"Sie kosten dreißig Dollar das Paar (dazu kommen noch vier Dollar extra, weil wir sie nach Maß anfertigen lassen), und sie müssen importiert werden aus England, wo kleine, alte Männer tagaus, tagein für uns nähen. Wir haben alle unsern Schuhmacher, der sich durch sein Zeichen auf dem Schuh ausweist. Ich habe Y, und es geht das schreckliche Gerücht um, daß Mr. Y bald stirbt oder in Pension geht. Wir Y-Anhänger sitzen also in der Klemme. Einige von uns haben schon P bekommen …

Wir brauchen mindestens zwölf Paar in der Woche, häufig auch mehr. Das macht also mindestens 360 Dollar pro Tänzer und pro Woche. Mal vierundfünfzig. Das sind 19.440 Dollar die Woche multipliziert mit fünfzehn für die ganze Saison – 291.600 Dollar. Teure Fußbekleidung.

Léonide Massine in der Rolle des (Ballett-)Schuhmachers in dem Ballett "Die Roten Schuhe" im gleichnamigen Film 1948.

Wir nehmen sie aus ihrer Plastikhülle, schütten Fabulon in die Spitzen (damit sie härter werden), benähen sie mit Stoff- und Gummibändern, schneiden den Satin an der Spitze ab (er rutscht zu sehr), entfernen die Einlegesohle (sie ist überflüssig), weichen die Spitzen in Wasser oder Alkohol ein (sie sind zu hart und zu eng), treten darauf (sie sind zu rund), biegen die Gelenke (sie sind zu steif), rauhen mit einem Reibeisen das Sohlenleder auf (es ist zu glatt) und schlagen

Blick in die Ballettschuhwerkstatt der Firma Pauls in Köln, Streitzeuggasse 1954.
Foto: © Fa. Pauls / Deutsches Tanzarchiv Köln

sie gegen die Wand (sie machen zu viele Geräusche). Dann treten wir eine Viertelstunde darin auf, und sobald sie vorbei ist, werfen wir sie weg (es steckt kein Leben mehr in ihnen). Dreißig Dollar, die futsch sind!"

Toni Bentley (NYCB), 1980

"In der Bibliothek der Pariser Oper befinden sich heute sogar noch Spitzenschuhe der Taglioni. Auch von Lucile Grahn gibt es signierte Spitzenschuhe im Deutschen Tanzarchiv Köln, die nicht nur durch ihr Alter beeindrucken. Vergleicht man diese Spitzenschuhe mit den heutigen, versetzen sie vor allem durch ihre Zartheit ins Staunen. Denn damals wurde der Schuh im Kappenbereich nur leicht verstärkt und im Fersenteil knapp gesteppt, so dass sich die ersten Spitzentänzerinnen eigentlich nur für kurze Zeit auf die Spitze dieser Schuhe erheben konnten. Die heutigen Spitzenschuhe sind dagegen weitaus aufwendiger präpariert. Sie unterstützen den Fuß der Tänzerinnen viel besser und bieten beim Tanzen mehr Halt. Trotzdem muss auch dieser Schuh heute immer noch von jeder Tänzerin mit harter Arbeit und viel Fleiß erobert werden."

Angela Reinhardt: Der passende Spitzenschuh. Tipps & Tricks für Kauf, Tuning und Pflege. Berlin 2005,  S. 20f.


Selbstverständlich befinden sich in den Nachlässen und Sammlungen des Deutschen Tanzarchivs Köln und seines Tanzmuseums neben Dokumenten und Kostümen auch Spitzenschuhe und Schläppchen. Beispielsweise von Dore Hoyer, Tana Herzberg, Liselotte Köster, Galina Panova, Christine Brunel, Lilian Karina oder Claus Schulz. Spitzenschuhe sind in der Öffentlichkeit zum Inbegriff der Kunst des klassischen Tanzes geworden, vor allem wohl deswegen, weil sie für den Zuschauer und Laien eindrucksvoll veranschaulichen, wie das lange Jahre und schmerzvoll trainierte Stehen und Tanzen auf den Spitzen der Füße möglich wird. Und jahrzehntelang konnten es sich Journalisten und Romanautoren nicht verkneifen, für den Abschied einer Ballerina von der Bühne das Bild "sie hängte die Spitzenschuhe an den Nagel" zu gebrauchen.


Die junge Konstanze Vernon. Foto: Ilse Buhs, Deutsches Tanzarchiv Köln. © Deutsches Theatermuseum München

Noch beeindruckter ist das Publikum einer Ausstellung, wenn sich der Ballettschuh einer bestimmten Tänzerin zuordnen läßt, die darin ihre bewunderten Soli getanzt hat. Das beflügelt die Phantasie des Betrachters, insbesondere, wenn er diese Künstlerin einst live auf der Bühne tanzen gesehen hat. Und höchste Bewunderung, welche den Spitzenschuhen schon beinahe einen Fetischcharakter zu geben scheint, gilt denjenigen Schuhen, die Ballerinen einem Fan oder Freund signiert oder gar gewidmet haben.

Zar Nikolaus I. als Bewunderer der Tänzerin Fanny Elßler. Ballettschuh aus ("angelaufenem") Silber als Geschenk bei einem Gastspiel in St. Petersburg. Aus der Sammlung von Peter Roleff.
Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Wer waren diese Verehrer, diese Fans, die dem Star so nahe gekommen sind, dass sie ein Autogramm auf einem getragenen Spitzenschuh und nicht auf einer Fotopostkarte bekamen? Haben sie stundenlang am Bühnenausgang mit einem Blumenstrauß gewartet, oder haben sie den Pförtner bestochen und den Weg bis vor die Garderoben gefunden? Sind sie frech aus dem Zuschauerraum auf die Bühne geklettert und durch die "Gassen" in die Welt hinter den Kulissen eingetaucht, mit einer Selbstverständlichkeit, als ob sie dazugehören würden?

Das älteste im Tanzarchiv verwahrte Exemplar signierter Spitzenschuhe stammt von Lucile Grahn. Wir wissen nicht, wem sie es einst signiert und geschenkt hat, die Schuhe sind inzwischen natürlich innerhalb von etlichen Generationen immer wieder neu an Ballettliebhaber weitergegeben und ohne jeden Hinweis auf den ersten Besitzer oder die erste Besitzerin nach der Trägerin zum Bestand des Tanzarchivs gekommen. Wie klein müssen ihre Füße gewesen sein im Vergleich mit der durchschnittlichen heutigen Fußgröße!

Aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere den für Tanz so wichtigen 1920er Jahren, sind in Deutschland sicherlich nur wenige Spitzenschuhe von deutschen Tänzerinnen signiert worden. Der zu dieser Zeit berühmte Moderne Tanz hat seine Anfänge im "Barfußtanz" der Isadora Duncan und lehnte die Spitzenschuhe der Ballerinen ebenso ab wie Tutus. Mit den vier Besatzungsmächten kamen nach Ende des Zweiten Weltkriegs die berühmtesten Ballett-Truppen zu Gast nach Deutschland und hatten wesentlichen Einfluss auf die "Renaissance" dss Balletts an den Deutschen Theatern – und mit ihnen erlangte der Spitzenschuh auch in Deutschland wieder seine symbolhafte Bedeutung zurück.

Im Deutschen Tanzarchiv Köln finden sich aus dieser Zeit unter anderem signierte Spitzenschuhe von Toni Lander (1963), Allegra Kent, Melissa Hayden, Margot Fonteyn, Marina Kondratieva, aber auch Uta Graf, Dagmar Kessler oder Laurel Benedict. Meistens stammen sie aber nicht aus den Sammlungen von anonymen Ballettenthusiasten, sondern gewissermaßen von Kollegen der Tänzerinnen, von Klaus Geitel, der meisterlich über über die großen Solisten zu schreiben verstand, oder von Fritz Peyer, dessen Fotos so gut gefielen, dass Angèle Albrecht ihm ihre verbrauchten Spitzenschuhe "avec l'amour" widmete.


Foto: © Deutsches Tanzarchiv Köln

Kürzlich wurden die Bestände durch die Schenkung einer privaten Sammlung erweitert, die beispielsweise signierte Spitzenschuhe von Lisa Cullum, Marguerite Donlon, Kiki Lammersen, Angela Reinhardt, Nadja Saidakova oder Steffi Scherzer enthält. (Verzeichnis dieser Sammlung)