Von Volkmar Draeger
Ingeborg Schiffner, geboren 1924 nahe Zittau, gehört einer unglücklichen Generation an. Als sie Ostern 1940 ihre Prüfung zur Tänzerin abschließt, nach kurzem Studium an der klassisch orientierten Eduardowa-Schule in Berlin, kompletter Ausbildung dann bei Mary Wigman in Dresden und Leipzig, erhält sie zwar ein Erstengagement in Reichenbach. Bald danach aber wird der „totale Krieg“ ausgerufen. Alle Theater schließen, gleich anderen Künstler wird Inge zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie verpflichtet. Nach dem Ende der Nazi-Barbarei hilft sie beim Wiederaufbau des Theaters Zittau, wird noch 1945 von Henn Haas an das „Theater des Tanzes“ Weimar-Erfurt, die erste unabhängige Tanzcompagnie im Nachkriegsdeutschland, engagiert, gründet dann ihre eigene Truppe: die Kammertanzspiele Erfurt. Inge tanzt bei der Premiere 1948 des einzigen Programms dieser finanziell aussichtslosen Unternehmung im Stil Wigmans, wird von der Presse als „bei weitem stärkste künstlerische Potenz“ der kleinen Gruppe herausgestellt.
Dann gelingt ihr in wirtschaftlich und politisch unsteter Zeit der Sprung nach Berlin: Jean Weidt holt sie als Solotänzerin in sein frisch formiertes Dramatisches Ballett der Volksbühne.
Der Freude über den „Riesenbetrieb“, wie sie ihn beschreibt, folgt bald die Ernüchterung. Weidt und seine Arbeit liegen ihr nicht, sie geht, tingelt im Unterhaltungsbetrieb, unterrichtet, was ihr als besondere Begabung bereits Mary Wigman attestiert hatte, wird Vize-Ballettmeisterin am Nationaltheater Weimar, wendet sich wieder nach Berlin. Denn in die Räume des Dramatischen Balletts ziehen neuer Wind und ein neues Ensemble ein, das von der Schweizer Choreografin und Pädagogin Aenne Goldschmidt geleitete „Tanzensemble der Volksbühne“, das sich später zum Staatlichen Tanzensemble der DDR entwickeln wird.
Inge wird auch dort nicht froh, bis sie 1952 das entscheidende Angebot erhält: Sie soll die Tanzgruppe beim „Erich-Weinert-Ensemble“ der Kasernierten Volkspolizei übernehmen, erweitern und künstlerisch aufbauen. In einer wahren Herkulestat formt sie aus jungen Amateurmädchen und orientierungslosen, teils kriegsverwahrlosten jungen Männern ein potentes Ensemble, in Personalunion als Pädagogin, Choreografin und Leiterin, und führt es bei internationalen Tourneen, so in die Sowjetunion, wo Folklore-Zar Igor Moissejew sie beglückwünscht, und nach China, zu hoher Anerkennung. Obwohl sie keine prononciert militärischen Stücke entwirft, eher zwischenmenschliche Themen mit komödiantischem Elan aufgreift, erhält sie für ihre Leistung Staatspreise.
Als sich im Rahmen der Realismusdebatte in der DDR die Forderung nach armeetypischen Soldatentänzen zuspitzt, verlässt sie das bereits in „Erich-Weinert-Ensemble der Nationalen Volksarmee“ umbenannte Mehrspartenkollektiv und tritt die Ballettdirektion am Hans Otto Theater Potsdam an – 13 Tage vor dem Mauerbau. Wieder ein Unglücksfall in Inges Leben, denn die tägliche Fahrt von Berlin nach Potsdam wird ein schieres Abenteuer. Und wieder kommt ihr der Zufall zu Hilfe. Denn ab September 1963 wird sie „Lehrkraft für künstlerischen Tanz und Abteilungsleiterin für Tanz“ an der Musikschule Berlin-Mitte, der einzigen Ostberliner Musikschule mit Ballettausbildung. Dort bleibt sie bis zu ihrer Pensionierung, unterrichtet hingebungsvoll ihre kleinen Eleven, eröffnet vielen den Weg in die Profiausbildung etwa an der Staatlichen Ballettschule Berlin, gibt den anderen prägende Maximen mit: Disziplin, Durchhaltevermögen, Einsatzfreude. An der Musikschule hat sie nach einem Weg reich an Wirrungen endlich ihre Berufung gefunden, als begnadete Pädagogin, die sich zudem im Amateurschaffen des Landes stark engagiert, namentlich für den zunächst verfemten, dann geförderten Jazzdance. Auch das trägt ihr mehrfach staatliche Preise ein.
Von der Weimarer Republik über Nazi-Diktatur und DDR bis zur neuen Bundesrepublik reicht ihr Leben. Als sie nach langer Krankheit 2012 stirbt, erleidet sie das Schicksal Vieler, deren wesentlicher Wirkungskreis das andere, kleinere Deutschland war: In der vergrößerten Republik kennt man sie nicht. All jenen, denen sie mit allgemeinpädagogischer Verantwortung, tänzerischem Können und menschlicher Zuwendung Maßstäbe in die Zukunft mitgegeben hat, bleibt sie unvergessen.
Anmerkung: Ihr Nachlass im Deutschen Tanzarchiv Köln ist z.Z. noch nicht erschlossen.
Volkmar Draeger: Durch, durch, durch!: Ingeborg Schiffner – Tänzerin, Pädagogin, Choreografin. Berlin: Autumnus Verlag 2014 240 S., 14,90 Euro (im Buchhandel) ISBN-10: 3944382064 ISBN-13: 978-3944382067