Von Garnet Schuldt-Hiddemann

„Der poetische Vorname ist mir noch ein wenig ungewohnt, obwohl ich ihn nach der ersten Hemmung doch sehr schön finde“, schreibt Mary Wigman am 21. Mai 1929 an die Adresse von „Fräulein Chinita Ullmann“ im Hohenstaufenring 30 in Köln. In der Anrede des Briefes nennt Wigman ihre flügge gewordene Schülerin aber einfach: „Liebe Friedel!“. Hinter den vielen, einander so ähnlichen Namen – Chinita Ullmann, Friedl Ullman, Chinita Ullman, Friedel Ullmann oder Frieda Ullmann[1] – steht der Lebensweg einer Künstlerin, die seit den 1920er Jahren ihre eigene Version moderner Tanzkunst in der Tradition Mary Wigmans erarbeitete – zunächst in Deutschland und Europa, später dann im Umfeld, in dem sie zur Welt kam, in Brasilien.

Am 14. März 1904 in Porto Allegre als Tochter einer brasilianischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren, reist Chinita Ullmann in den frühen 1920er Jahren zur Ausbildung nach Deutschland. Zunächst wohl an einem musikalischen Werdegang interessiert, wechselt sie zum Tanz und zwar in die Schule von Mary Wigman nach Dresden.[2]
 

In der Wigman-Schule erlebt sie einen wahren Tanz-Kosmos aus Vorstellungen, eindringlicher Pädagogik und einer intensiven tänzerischen Lebens- und Arbeitshaltung. Als Mitglied von Wigmans Tanzgruppe macht Chinita zwischen 1926 und 1928 erste eigene Bühnenerfahrungen und knüpft wichtige Kontakte zur Tanzszene. So tritt ihr Mitschüler Fred Coolemans 1928 in Berlin als ihr Tanzpartner auf, während Liselotte Huck und Araça Macarowa sie wenig später als Lehrkräfte in Ullmanns neu gegründeter Kölner Schule unterstützen: Qualifiziert mit dem Wigman-Diplom vom Sommer 1928, das die „Lehrberechtigung sowohl für tänzerische Berufsausbildung ohne Einschränkung" als auch für das gesamte Gebiet des Laienunterrichtes mit "Auszeichnung I“ bescheinigt, betreibt Ullmann diese Schule am Kölner Hohenzollernring bereits 1929 und versucht so, im Rheinland einen Ort zur Pflege und Entfaltung des modernen deutschen Tanzes zu etablieren.


Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Viel Energie steckt Ullmann in ihre "Schule für Tanz und Gymnastik" und stellt sich den mitunter harten Anforderungen des Schulalltags, die auch ihre „Meisterin“ Mary Wigman nur zu gut kennt.

Verständnisvoll kommentiert Wigman die Mühen um die Akzeptanz des neuen Tanzstils und seine Verankerung durch pädagogische Arbeit in einem Brief an Chinita vom 21.05.1929, denn man:
 


Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

„… muss sich aber doch klar darüber sein, dass die konsequente Arbeit, vor allem wenn es sich um eine aufbauende Tätigkeit handelt, überall sehr schwer zu leisten ist. Es kommt ja auch noch hinzu, dass bei allem, was inzwischen für den Tanz erreicht ist, dieser doch noch als eine Art Luxustätigkeit empfunden wird, der gegenüber man entweder verächtlich oder snobistisch eingestellt ist.
Du darfst überzeugt sein, dass wir dieses Moment auch hier in Dresden stets zu fühlen bekommen, und man im Grunde genommen ständig in einer inoffiziellen Kampfposition existiert. Es gehört nicht nur eine ganze Portion Mut, sondern schon beinahe eine bornierte Ausdauer dazu, so eine Schule nicht nur zu starten, sondern auch konsequent weiterzuführen.“

Untermauert wird Ullmanns pädagogische Arbeit durch ihre Bühnenerfahrungen. Ihre Tanzabende mit Fred Coolemans und die Auftritte als Gruppentänzerin bei Wigman haben auch die Presse auf Chinita Ullmann aufmerksam gemacht: Neben kritischen Anmerkungen lobt Leonie Dotzler bei einer Vorstellung im Dresdner Komödienhaus vom Dezember 1926: „Sie besitzt einen starken Hang zum Ungewöhnlichen, und so weisen ihre Tänze alle möglichen Motive aus fremden Kulturen auf; sie wirken infolgedessen exotisch und interessant...“; eine Besonderheit, die auch viele ihrer späteren Arbeiten auszeichnet und auf eine künstlerische Gestaltung von Chinita Ullmanns Herkunft und Erfahrungswelt verweist.
Ein Rezensent der Berliner Zeitung kommentiert im Februar 1928 einen „Tanz-Abend Ullmann-Coolemans“ und zieht mit Blick auf Chinitas spanische Tänze sogar einen Vergleich zum damaligen Star „La Argentina“:
   „In ihren letzten, den spanisch gearteten Tänzen, ist besonders Friedel Ullmann auf ihrem eigentlichen Gebiet. Die zarte Überschlankheit, die Hüftenschmalheit, ihre hohe Gestalt, ähneln sie beinahe der Argentina an (welches Kompliment!).....“


Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Dass sich Chinita Ullmann bei all ihrer Verbundenheit zum Wigman-Umfeld Offenheit für unterschiedliche künstlerische Impulse bewahrt, zeigt die Wahl von Tanzpartnern wie Carletto Thieben: als ehemaliger Tänzer an der Berliner Oper und der Mailänder Scala ist er traditionell klassisch ausgebildet und ergänzt überzeugend Ullmanns künstlerische Ausstrahlung. Die beiden sind mit ihren Programmen um 1926 so erfolgreich, dass sie in ihrem Werbeprospekt hervorragende Kritiken zitieren können und ihre Tourneen sie über die deutschen Städte hinaus nach Holland und Italien führen.


Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Anfang der 1930er Jahre lebt Chinita Ullmann wieder in ihrer Heimat Brasilien und gründet 1932 mit Kitty Bodenheim eine Schule für Tanz in Sao Paulo. Erneut arbeitet sie zweigleisig und stellt neben das pädagogische Engagement die Präsentation eigener Tänze. Die Fotos ihrer Tanzstücke und die Titel ihrer Tänze lassen Rückschlüsse auf eine große Bandbreite zu: Heiteres findet sich neben Getragenem und immer wieder reagiert sie auf Impulse durch die Menschen, die Kultur und Landschaften Brasiliens.[3]

Auch in der Wahl ihrer Kostüme zeigt Chinita Ullmann sich überaus flexibel, von vermeintlich einfach gearbeiteten Tanzkleidern bis zu fast schon skulptural wirkenden Bühnenaccessoires und Tanzmasken setzt sie unterschiedlichste Elemente ein, um die Wirkung ihrer Tänze zu verstärken:


Für Danzas Expresivas werden ihre Arme zu Flügeln, während sie für ein Brust-Portrait ihre Hände in lange Vogelschnäbel verwandelt, die ihrem Gesicht einen eindrucksvollen Rahmen geben; ganz zum Vogel scheint sie in Urutau aus Quadros Amazonicos zu werden.

Eine andere Form der Urwüchsigkeit schleudert sie uns entgegen, wenn sie ihre gekrallten Hände zwischen Decke und dem Boden maximal anspannt und als Hexe mit zotteliger Perücke auftritt. Welch Unterschied zu Chinita Ullmanns Erscheinung im Gründerzeit-Kostüm mit Stock, Federhut und reichlich Rüschen und Fransen oder im Hosenanzug bei einem Sprung, der die schiere Lebensfreude ausstrahlt. Aus der reichen Fülle ihres Repertoires seien hier nur noch die Fotos erwähnt, die ihre Arbeit mit Masken dokumentieren.

 


Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Ullmanns Arbeit und Erfolge in Brasilien belegen in Portugiesisch abgefasste Materialien und Programmzettel der 1940er und 1950er Jahre, z.B. 1944 in einem größeren Programm mit dem Tanzensemble im Teatro Municipal in Sao Paulo oder 1954 gemeinsam mit Decio Stuart.


Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Spätestens ab 1975 muss Chinita Ullmann sich wegen einer Herzerkrankung schonen und kann kaum mehr das Bett verlassen. Trotzdem empfängt sie viele Besucher und korrespondiert mit ihrem früheren Tanzpartner Carletto Thieben.


Am 30. Mai 1977 stirbt Chinita Ullmann. In der Todesanzeige vom 1. Juni 1977 beklagt die Familie in Sao Paulo den Verlust von "Frieda Ullmann Rotermund (Chinita)".


Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Das Titelzitat entstammt einem vermutlich in den späten 1920er Jahren abgefassten Manuskript von Chinita Ullmann: "Männer - Frauentanz – ihre psychologischen Parallelen, Verschiedenheiten und Grenzen." [Obj. 40919].

Den Nachlass von Chinita Ullmann übereignete dankenswerterweise Frau Hanja Ehler dem Deutschen Tanzarchiv Köln.

[1] Entsprechend ihrer eigenen Entscheidung für den Namenswechsel ab Sommer 1929 wird im Deutschen Tanzarchiv Köln und in diesem Artikel die Schreibung „Chinita Ullmann“ genutzt, wenn nicht direkt Dokumente mit anderer Schreibung zitiert werden.

[2] Weitere Informationen zu Mary Wigman, der Ikone der deutschen Ausdruckstanzbewegung finden sich z.B. auf der website des Deutschen Tanzarchivs Köln: http://www.sk-kultur.de/tanz/wigman/index.html.
Zeitlebens wird Chinita Ullmann ihrer hochgeschätzten Lehrerin herzlich verbunden bleiben und gelegentlich unterstützt sie sie sogar tatkräftig: z.B. durch finanzielle Zuwendungen an die Schule und nach dem Krieg durch die Übersendung von Lebensmittel-Paketen.

[3] Titel wie Capora, Bruxa, Boitatá, Urutau, Sacy aus dem Zyklus: Quadros Amazonicos; Rhysmo, Samba, Brasilianischer Tango, Tango, Schlangenrhythmus, Südamerikanische Tänze, mexikanischer Bolero, Yara, Caicara, Dansa Sagrada e Profana, Vision aus den Dschungeln, A Velha da Esquina, Lavadeirinha, Tipos Populares, Carregador de Feira, Dia de Festa und Terra do Lotus scheinen direkt in die exotischen Welten von Ullmanns Heimat zu führen, während Valse de Debussy, Das persische Lied, Vogeltanz, Allegretto, Persische Phantasie, Herbstliches Lied, Ekstatischer Tanz, Doppelgesicht, Vibrato zur Trommel, Aria de Bach, Valsa oder Pavana vertraut nach Programmzetteln der Ausdruckstanzbewegung klingen.