste Auftritte in Schulaufführungen, u.a. ein Tanz in Blau.
1922 Auftritt als Elfe im Sommernachtstraum von Max Reinhardt in Berlin im Großen Schauspielhaus (Improvisation).
1922 Heimlich, gegen den Willen der Mutter, tritt sie in Tanzdarbietungen auf Bällen und Kostümfesten mit dem Bruder Walter auf. – Unterricht bei Julian Algo, der sie zum Vortanzen zu Max Terpis an die Berliner Staatsoper schickt. Außerdem hat Daisy Spies Unterricht bei Iril Gadeskow, Ellen Tels, später Privatunterricht bei Berthe Trümpy, Ballett bei Victor Gsovsky.
1924 Engagement an die Berliner Staatsoper unter Max Terpis. – Wichtigste Auftritte: Geburtstag der Infantin von Schreker (Pas de deux mit Harald Kreutzberg) und als Fledermaus in einem Spitzentanz in Kostümen und unter der Mitwirkung der berühmten Puppenkünstlerin Lotte Pritzel auf einer „Kroll-Redoute“ (Harald Kreutzberg als „Affe“, weitere Tänzerin in Tierkostümen). – Daisy Spies „tingelt“ mit den Kollegen, u.a. Rudolf Kölling.
1924/25 Tournee als Partnerin von Max Terpis: Schweiz, Rheinland, Hannover.
1925 Juni: Geschichte vom Soldaten / Pulcinella (Strawinsky) mit Gilbert Bauer unter Kleiber; Die Liebe zu den drei Orangen (Prokofjew); Opernaufgaben. – Wichtigste Solistinnen neben ihr: Elisabeth Grube, Dorothea Albu (beide Charakterfach), Eugenia Nikolajewa.
1926 25. Juli: Donaueschinger Musikfestspiele (berühmte Sommerfestspiele Neuer deutscher Tonkunst): Das Triadische Ballett von Oskar Schlemmer, Albert Burger und Elsa Hötzel unter Scherchen (mit Karl Heining und Carl von Hacht), Musik für große mechanische Orgel von Paul Hindemith.
1928 Bruder Leo Spies wird als Ballettkapellmeister aus Rostock an die Staatsoper engagiert (bleibt bis 1935). Daisy Spies tanzt u.a. ein von ihrem Bruder notiertes Baschkirisches Lied, einen Tango in Rot und ein Verlassenes Mädchen zu Musik von Janáček.
1930/31 Rudolf von Laban übernimmt die Ballettleitung als Nachfolger von Terpis an der Berliner Staatsoper und kündigt zum Ende der Spielzeit die meisten Solisten; gleichzeitig große Etatkürzungen des Intendanten Tietjen wegen der allgemeinen Rezession. – Unter Laban: Polowetzer Tänze, Okt. 1930; Aschenputtel-Projekt nach Musik von Johann Strauß mit Daisy Spies als Aschenputtel (kam nicht mehr zur Ausführung wegen der Entlassungen); Tanz der Instrumente von Alexander Tansman.
1931 September: Die gekündigten Solisten bilden eine eigene Truppe: „Die 6 von der Staatsoper“; Engagement zunächst im „Wintergarten“, später Tourneen durch Deutschland und in viele europäische Städte (u.a. London, Paris, Kopenhagen), mit großem Erfolg und großer Presse (bis November 1932 in 8 Ländern, 45 Städten, insgesamt 625 Auftritte). Neben Daisy Spies wirken mit: Elisabeth Grube, Isabella Bruck, Rudolf Kölling, Jens Keith, Rolf Arco, später Werner Stammer. Großer Erfolg u.a. mit einem Maschinentanz Mensch und Maschine zur Musik von Leo Spies. In dieser Zeit Einspringen „von früh auf abends“ in einem Pas de deux bei Lizzie Maudrik in der Deutschen Oper, Berlin-Charlottenburg, und hierbei „Entdeckung“ durch deren Trainingsleiter Victor Gsovky.
1933 Tournee durch Amerika. Die Streichung der Bezeichnung „Staatsoper“ aus dem Namen wird verlangt, die Truppe bricht auseinander. Rudolf Kölling wird von Lizzie Maudrik als Solotänzer an die Deutsche Oper Berlin verpflichtet.
1933/34 Daisy Spies geht mit dem „Gamajun-Ballett“ von Victor Gsovsky als 1. Solistin auf Tournee, in welchem seine Frau Tatjana Gsovsky für die Kindergruppe und die Kostüme verantwortlich ist (u.a. Hamburg, Düsseldorf, Brüssel, Rom).
Oktober: An der Staatsoper wird das alte Aschenputtel-Projekt aufgegriffen und auf Wunsch der Leitung zu einem Dornröschen-Ballett gewandelt (Musik: Johann Strauß), noch unter Labans choreographischer Leitung; Daisy Spies war wohl erneut für die Titelpartie vorgesehen, wirkte aber schließlich doch nicht mit.
1934 Laban verlässt die Ballettdirektion der Staatsoper und Berlin, und Lizzie Maudrik wechselt auf seinen Posten an die Staatsoper. Daraufhin wird Rudolf Kölling zum Ballettmeister des Deutschen Opernhauses berufen; er holt die wichtigsten Solisten der „6 von der Staatsoper“ nach. Daisy Spies wird Prima Ballerina. Wichtige Ballette: Die Ajanta Fresken von Alexander Tscherepnin (Solo u.a. mit Rolf Arco); Nußknacker von Tschaikowsky (mit Werner Stammer als Prinz); Jahreszeiten des Lebens nach Schubert.
1935 Kölling holt Leo Spies an das Deutsche Opernhaus Berlin.
1936 u.a. Apollo und Daphne von Kölling zur Musik von Leo Spies (mit Werner Stammer).
1936/37 choreographiert Rudolf Kölling mit Daisy Spies in der Titelrolle Der Stralauer Fischzug von Leo Spies, Libretto von Daisy Spies (großer Erfolg zur Olympiade 1936 und zum Berliner Stadtjubiläum 1937), Tanz um die Welt, Potpourri (Arr. Leo Spies).
1938 Dreharbeiten zu dem Film Tanz auf dem Vulkan mit Daisy Spies, Hauptrolle: Gustaf Gründgens, Regie: Hans Steinhoff.
1939 u.a. Kampf um Helena, nach Gluck (Arr. Leo Spies), mit Kurt Lenz als Paris; Die Puppenfee (Mus. J. Bayer).
1940 u.a. Ein bunter Strauß, nach Johann Strauß (Arr. Leo Spies); im Dezember mit dem Gsovsky-Ballett im „Wintergarten“: Mädchen mit den Zündhölzern.
1940-53 mit Rudolf Kölling verheiratet.
1942 Die Sonne lacht, von Leo Spies (mit überragendem Erfolg bis zur Schließung des Hauses 1944 gespielt).
1943 eigene Kammertanzgruppe
1944 Die Oper wird geschlossen und die meisten Ballett-Solisten müssen bei Siemens Kriegsersatzdienst leisten. Wichtigste Solisten der Zeit am Deutschen Opernhaus: Kurt Lenz (stellv. Ballettmeister), Willy Schulte-Vogelheim, Jockel Stahl, Liselotte Köster, Jens Keith, Lisl Spalinger, Ursula Deinert, Margot und Hedi Höpfner.
1945 Februar: letzter Soloabend im Renaissance-Theater, u.a. mit Empörung (zur Revolutions-Etüde von Chopin). 15. Juni: zusammen mit Kölling und Leo Spies erster Nachkriegs-Ballettabend in Berlin.
1946 am Theater in Weimar; danach freischaffend.
1951–55 Ballett-Chefin der Deutschen Staatsoper Berlin. Choreographien u.a. La Valse (Ravel, 1951), Aschenbrödel (Prokofjew, 1952), Apollo und Daphne (L. Spies), Das Recht des Herrn (UA 1953, V. Bruns) und Der bekehrte Spießer (Kabalewsky, 1953).
1956–59 Ballettmeisterin am Hamburger Operettenhaus.
1959–61 Ballett-Chefin in Linz.
1962–65 Leitung der klassischen Ballettausbildung an der Mary-Wigman-Schule in Berlin.
1965 Rückzug aus ihrem aktiven Tänzerinnleben. Seitdem lebte Daisy Spies in Berlin.
(2000 Am 4. Dezember stirbt Daisy Spies in Berlin. Ihren tanzbezüglichen Nachlass vermacht sie dem Deutschen Tanzarchiv Köln).
Der Lebenslauf wurde von Frank-Manuel Peter in Zusammenarbeit mit David Sandberg erstellt.
Erstveröffentlicht in: Tanzdrama. Magazin. H. 31 vom Dezember 1995, S. 23–25.
Foto © Marta Astfalck-Vietz / Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto Siegfried Enkelmann © VG Bild-Kunst, Bonn
Foto © Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto © Hans Robertson / Deutsches Tanzarchiv Köln
Foto © v. Gudenberg / Deutsches Tanzarchiv Köln