Seit den Wiesenthals ist die Hochflut des Tanzes über die Welt hereingebrochen... Arthur Kahane Zur Bestandsübersicht: Nr. 193 Schwestern Wiesenthal
Seit den Wiesenthals ist die Hochflut des Tanzes über die Welt hereingebrochen... Arthur Kahane
Zur Bestandsübersicht: Nr. 193 Schwestern Wiesenthal
Die komplette Familie Wiesenthal ca. 1904/1905 im Garten ihrer Hietzinger Villa, v.l.n.r.: Gertrud, Vater Franz, Elsa, Bruder Franz, Marta, Mutter Rosa, Hilde, Grete, Berta.
Franz Wiesenthal © Deutsches Tanzarchiv Köln
Der Vater: Franz Wiesenthal, um 1900, zu dieser Zeit Vizepräsident der Vereinigung Österreichischer Bildender Künstler.
Foto © Deutsches Tanzarchiv Köln
Die Mutter: Rosa Wiesenthal, geb. Ratkovsky, um 1900.
Foto Franz Wiesenthal © Deutsches Tanzarchiv Köln
Gertrud, Marta, Grete, Hilde und Berta Wiesenthal 1904.
Grete Wiesenthal.
Von Arthur Kahane.
Ich wünschte, ich wüsste mehr Tatsachen. Tatsachen zeichnen besser als jede Lyrik. Aber ich habe alle Tatsachen vergessen, und mir ist nichts geblieben als die Lyrik des ersten Eindrucks. Meine Erinnerung an Grete Wiesenthal hat sich ganz in Lyrik aufgelöst.
Es ist merkwürdig: vor dem Tanz wird alle Schriftstellerei gleich. Es fällt den besten Federn nichts Besseres ein als den schlechtesten. Es ist, als gäbe es nur einen Stil, in dem Schriftsteller über den Tanz schreiben können: sie versuchen selbst zu tanzen, wenigstens mit Worten. Aber leider sind Worte schwerfälliger als Beine.
Seit den Wiesenthals ist die Hochflut des Tanzes über die Welt hereingebrochen und eine Hochflut von Büchern über den Tanz, gelehrten und ekstatischen, historischen, metaphysischen, programmatischen und lyrischen, und eines schaut wie das andere aus, und um die Wörter: Elfe, Zauber, Wunder, Seele kommt keines herum.
Aber man kann ja auch nichts anderes sagen als: wir erlebten ein Wunder, sie war eine Elfe, wenn sie tanzte, tanzte ihre Seele, und es ging ein unendlich süßer Zauber von ihr aus, der uns nie mehr losließ.
Max Reinhardt hat einmal – mir vielleicht das liebste seiner Regiewunder – Shakespeares Wie es euch gefällt inszeniert, wie mit Zauberfingern, ganz unwirklich, ganz elfenleicht, ganz mozarten in Musik, Traum und Waldesnacht eingetaucht: ich glaube, er hätte die Rosalindenwelt nie so hinhauchen können, wenn er nicht vorher Grete Wiesenthal erlebt hätte.
Ein Dichter hat ein Gespräch über die Tänzerin geschrieben – warum soll ich seinen Namen nicht nennen, es ist der, der immer noch das beschwingteste Deutsch unserer Zeit schreibt, und heißt Hugo v. Hofmannsthal: dieser Dialog klingt wie ein von Mozart vertonter Plato. Er hätte ihn nie so schreiben können, wenn er nicht an Grete Wiesenthal gedacht hätte.
Mein historisches Gewissen mahnt mich: nicht von den Wiesenthals ging die Renaissance des Tanzes und die Überwindung des Balletts aus, die sich in den letzten dreißig Jahren vollzogen hat, von den Sisters Barrison an, denen auch bereits ein Dichter, Anton Lindner, ein Buch gewidmet hat, das mehr getanzt als geschrieben war, bis zu den Tiller-Girls: ich weiß, wie bahnbrechend die zähe Prophetennatur der armen Isadora Duncan gewirkt hat: ich erinnere mich an den Feuerzauber der Loie Fuller, an die exotisch elementare Wildheit der Saharet, an die männerbezwingende Otéro; ich weiß, um wie vieles technisch vollkommener die Russen tanzten, die einzige Pawlowa, Nijinski, Fokin, die Karsawina, und wie bedeutsam die transzendente Seelenkunst der Mary Wigmann ist, welche mystischen Ausdrucksreiche durch Rhythmus und Linie Sent M'ahesa ahnen ließ,
und ich unterlag wie alle dem spitzbübischen Eulenspiegelreiz des Wunderkindes Niddy Impekoven; ich spüre das ungeheure Zeitgefühl in der grotesken Phantasie der Valeska Gert und erinnere mich, wie sie, ganz jung und damals noch mit dem Willen zum Sprechtheater, in ihren Anfängen mir allein einmal in meinem Büro mit Grammophonbegleitung, die Kleopatra und die Salome halb vorgesprochen und halb vorgetanzt hat. Alles das und vieles andere ist stark, schön und neu, revolutionär und tief und erzieherisch und weltanschaulich bedeutsam gewesen: aber wenn ich ans Tanzen denke, fällt mir nur die Grete Wiesenthal ein.
Kann sein, dass es die angeborene Weltanschauung des Wieners ist: es gibt nur einen Tanz und das ist der Walzer. Das Dionysische geschieht für den Wiener im Dreivierteltakt.
Natürlich sind wir erst später draufgekommen, dass unser Erlebnis ein dionysisches gewesen war. Damals, als wir Grete Wiesenthal mit ihren Schwestern zum erstenmal tanzen sahen, fiel uns das Wort noch nicht ein.
Gar nichts fiel uns ein. Die tiefen, philosophischen Gedanken, die der Tanz der anderen Tänzerinnen auszulösen pflegt, blieben unausgelöst im Gehege unseres Unbewußtseins. Es waren nur alle, die dabei waren, mit einem Male ganz glücklich und ausgelassen heiter, die ältesten Herren hatten ein junges Glück in den Augen, und einige Damen, die sonst gar nicht so sind, rutschten plötzlich und unmotiviert, quietschvergnügt quietschend, das Treppengeländer herunter. Die seligen Wesendoncks, in deren würdigem Patrizierhause sich der Elfenspuk abspielte, drehten sich entrüstet in ihrem Grabe um, wenn sie es nicht vorzogen, unsichtbar mitzutun und den Tristanwalzer zu pfeifen.
Keiner von uns allen wird diese erste Begegnung mit der Tänzerin Grete Wiesenthal vergessen.
Gesprochen hatten wir auch schon vorher mit ihr, und sie war auch im Gespräch nicht bloß bezaubernd, sondern ein ganz aparter und origineller Mensch kam heraus, produktiv und reich an Einfällen, witzig und grundgescheit, dabei ganz einfach und natürlich, und doch nicht eben durchsichtig und nicht ohne eine gewissescharmante Bosheit. Wir wussten schon, dass ihr etwas total missfiel, wenn sie, mit einem seelenvollen Augenaufschlag ihr: »Aus–ge–zeichnet!« sagte und die Silben begeistert auseinanderzog. Nein, unkritisch war sie nicht; dieses scheinbar einfache Volkslied[-kind] hatte das verfeinerte Abwehrgefühl gegen alles Unkünstlerische und bloß Gefällige, mit dem natürlichen Instinkt für das Hohe und Reine. Aber erst im Tanze öffnete sich diese im Grunde schamhafte Seele, und der eigentlichen Grete Wiesenthal sind wir erst begegnet, als wir sie tanzen sahen.
Wie ein Gruß der Heimat war die Feenprinzessin mit ihren anmutigen Schwestern zu uns gekommen, von Dichtern verkündigt, von einem Hofstaat junger Maler bedient, die für sie zarteste Kostümgebilde dichteten, ganz jung, schlank, in einer unbeschreiblichen, mädchenhaften Schönheit und Lieblichkeit, und legte ihr Berliner Schicksal vertrauensvoll in die Hände Max Reinhardts. In dessen so leicht angeregter Phantasie sich sofort eine Fülle von Visionen und Ideen entzündete. Vieles davon ist später Wirklichkeit geworden, unter anderem auch die orientalische Pantomime Sumurun. Zuerst aber führte er die Schwestern einem kleinen Kreis naher Freunde vor, eben in dem damals von ihm bewohnten Wesendonckschen Hause in den Zelten.
Die Wiesenthals tanzten Chopin. Sie tanzten Beethoven. Sie tanzten Schubert. Und Grete Wiesenthal tanzte den klassischen Straußwalzer An der schönen blauen Donau.
Aber im Grunde war alles, was sie tanzten: Walzer und Wien.
Wo gibt es noch eine Stadt, deren Seele so singt und tanzt! Wo gibt es noch eine Stadt, die so wünschen, so träumen, so küssen und so schweben kann?
Wo gibt es noch eine Stadt, der für ihr Träumen und verliebtes Wünschen ein so leichter, ein so natürlich unmittelbarer, ein so beschwingter Ausdruck geschenkt ist!
(Zuerst veröffentlicht im Berliner Tageblatt, wohl 1927. 1928 mit geringen Abweichungen neu veröffentlicht in: Arthur Kahane: Tagebuch des Dramaturgen. - Hier in Anlehnung an die Erstveröffentlichung, mit Ausnahme des Setzfehlers "Volkslied", recte: "Volkskind".)
Erwin Lang © Familie Konrad Lang
Grete Wiesenthal: Walzer
Grete Wiesenthal: Tarantell (sic)
Grete Wiesenthal: Donauwalzer
Grete Wiesenthal: Pantanz
Grete Wiesenthal: Allegretto
Grete Wiesenthal: Andante
Grete Wiesenthal: Schmetterling
Grete Wiesenthal: Der Wind
Grete Wiesenthal und ihrer [sic] Schule. Mappe mit Lithographien. Schenkung aus der Slg. Detlef Borowski.