Il y a des légendes sur moi...
Sahary Djélis exotische Anziehungskraft und der kulturelle Synkretismus der Belle Époque füllte Anfang des 20.Jahrhunderts die Säle der Varietétheater von Paris über London bis in die Vereinigten Staaten. Trotz ihrer behaupteten indischen Herkunft und den von ihr inszenierten Legenden um ihre Geburt, offenbart Djélis Passdokument eine ganz andere Geschichte:
Sahary Djéli, geboren als Suzanne Milou in Caen, Frankreich, nutzte geschickt die Mechanismen der Exotisierung, um ihre Karriere zu fördern und einen Mythos, um ihre Person zu schaffen und verzauberte mit ihrem mysteriösen Erscheinungsbild das Publikum.
Die Industrielle Revolution und der Ausbruch der zweiten Welle der Revolution erfasste die Gesellschaft in allen Schichten. Die Eisenbahn entwickelte sich zum wichtigsten Verkehrsmittel. Die ersten Flugzeuge wurden gebaut. Graf Zeppelin wurde mit dem Bau seines Luftschiffes weltberühmt und ging in die Geschichte ein. Es entwickelten sich Arbeitsmöglichkeiten, die nicht an Besitz und Boden gebunden waren. Es folgte ein Bevölkerungswachstum, immer mehr Menschen zog es in die Städte, Arbeitsplätze in Fabriken lockten sie in die sich immer weiter ausbreitenden Ballungszentren. Alle sozialen Schichten befanden sich in einer Art Aufbruch, wollten das Gewohnte, Althergebrachte über Bord werfen, teilhaben am Fortschritt. Und sie wollten ihr Leben genießen. Auf diesen Grundlagen begann die Zeit, die wir heute die Belle Époque nennen. (Vgl. Stein, Joachim)
Die Neugier auf Neues, Unverbrauchtes, Sensationelles. Fortschritte in Wissenschaft und Technik, Verbesserungen sozialer, finanzieller und politischer Richtung prägten diese Zeit. Das kulturelle Leben beispielsweise stand für alle Klassen offen. Man suchte Zerstreuung und vergnügte sich in den Cabarets und in Varietétheatern.
Freizügigkeit und Auffallen im Äußeren gehörten zum guten Ton der Gesellschaft. Die Kunst durchdrang die Gesellschaft. Kritik an den scheinbar überwundenen Klassenunterschieden spielte in der Kunst eine entscheidende Rolle. Das Varietétheater galt als Ort für Unterhaltung und Geselligkeit. Um die Jahrhundertwende sah man besonders Paris als eine europäische Metropole. Die Stadt entwickelte sich zu einem Treffpunkt der Kunstszene.
Am 6. Oktober 1889 öffnete das Moulin Rouge am Place Blanche im pariser Vergnügungsviertel Pigalle.
Das Moulin Rouge stand für Dekadenz und Frivolität und versetzte als neues Revuetheater im Stadtteil Montmartre das Pariser Bürgertum in Aufruhr. Frivolität und Maßlosigkeit störten in den Augen des bürgerlichen Paris ein alte gewohnte Ordnung.
Die Tänzerinnen dieser Varietébühnen bereicherten mit ihren tänzerischen Darbietungen das Programm und verzückten Massen von Zuschauer*innen.
Sie gaben der Zeit der Jahrhundertwende, geprägt von Umbrüchen und Aufbrüchen eine Form und verliehen dieser Zeit einen körperlichen Ausdruck. In Ihrem Artikel „Vom Sinnesrausch zur Tanzmoderne“ erinnert die Autorin Claudia Balk an diese längst „vergessenen Musen des modernen Tanzes“. (Ochaim, Brygida und Claudia Balk, S. 7)
Als charakteristische Besonderheit des Varietés gilt nach Balk die „Momenthaftigkeit“, im „Charakter der ausgewählten Einzeldarbietungen“, kurze prägnante Darbietungen die diese besonderen Aufführungen prägten. (ebenda., S. 10). Das Programm war von Vielfalt geprägt, man lag Wert auf die Verbindung von Varieté und die Vielfalt der Tanzstile. Man zeigte sich international offen anderen Kulturen gegenüber.
Varieté Darbietungen waren durch Kürze und Prägnanz geprägt und ermöglichten eine reichhaltige Vielfalt in der Art der Darbietungen. Die vielen verschiedenen Tanzstile, die sich durch Unverwechselbarkeit auszeichneten, waren leicht identifizierbar und hoben sich durch charakteristische Darbietungen voneinander ab und folgten im schnellen Wechsel aufeinander.
Eine temporeiche, rasante Durchführung der einzelnen schnell aufeinanderfolgenden Nummern prägte den Unterhaltungswert des Varietéprogramms. Ein Sinnbild für ein Zeitalter, das durch Schnelllebigkeit und fortschreitende Technik geprägt war. (Vgl. ebenda., S. 11)
« Il y a des légendes sur moi, nous chuchote-t-elle en grand secret. Les uns m’ont dit que j’avais été trouvée abandonnée dans une corbeille fleurie (Blumenkorb), sur les bonds du fleuvre.« « D’autres prétendent que je suis venue au monde – naissance peu banale – à dos d’èléphant (…) « « D’autres encore veulent que je sois née dans un temple de Krishna, en un de ces sanctuaires où les princes de mon pays cachent les fruits de leurs amours.« « De ces trois solutions, c’est la quatrième que je préfère, celle qui veut que je sois née au pays même, exactement, où fut jadis le Paradis terrestre. Je serais donc une petite femme bien nature, telle que fut apparemment notre maman Eve. »
Dt. „Es gibt Legenden über mich“, flüstert sie uns geheimnisvoll zu. „Einige haben mir erzählt, dass ich in einem Blumenkorb auf den Sprüngen des Flusses ausgesetzt gefunden wurde. Andere behaupten, ich sei auf dem Rücken eines Elefanten zur Welt gekommen – eine ungewöhnliche Geburt (...). Wieder andere wollen, dass ich in einem Krishna-Tempel geboren wurde, in einem der Heiligtümer, in denen die Prinzen meines Landes die Früchte ihrer Liebe verbergen. Von diesen drei Möglichkeiten bevorzuge ich die vierte, die besagt, dass ich genau in dem Land geboren wurde, in dem einst das Paradies auf Erden war. Ich wäre also eine kleine, natürliche Frau, so wie unsere Mutter Eva offenbar war.“ (Übersetzung: Carlotta Ortinger)
Aus: Fantasio, 1908, „La jolie Sahary“
Sahary Djéli führte viele Interviews, in denen es um ihre Tanzpraxis und ihre indische Herkunft ging. Inwiefern einer der Geburtsumstände, die in dem oben genannten Zitat aufgeführt sind, stimmen, bleibt dennoch fraglich: Denn ihr Passdokument bezeugt, dass sie 1889 als Suzanne Milou in der nordfranzösischen Stadt Caen geboren wurde. Welche Bezüge sie zu Indien hat, ist aus dem historischen Material nicht herauszulesen.
Mit Zwecken von Exotisierung und sexualisierter Naturalisierung entsteht ein Mythos um die indische Herkunft der Tänzerin, der sowohl von ihr selbst als auch von einer französischen Öffentlichkeit geschaffen wird: Immer wieder wird die Faszination für die Tänzerin betont, ihre Schönheit, ihre “verführerische” körperliche Ausstrahlung und ihr technisches Können. Diese Faszination bezieht sich vorrangig auf das der französischen Kultur „fremd“ erscheinende ihrer indischen Herkunft. Durch Mechanismen der Exotisierung und Sexualisierung wird somit der kolonialhistorisch geprägte Blick deutlich. Die Exotisierung von Tänzerinnen spricht hierbei für eine gesamte Generation der Jahrhundertwende, in der „das Andere“, nicht Europäische, in den Künsten eine maßgebliche Rolle spielte.
Ein Stück wird vermehrt in Zeitungsartikeln und Annoncen im französisch-sprachigen Raum genannt, das u.a. im Moulin Rouge in Paris aufgeführt wurde: Le Nautch. Immer im Kontext des allgemein bezeichneten „indischen Tanzes“ wird besonders die Makellosigkeit und Schönheit ihres Ausdrucks und Körpers hervorgehoben; als bebend und animalisch anmutend beschreiben die Zeitungen Saharys Bewegungssprache. Ihre Bewegungen und Flexibilität der Arme werden mit Schlangen verglichen (“serpentine des bras”), was ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit noch undurchsichtiger (“étrange”) wirken lässt. Auch diese Klassifizierungen müssen im historischen Kontext verstanden werden, wo eine sexualisierende und exotisierende Lesart der Tänzerin Sahary Djéli kennzeichnend ist.
Sahary Djéli erlangte zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in Paris und London große Anerkennung. Ihre Karriere führte sie vom Moulin Rouge in Paris, über das Casino in Paris, das in den 00er und 10er Jahren vor allem als Music-Hall bekannt war, bis hin zu Spielstätten und Fotostudios in Großbritannien.
Nachdem sie ab 1906 einen gewissen Bekanntheitsgrad in Paris erlangt hatte, wurden schnell die Amerikaner:innen und Engländer:innen auf sie aufmerksam. Durch ihre mysteriöse Erscheinung und ihren einzigartigen, unnachahmlichen Körper wurde sie bald zur “danseuse sensationelle”.
In der englischen Presse wurde sie bereits 1908 nicht nur als Tänzerin, sondern auch als Schafferin eines neuen Tanzes betitelt. Besonders fasziniert waren die Journalist:innen von den Bewegungen ihrer Arme, die wirkten, als seien ihre Knochen aus Gelée.
Ein Artikel von 1915 aus dem New York Herald lässt erkennen, dass Sahary Djéli sich zu dieser Zeit in New York aufgehalten hat und dort als Tänzerin gearbeitet hat. Leider gibt ihr Nachlass keine weiteren Quellen aus ihrer Zeit in Amerika her.
Sahary Djélis Bewegungsfiguren lassen sich nicht nur schriftlich in u.a. Rezensionen nachvollziehen, sondern zeigen ihre Bildwirksamkeit in seriellen Konstellationen verschiedener Fotostudios, darunter The Dover Street Studios (London) und Studio Valery (Paris). Wie die meisten fotografischen Abzüge, die von Sahary Djéli vorliegen sind die der The Dover Street Studios nicht datiert. Die sechs Fotografien lassen ein sequenzielles Konzept erahnen. Djéli befindet sich entweder vor einem Bildhintergrund eines Kelims oder eines mit Marmorsäulen und Marmorboden prunkvoll ausgeschmückten Raumes. Perlen verzieren die Träger ihres Oberteils und die Applikation auf ihrem Schoß, Blätter einer Staude akzentuieren die Form ihrer Brust auf den Schalen ihres Oberteiles. Der eingefangene Augenblick einer Bewegung zeigt im Kontext ihrer „indischen“ Herkunft eine “verführerische” körperliche Ausstrahlung und ihr technisches Können. Vor allem sichtbar wird der Nachvollzug ihrer Bewegung in der lasziven Rückbeuge, die von Zeitungen oft betont und nicht nur auf Fotografien der The Dover Studios festgehalten wurde. Die Öllampe, aus der bei weiteren Fotografien Rauch emporsteigt, verstärkt den Moment eines Kontinuums, als würde sich Djéli immer weiter in die Rückbeuge lehnen. Im Nachlass Djélis befinden sich zudem Fotografien mit Bewegungsfiguren auf Spitzenschuhen im Rüschenkleid, ein Kontrast zur lasziven Inszenierung im perlenbesetzten Gewand.
Das Netzwerk erzählt eine Geschichte über Sahary Djélis soziales Umfeld zwischen ihrem ersten Auftritt mit 17 Jahren im Moulin Rouge am 24. Dezember 1906 und ihrer letzten Erwähnung innerhalb des Nachlasses in der Zeitschrift Le Théâtre & La Musique im Jahr 1917, als sie 27 Jahre alt war. Jeder Knotenpunkt symbolisiert einen Akteur oder eine Akteurin, mit dem oder der Djéli auf verschiedene Weisen in Kontakt stand. Beim Überblicken der Knotenpunkte zeigt sich die Beschaffenheit eines jeden. Die Artistinnen, die mit Djéli in dem umfangreichen Showprogramm Revue du Moulin Rouge ihre Performances zum Besten gaben sind ebenso eingezeichnet, wie der Direktor des Théâtre de la Renaissance in Liège, der, wie aus den Zeitungsanzeigen im Nachlass hervorgeht, für das Programm zwischen dem 5. und 14. Februar 1908 verantwortlich zeichnete. Die Geschichte wird ausgehend von Sahary Djéli erzählt, somit ist natürlich sie und ihre berühmte Show Le Nautch das verbindende Zentrum des Graphen. Die Größe eines Punktes bedeutet die Häufigkeit seiner Vernetzung, aus der Farbe eines Punktes geht seine Zuordnung als Zeitschrift, Person oder Theater hervor und die verbindenden Linien beschreiben die Beziehung zwischen den Knotenpunkten. Bis auf wenige ergänzende Quellen, die den zugeordneten Punkten entnommen werden können, gehen alle Informationen aus Sahary Djélis Nachlass hervor. Das Netzwerk lädt dazu ein, weitere Geschichten und Zusammenhänge selbst zu erkunden.
Recherchiert und formuliert von den Studierenden Frederike Bohr, Philip Esch, Svenja Hoffeller, Lynn Helen Kuhfuß und Carlotta Ortinger im SS 2024 im Masterstudiengang Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln im Rahmen der Übung "Arbeiten mit Nachlässen" im Deutschen Tanzarchiv Köln.