Impressum
Das erste deutsche digitale Fachperiodikum für Tanzwissenschaft, Tanzgeschichte, Tanzforschung und tanzbezügliche Buchrezensionen im Internet.

Hrsg. vom Deutschen Tanzarchiv Köln/SK-Stiftung Kultur, vertreten von Frank-Manuel Peter.
Initiiert von Frank-Manuel Peter im Februar 1996.

Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren allein verantwortlich.

Erscheinungsweise: Unregelmäßig, jeweils nach Eingang eines neuen Beitrags.
ISSN 1431 - 9918 

Konzeption (1996)
Die Veröffentlichung tanzwissenschaftlicher Aufsätze war in Deutschland bisher ein schwieriges Unterfangen: Der sehr begrenzte Rezipientenkreis bedingt im Bereich der Monographien ein äußerst geringes verlegerisch-kommerzielles Interesse. Trotzdem angenommene Manuskripte benötigen von der Fertigstellung bis zur Drucklegung in den Printmedien oft noch Jahre. 

Das Gros der Leser von deutschen Tanz- und Ballettzeitschriften erwartet bestenfalls eine kurze, populär abgefaßte Darstellung, und eine Fülle von tanzwissenschaftlichen Themen hat aufgrund der Ausrichtung der Zeitschrift ohnehin keine Chance, veröffentlicht zu werden. Um in herkömmlichen Medien selbst publizieren zu können, müßten die deutschen tanzwissenschaftlichen Vereinigungen über umfangreichere Mittel verfügen. 

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TANZWISSENSCHAFT erscheint unregelmäßig, jeweils mit Veröffentlichung eines neuen Beitrags. Jeder Beitrag wird fortlaufend numeriert und stellt eine neue Ausgabe dar. 

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Reihenfolge: Autorenname, Titel, Abstract(s) sowie der Text. 

Es wird erwartet, daß die Autoren ihren Artikel in einem Abstract von bis zu 15 Zeilen zusammenfassen; ein englischer Abstract kann sich anschließen. Eine eventuelle Übersetzung des Beitrags folgt den Anmerkungen; der Herausgeber kann keine kostenlosen Übersetzungen durchführen. 

Anmerkungen sind als Ziffern in runden Klammern anzugeben und dem Text anzuhängen (keine Fußnoten); sie sollten inhaltlich nach Möglichkeit über reine Quellenangaben hinausgehen. 

Monographien und Zeitschriftenartikel sollen beim ersten Auftreten in folgender Form zitiert werden:
Brandenburg, Hans: Der moderne Tanz. 3. Aufl. München 1921. S. 51-53
Manning, Susann: Tänzerinnen weiblicher Geschichte: Mary Wigman und Martha Graham. In: Tanzdrama 15 (1991), S. 7-13
Klein, Gabriele: Was ist modern am modernen Tanz? - Zur Dekonstruktion dualistischer Tanzverhältnisse. In: Tanzforschung: Jahrbuch. Band 4. Wilhelmshaven 1993. S. 61-72
Bei weiteren Zitaten desselben Titels erfolgt Verweisung auf das Erstzitat z.B. in folgender Form: Müller (Anm. 7) S. 36
Sind mehrere Zitate desselben Autors in der Anmerkung des Erstzitats genannt, erfolgt eine Differenzierung durch die Jahreszahl: Müller (1986, Anm. 7) S. 36.

Rezensionen
Buchrezensionen werden ggf. ausschließlich vom Herausgeber aufgrund seines Interesses durchgeführt, das Rezensionsexemplar der Bibliothek des Deutschen Tanzarchivs Köln übergeben.


seit 1996
online


  • Nr 1: Das tänzerische Lichtbild. Hugo Erfurth als Dokumentarist des frühen Ausdruckstanzes

    TANZWISSENSCHAFT 1

    Frank-Manuel Peter:
    Das tänzerische Lichtbild
    Hugo Erfurth als Dokumentarist des frühen Ausdruckstanzes

    Der Beitrag wurde in dem Kataloghandbuch des Agfa Foto-Historama: Hugo Erfurth, 1874-1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, hrsg. von Bodo von Dewitz und Karin Schuller-Procopovici, Köln 1992 erstveröffentlicht und hier geringfügig ergänzt.

    Abstracts:
    Der Autor sieht in dem durch seine Portraitaufnahmen berühmt gewordenen Hugo Erfurth auch den ersten bedeutenden Photographen des Tanzes. Von ca. 1908 - 1925 photographierte Erfurth in Dresden Tänzerinnen im Atelier bei Kunstlicht und während des Tanzens. Hierdurch erweist sich Erfurth aus heutiger Sicht auch als ein wichtiger Dokumentarist des modernen Tanzes ("Ausdruckstanz" oder "German Dance"). Sein photographischer Stil in diesen Tanzaufnahmen wurde von den prominentesten deutschen Tanzphotographen - Hans Robertson, Siegfried Enkelmann und insbesondere Erfurths Schülerin Charlotte Rudolph - aufgegriffen und analog zum photographietechnischen Fortschritt weiterentwickelt: zum immer schärferen Studio-Tanzphoto. Erst viele Jahrzehnte später setzten Tanzphotographen die Bewegungsunschärfe erneut so bewußt als künstlerisches Gestaltungsmittel (Dynamik des Tanzes) ein wie Hugo Erfurth. ---

    The author regards Hugo Erfurth, famous for his portrait photos, as the first significant photographer of Dance. Approximately between the years 1908-1925 Erfurth photographed dancers in his studio in Dresden while dancing, using artificial light. With this work, Erfurth established himself, retrospectively, as an important documentor of early Modern Dance in Germany. The style of photography used in these dance photos was adopted by the most prominent German photographers of Dance: Hans Robertson, Siegfried Enkelmann and particularly Erfurth's student Charlotte Rudolph. Erfurth's style was further developed by them - analogous to the technical progress of photography - so that dance photos of increasing sharpness were obtained. Many decades passed before photographers of Dance again began to use blurred movement in artistic design (to demonstrate the dynamic of Dance movement) with the same awareness as Hugo Erfurth once did.

    Text:
    Die Wiederentdeckung Hugo Erfurths seitens der Tanzwelt liegt noch nicht lange zurück. Als Peter Oehmen Mitte der 80er Jahre für seine Examensarbeit nach Beurteilungen Erfurths aus tanzhistorischer Perspektive suchte, versagten die fachbibliographischen Hilfsmittel: Der Dictionary Catalog der New York Public Library Dance Collection, der auch einzelne gedruckte Fotos erfaßt und beispielsweise mehrere hundert Aufnahmen - zumeist Originalabzüge - von Charlotte Rudolph (1) auflistet, hatte keinerlei Eintrag zu Erfurth. Und Kurt Petermanns Tanzbibliographie kennt nur das von Max Tepp 1920 herausgegebene Bändchen über die Geschwister Falke - und schreibt den Namen, auch im Register, zweifach falsch: Erfuhrts, Hugo. Peter Oehmen recherchierte im damals noch privaten Kölner Tanzarchiv, und das Westfälische Landesmuseum Münster konnte für seine Ausstellung 32 Bücher mit Abbildungen nach Tanzfotos von Erfurth und Tanz-Fotopostkarten ausleihen. Als Oehmen die Leihgaben zurückbrachte und sich mit einem Exemplar des von ihm erstellten Werkverzeichnisses bedankte, war dieses bereits nicht mehr auf dem neuesten Stand: Das inzwischen zur öffentlichen Sammlung gewordene Tanzarchiv konnte ihm aus dem Nachlaß der Tänzerin Valerie Kratina eine Anzahl von interessanten Erfurth-Originalabzügen vorlegen.

    Etwa gleichzeitig mit Oehmen untersuchte die Kölner Tanzhistorikerin Hedwig Müller Leben und Werk der Tänzerin und Choreographin Mary Wigman. Sie hatte sich seit Ende der siebziger Jahre der Aufarbeitung des von der Wigman begründeten Ausdruckstanzes verschrieben. Diese in Abgrenzung zum traditionellen Ballett ferner als "moderner", "neuer" oder "freier" Tanz charakterisierte Form des künstlerischen Tanzes hatte in den 20er Jahren unter der Bezeichnung "German Dance" auch internationale Hochschätzung gefunden, war jedoch insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten. Aus den zahlreichen zeitgenössischen Tanz-Publikationen wie etwa Hermann und Marianne Aubels "Der künstlerische Tanz unserer Zeit" (2) kannte Hedwig Müller die Tanzphotographien von Hugo Erfurth und entdeckte in Mary Wigmans bis dahin unzugänglichem Nachlaß in der Berliner Akademie der Künste einige Originale, die sie in ihren Arbeiten und Ausstellungen (zum 100. Geburtstag 1986) verwenden konnte. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Erfurths Tanzaufnahmen, die er selbst nur unter die "'Begleitmusik' zum Thema meines Lebens" rechnete (3), bis heute im Schatten seiner Porträtgalerie stehen. Das mag auch an der Seltenheit der Originalaufnahmen liegen (4), waren doch selbst im Deutschen Theatermuseum München 1989 diese frühen Tanzfotos noch so unbekannt, daß es im Katalog zur damaligen Ausstellung "Theaterphotographie" heißt: "Den Tänzern und Tänzerinnen wird oft das Äußerste an noch kontrollierbaren Körperposen abverlangt, denn wirklich bewegen dürfen sie sich während der Fotoaufnahme noch nicht! In der zweiten Hälfte der 20er Jahre ist es dann so weit: nun können auch Sprünge und Drehungen photographiert werden", wobei die Photographen Hans Robertson (5) und Siegfried Enkelmann (6) mit Beispielen angeführt werden. Erfurths früheste Aufnahmen von Tänzerinnen in Bewegung sind jedoch mehr als zwanzig Jahre vor diesen Beispielen entstanden.

    Folgende Zwischenergebnisse lassen sich festhalten:

    1. Erfurths Tanzaufnahmen haben erst in der jüngsten Vergangenheit neue Beachtung gefunden; dieser Umstand ist eng mit der Wiederentdeckung des Ausdruckstanzes verbunden.

    2. Die Originale sind heute selten; in den 10er und 20er Jahren hat es jedoch zahlreiche Abdrucke in Büchern und Zeitschriften sowie Postkartenserien gegeben.

    3. Erfurths Bedeutung, seine Stellung in der Tanzphotographie ist bis heute nicht näher untersucht worden.

    Der Verdacht liegt nahe, daß die geringe Beachtung von Erfurths Tanzphotographien in den letzten sechs Jahrzehnten entweder auf eine mindere künstlerische Qualität im Vergleich zu den Porträts oder zu Aufnahmen anderer Photographen zurückzuführen oder aber im Sujet selbst zu suchen ist. Das Bindeglied zur Porträtgalerie bedeutender Zeitgenossen stellen die Porträtaufnahmen von Tänzern dar. Nur zwei von ihnen kann man heute als bekannt voraussetzen, beide zeigen Mary Wigman (7). Andere Aufnahmen, z.B. von Gret Palucca oder Berthe Trümpy, haben es offenbar nicht geschafft, über den durch die abgebildete Persönlichkeit gesteckten Rahmen hinaus eine größere, nicht nur am Tanz interessierte Üffentlichkeit zu erreichen. (8) Dies gilt selbst im Fall der Tänzerin Marianne Vogelsang, wo sich ein Vergleich des bekannten Gemäldes von Otto Dix (1931) mit den Fotoporträts des mit ihm befreundeten Hugo Erfurth geradezu aufdrängen würde. (9)

    Peter Oehmen ist eine erste Zusammenstellung von Erfurths Tanzaufnahmen zu verdanken. Es ergibt sich folgende alphabetische Liste der von Erfurth tanzend Abgelichteten: Charlotte Bara, Maina Claes, Jutta von Collande, Clotilde von Derp, Gertrud und Ursula Falke, Ronny Johannson (10), Valerie Kratina, Lisa Kresse, Gertrud Leistikow, Sent M'ahesa, Ymelda Mendelberg, Gret Palucca, Ellen Petz, Edith von Schrenck, Ellen Tels, Berta und Elsa und Grete Wiesenthal, Mary Wigman. Es fallen sofort einige Besonderheiten ins Auge. Erstens ist natürlich das prozentuale Verhältnis dieser 20 Personen im Gegensatz zu der Vielzahl der von Erfurth porträtierten Persönlichkeiten zu berücksichtigen, auch wenn im Tanzbereich meist eine kleine Anzahl von Aufnahmen von jeder Person entstanden ist. Zweitens hat Erfurth offenbar von den Tänzern nur Frauen, Tänzerinnen photographiert. (11) Dies erweist sich aber bei näherer Betrachtung des überwiegend von Frauen ausgeübten Tänzerberufs als durchaus verständlich, zumal in den Jahren des Ersten Weltkriegs und besonders im Bereich des "freien" Tanzes. Denn drittens fällt auf, daß die Abgelichteten sämtlich dem Bereich des modernen, freien Tanzes zuzurechnen sind, der seine Bühne auf den Konzertpodien fand, und zumindest zu dieser Zeit nicht in fester Anstellung an den Theatern und Opernhäusern standen. Bisher ist auch lediglich ein Beispiel dafür aufgefunden worden, daß Hugo Erfurth auch Theatertänzer photographiert hat: Die kgl. sächs. Solotänzerin Frida Hess in Rollenporträts, die Erfurths Fotos der Opernsänger und Schauspieler aus seiner Zeit kontinuierlicher Theaterphotographie (ca. 1913 - 1919) nahestehen und wenig vom Tanz erahnen lassen. (12)

    Wie und wann also hat Erfurth zur neuen, freien Tanzkunst gefunden, und was hat ihn daran fasziniert? Als Voraussetzung für ein Kennenlernen neuer Formen des künstlerischen Tanzes ist Dresdens Bedeutung als Kulturstadt und Zentrum moderner Kunstentwicklungen zu nennen, die jedoch hier nicht näher dargestellt werden kann. Zunächst waren es allerdings keine Dresdener Tanzerneuerer, die hier auftraten und von Erfurth gesehen und photographiert werden konnten. Wann er zu dem neuen Sujet der Tanzphotographie fand, wäre ohne seine eigene Aussage schwer ermittelbar, denn die Fotos sind entweder undatiert oder tragen das Datum des Abzugs, welches oft etliche Jahre nach dem der Aufnahme anzusetzen ist, - was zu Mißverständnissen geführt hat. So wird ein (zudem stark bearbeitetes) Foto von Grete und Else Wiesenthal im "Lanner-Schubert-Walzer" im Wiener Katalog "Tanz:Foto" nach dem im Abzug angegebenen Datum als 1921 ausgewiesen (S.34/35), ist aber schon 1915 in Fritz Winthers "Körperbildung als Kunst und Pflicht" (noch mit den Schatten etc.) abgedruckt und wahrscheinlich noch viel eher entstanden. Es wird also leicht übersehen, wie früh Erfurth diese Aufnahmen gemacht hat, - ein gravierendes Kriterium bei der Beurteilung seiner Bedeutung als Tanzphotograph. In der bisher spärlichen Sekundärliteratur heißt es meist: "Seit Mitte des Ersten Weltkriegs schuf Hugo Erfurth zahlreiche Aufnahmen der in Dresden lebenden oder gastierenden Vertreterinnen des 'Neuen Tanz'". (13) Erfurth selbst erwähnt seine Tanzaufnahmen nur beiläufig, gibt dabei aber ein wichtiges Datum preis: "1908 nahm ich, um eine andere Einzelheit anzuführen, als erster Photograph die Tänzerinnen Wiesenthal und Sent M'ahesa in schnellen Bewegungen und Sprüngen bei künstlichem Licht auf; von Superpan und Lichtstärke 1,5 ahnte damals kein Mensch etwas." (14) Hierbei meint Erfurth nicht nur, daß er die Geschwister Wiesenthal sowie Sent M'ahesa (ein "ägyptisierter" Künstlername; bürgerlich: Else von Carlberg) als erster unter diesen Umständen photographiert hat, sondern vielmehr, daß er überhaupt als erster bei Kunstlicht Tanz in Bewegung photographiert hat. Die Hervorhebung des Kunstlichtes beweist, wie genau Erfurth die Entwicklung der Photographie verfolgt und mit welchem Pioniergeist er sich dem Sujet genähert hat. Die Wiesenthal-Schwestern sind durchaus bereits im ersten Jahr ihres Auftretens nach dem Ausscheiden aus dem Ballettkorps der Wiener Hofoper, 1907, in Wien in tänzerischer Bewegung photographiert worden, doch war dies im Freien, bei Tageslicht; die Aufnahmen Erfurths anläßlich des Dresdener Gastspiels 1908 sind also tatsächlich die ersten dieser Art. Dies läßt sich sogar verallgemeinern, denn bisher scheinen international lediglich einige wenige Aufnahmen künstlerischen Tanzes, nämlich von der als "Serpentinen-Tänzerin" bekanntgewordenen Loie Fuller (15) , vor diesem Datum und bei Kunstlicht entstanden bzw. heute bekannt zu sein. Diese sind als kaum gelungene Experimente zu werten, Versuche, die in wellen- und spiralförmig wehenden, sehr weitläufigen Seidenkleidern auftretende Tänzerin im Moment der Bewegung abzubilden. Gegenüber den zahlreichen Darstellungen in der bildenden Kunst (auch von Rodin und Toulouse-Lautrec) und den diversen Freilichtaufnahmen wird das Mißlungene an diesen Fotos besonders deutlich.

    In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts entstand die Bewegungsphotographie, die aus heutiger Sicht als eine Vorstufe zum Film zu bewerten ist. Ihre Hauptvertreter sind Es gibt also ganz offensichtlich keine Aufnahmen künstlerischen Tanzes bei Kunstlicht vor 1908, Erfurth ist wirklich der erste in diesem Bereich. Er holt den Tanz ins Atelier und wird der Schöpfer einer neuen Gattung, der eigentlichen Tanzphotographie. Daß er dabei einen eigenen "Erfurth-Stil" entwickelt, wird im folgenden näher zu untersuchen sein. Mit der gleichen Neugier und weiterdenkenden Aufgeschlossenheit für das Neue, mit welcher er photographisches Neuland betritt, wendet er sich auch den neuen Inhalten, d.h. den modernen Formen des Tanzes zu. Er photographiert nicht den herkömmlichen Bühnentanz der Jahre um 1910, das Opernballett in Dresden, sondern den eben entstehenden, maßgeblich durch Isadora Duncan angeregten freien künstlerischen Tanz. Die Wiesenthals und Sent M'ahesa gehören gewissermaßen noch einer Vorläufergeneration dessen an, was sich wenig später als Ausdruckstanzbewegung manifestiert. Erfurth gibt Wiesenthal-Fotos spätestens 1912 auf Ausstellungen, und spätestens 1914 sind Fotos von ihnen, von Ellen Tel(l)s und Clotilde von Derp als "in ihrer Art vollendete Tanzbilder" in der Fotoliteratur veröffentlicht: "Besser in der šbereinstimmung zwischen Form, Charakter und Bewegung konnte kaum ein freischaffender Künstler die Tanzenden im Bilde festhalten." (17) Der Durchbruch zur tanzinteressierten Üffentlichkeit gelingt Erfurth 1913 mit seinen Fotos in der ersten Auflage von Hans Brandenburgs vielbeachtetem Buch "Der moderne Tanz". Hier wird deutlich, daß Erfurth inzwischen nicht mehr der einzige ist, der Tänzer bei Kunstlicht im Atelier abbildet, dabei aber immer noch als einziger den Tanz nicht als gestellte, gehaltene Pose, sondern in der Bewegung photographiert.

    Mit den Serien, die Hugo Erfurth 1912 von Clotilde von Derp aufnimmt, ist ein weiterer Schritt getan: Erfurth wird zum ersten Dokumentaristen des frühen Ausdruckstanzes. Die Bedeutung, welche insbesondere der jungen Clotilde von Derp in der Entwicklung des Ausdruckstanzes zukommt, ist bisher kaum untersucht worden. Aber selbst ein flüchtiger Blick auf den Eintrag zu ihrer Person in Reclams Ballett-Lexikon ("Ihre Seele, so schien es den Zeitgenossen, wurde in ihrem jungen Körper sichtbar") beweist im Vergleich mit Mary Wigmans 1925 publizierter Definition von Ausdruck ("Ausdruck ist Durchbruch unbewußter seelischer Vorgänge zu körperlich bewußtem Zustand") zweifelsfrei Clotilde von Derps Zugehörigkeit zum Ausdruckstanz. Jegliche tanzhistorische Untersuchung dieses Themas wird sich - schon in Ermangelung filmischer Tanzaufzeichnungen - dankbar mit den Fotos von Erfurth auseinandersetzen. Interessanterweise hat Erfurth hier auch im Verhältnis des Photographen zum Kunden eine für den Tanzbereich sinnvolle Neuerung eingeführt, die viele Jahre später etwa von Charlotte Rudolph oder Siegfried Enkelmann fortgeführt wird: Er fertigt Serien von kleinen Rohdrucken zur Auswahl und zum Nachbestellen für den Kunden an, die er auf dunkle Kartons aufklebt, dort mit Schlagstempel signiert und datiert (1912) und rückseitig handschriftlich mit einer Bestellnummer versieht. (18) Tatsächlich hat Clotilde von Derp noch acht Jahre später größere Abzüge dieser Aufnahmen bei Erfurth anfertigen lassen, die er, wie oben bereits erwähnt, dann mit dem Jahr des Abzugs (1920) gestempelt hat.

    Ein weiterer profaner Aspekt im Zusammenhang mit diesen Serien verdient Erwähnung: Da Erfurth ja nicht mit heutiger Technik (z.B. Rollfilm mit automatischem Bildtransport) arbeiten konnte, sind solche "Serien" als ausgefeilte Einzelaufnahmen entstanden, und es ist bekannt, daß sich Erfurth schon für die Porträtaufnahmen viel Zeit nahm. Im Tanzbereich sind Aufwand und erforderliche Kenntnisse oder Fertigkeiten wahrscheinlich höher anzusetzen als in der Porträtphotographie: "Dem Photographen muß gewissermaßen die Bewegungsentwicklung so bekannt sein, daß er beim Eintritt des wirksamen Bewegungsmoments schon bereit ist, ihn als Momentaufnahme festzuhalten." Er muß es verstehen, "das Auge systematisch zur Beobachtung bewegter Vorgänge zu erziehen und sich eine außerordentliche Fertigkeit in der Handhabung der Kamera" aneignen (K. Weiss 1914 am Beispiel Erfurths, s. Anm.17). Insofern ist einer solchen Foto-Serie ein erheblicher Aufwand vorangegangen, und Aufnahmen des prominenten, "durch seine selten schönen photographischen Bildnisse besonders in Künstlerkreisen hochgeschätzten Dresdener Lichtbildners" (ebd.) waren gewiß nicht billig. Folglich wird es nicht jeder Tänzerin so wie Clotilde von Derp, gebürtige Edle von der Planitz, möglich gewesen sein, sich von Hugo Erfurth in einer kleinen Anzahl Aufnahmen desselben Tanzes photographieren zu lassen. Zumal die Fotos weniger zu Dokumentations-, als zu Werbezwecken angefertigt wurden und daher eher die Vielfalt des Programms bzw. Repertoires widerspiegeln sollten.

    Nur zwei der von Erfurth photographierten Tänzerinnen sind heute tanzgeschichtlich Unbekannte: die wohl erst in den 20er Jahren auftretende Maina Claes sowie Ymelda Juliewna Mentelberg (auch: Mendelberg), welche offensichtlich noch vor Mary Wigman bei Rudolf von Laban ausgebildet wurde. šber die Aufnahmedaten ihrer bisher nur im Abdruck vorliegenden Fotos ist nichts bekannt. Eine weitere Vertreterin des frühen Ausdruckstanzes war Gertrud Leistikow, die ebenfalls (wie die Wiesenthals und Clotilde von Derp) durch Erfurth-Fotos schon 1913 in der ersten Auflage von Brandenburgs Buch vertreten ist. Für die Fotos vieler anderer Tänzerinnen ergeben sich - natürlich nicht nur bei Erfurth-Fotos - Datierungsunsicherheiten. Lediglich das Werk der Mary Wigman ist derart erforscht, daß durch die Entstehung des jeweiligen Tanzes ein Anhaltspunkt oder terminus post quem für die Datierung des Fotos gegeben ist. Mary Wigman war bis 1912 in Hellerau bei Dresden in der "rhythmischen Bildungsanstalt" ausgebildet worden und kannte nicht nur Brandenburgs Buch, in dessen 2. Auflage (entstanden 1914, erschienen 1917) sie v.a. mit Freilichtaufnahmen vertreten ist, sondern bald auch den Verfasser selbst. Es gibt also mehrere Möglichkeiten, wie es zum ersten Kontakt mit Erfurth und den ersten Fotos ("Hexentanz", 1914) gekommen sein kann, ohne daß es ein so frühes Dresdener Gastspiel von ihr gegeben hat, wie das bei den meisten anderen Tänzerinnen anzunehmen und vermutlich nachzuweisen ist. Die Wigman wird die bedeutendste der von Erfurth photographierten Tänzerinnen, und mit ihr ist auch die "Ansiedelung" des modernen Tanzes in Dresden eng verknüpft. Sie hat, eingeladen von Will Grohmann und Lasar Segall (19), ihr erstes Gastspiel in Dresden im November 1919. Mary Wigman bleibt - v.a. wegen des großen Erfolges, der ihr zuvor in Berlin nicht beschieden war - in Dresden, gibt Unterricht und weitere Abende und soll die Tanzleitung an der Oper übernehmen. "Das Ballett ist [...] so verkommen, daß man gleich mit dem Aufbau beginnen kann und nicht viel zu stürzen hat", schreibt sie an eine in Zürich verbliebene Assistentin. Das Vorhaben scheitert jedoch im letzten Moment, und stattdessen eröffnet Mary Wigman in Dresden ihre bald berühmte erste Schule für modernen Tanz. Zu den Kollegen, die Mary Wigman in ihr neues Ensemble an die Oper holen wollte, zählen aus der Hellerauer Ausbildungszeit Valerie Kratina und aus der Zeit bei Laban in Ascona die Hamburgerinnen Gertrud und Ursula Falke, alle spätestens 1920 ebenfalls von Erfurth tanzend photographiert. Unter den "Meisterschülern" und Tanzgruppenmitgliedern bei der Wigman ist dann schließlich Gret Palucca hervorzuheben, die sich 1923 von der Wigman zugunsten der solistischen Karriere löst und etwa 1925/26 von Hugo Erfuth tanzend abgelichtet wird - vielleicht seine letzten Tanzfotos.

    Hugo Erfurth hat spätestens 1912 mit den Aufnahmen von Clotilde von Derp seinen eigenen Stil für Tanzaufnahmen gefunden. Er photographiert also im Studio und bei starkem Kunstlicht (20) und kreiert einen bestimmten Typus des Tanzfotos. Fast ausnahmslos nimmt er einfache helle Hintergründe mit einem dunklen oder halbdunklen Fußboden (Teppich, Parkett). Er bezieht den Schatten des Tänzers in die Bildkomposition ein. (21) Gemäß seinem "niemals preisgegebenen Leitsatz, wahr, klar und lebensecht zu sein" (s. Anm. 3), ist er bemüht, nur tatsächlichen Tanz und keine gestellten Posen aufzunehmen; gelegentlich unbewegt wirkende Fotos erweisen sich in der Regel dennoch als während des Tanzes abgelichtet. Dadurch unterscheidet sich Erfurth deutlich von den anderen Tanzphotographen der 10er und frühen 20er Jahre, wie etwa Hanns Holdt in München, der zu diesem Thema schreibt: "Man sehe sich den ganzen Tanz aufmerksam an, merke oder notiere sich die bildwirksamsten Stellen und veranlasse die Tänzerin, diese Stellen langsam zu wiederholen. Am besten wähle man šbergangsstellungen, wo der Körper einen Moment in ruhiger Pose verweilt." (22) Erfurth bevorzugt Sprünge, er porträtiert den Tanz und nicht unbedingt den Tänzer, weswegen das Gesicht oft in der Unschärfe oder im Dunklen versinken darf und manchmal mehr als abgewendet erscheint. Ein Sprung kann bei ihm auch dann interessant aussehen, wenn er in die Höhe geht und frontal wirkt (Holdt dagegen postuliert: "Alle zu starken Verkürzungen sind zu vermeiden, die ganze Bewegung sei mehr im Relief."; a.a.O.). Auch vermeidet Erfurth jeden erotischen Touch, die Durchsichtigkeit von Tanzgewändern bezieht sich nicht - wie bei Kollegen - auf den Oberkörper der Tänzerin. Der "Erfurth-Touch" liegt in der Ablichtung der wirklichen tänzerischen Bewegung, in der damit damals notwendig verbundenen Unschärfe, der geringen Tiefenschärfe und beider künstlerischem Einsatz, in gelegentlich silhouettenhaften Wirkungen, im malerischen Umgang mit der Kamera. Erfurths Aufnahmen stellen eine Form der künstlerischen Dokumentation dar; der transitorische Charakter des Tanzes ist dokumentiert und überwunden zugleich. Und aus heutiger Sicht ist die Bedeutung der Tanzphotographien von Hugo Erfurth neu zu bewerten. Während jüngere Generationen jahrzehntelang mit Hilfe des fototechnischen Fortschritts einem gestochen scharfen Tänzer-Abbild nachjagten oder mit Montagen und Mehrfachbelichtungen experimentierten, hat sich in den letzten Jahrzehnten eine neue Anerkennung des künstlerischen Wertes bewegungsbedingter Unschärfen durchgesetzt, wie sie sich beispielsweise in einigen Fotos der Drehmonotonie (zu Ravels Bolero) bei der Tänzerin Dore Hoyer in Fotos von Annemarie Heinrich findet oder in der "photographie mouv‚e" Michael Fackelmanns. (23) Einige Charakteristika Erfurth'scher Tanzfotos sind wieder aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Die Dynamik des Tanzes, wie sie zu seiner Zeit nur Erfurth eingefangen hat, ist bei der Bewertung der Tanzphotographie wieder in den Vordergrund getreten.

    Mitte der 20er Jahre scheint das tanzphotographische Schaffen Hugo Erfurths nach fast zwei Jahrzehnten ein Ende gefunden zu haben. Es muß noch einmal betont werden, daß Erfurth selbst seine Tanzfotos nur als Randbereich seines Schaffens angesehen hat, und daß auch nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Fotos dieser Art entstanden sind. Sicherlich stand also seine wenige Jahre zuvor verstärkt aufgenommene Tätigkeit als Porträtphotograph bedeutender Zeitgenossen, verbunden mit den Kunstausstellungsaktivitäten so sehr im Vordergrund, daß für die Tanzfotos auch kaum Zeit geblieben wäre. Dennoch sind hier auch andere Gründe für die Aufgabe der Tanzphotographie zu benennen. Im Juni 1924 läßt sich die Palucca von Charlotte Rudolph photographieren: "Will Grohmann kannte und empfahl sie mir. Sie sei eine junge Photographin, die einen Erfolg nötig brauchen würde. Sie hatte kein Atelier. Da fuhren wir in die sächsische Schweiz. [...] Diese Sprünge sind photographisch so gelungen, daß sie sich dadurch einen Namen machen konnte. Sie wurde eine sehr bekannte Tanzphotographin [...]" (24) Noch im gleichen Jahr hat sie ein Atelier zur Verfügung und photographiert die Sprünge der Palucca auch bei Kunstlicht, und 1925 kommt auch Mary Wigman zu Tanzfotos zu ihr, woraufhin sie deren "Hausphotographin" (bis 1942) wird und überwiegend nur noch Tanzaufnahmen macht. Sie ist aber nicht nur vom Sujet her eine, noch dazu hauptberufliche, Konkurrentin Hugo Erfurths in der Tanzphotographie, denn in Dresden war zu dieser Zeit u.a. auch Ursula Richter (25) als Photographin des modernen künstlerischen Tanzes erfolgreich tätig. Charlotte Rudolph benutzt nämlich außerdem gerne helle Hintergründe und dunkle Böden, bezieht den Tänzerschatten in ihre Komposition mit ein und zeigt vor allem Sprünge und den Tanz in Bewegung. Sie unterscheidet drei Formen der Tanzphotographie: die widersinnige Stellungsaufnahme, bei welcher der Tänzer eine Pose einnehmen und halten muß, die "Bewegungsaufnahme", bei welcher der Tänzer eine bestimmte Bewegung so lange wiederholen muß, bis man sie "endlich" auf der Platte hat, und das "tänzerische Lichtbild": "Das tänzerische Lichtbild ist also jenes, das während des Tanzes aufgenommen wird. Der tänzerisch-richtige Moment und der bildmäßige Moment sind vereint. Handelt es sich nicht gerade um einen stark bewegten Moment, so kann es bei flüchtigem Betrachten scheinen, daß das tänzerische Lichtbild den Eindruck eines Stellungsbildes macht. Bei intensiverem Betrachten, vor allem, wenn man versucht, sich in die Bewegung einzufühlen, wird man jedoch leicht feststellen können, daß dies nicht der Fall ist, daß es unmöglich ist, selbst eine einfache Bewegung zu halten, ohne den Ausdruck, sei es hier oder da, zu verlieren. [...] Die Grundformel für meine photographische Arbeit ist, den Tänzer in jedem Moment als plastisch-räumliche Gestalt wiederzugeben. Die tänzerische Bewegung soll rein und klar dargestellt werden." (26)

    Diese Auffassung von Tanzphotographie kommt uns bekannt vor. Hat Hugo Erfurth unter anderem Namen im Tanzbereich weitergearbeitet? Wie kommt es dann, daß eine fremde Person Erfurth's künstlerisches Credo im Bereich der Tanzphotographie so vollständig und ohne Protest übernehmen und in kurzer Zeit auch weiter vervollkommnen konnte? Die Erklärung liegt auf der Hand und ist durch eine von Angelika Beckmann aufgefundene Information inzwischen bewiesen: Charlotte Rudolph war Hugo Erfurths Schülerin. Vielleicht sind ihre ersten Kunstlicht-Tanzaufnahmen sogar in seinem Atelier entstanden, vielleicht, so möchte man mutmaßen, stand er sogar wohlwollend daneben. 1925 oder 1926 entstehen noch einige Tanzaufnahmen Erfurths von der Palucca. Das ist bereits nach der Entstehung der ersten, so erfolgreichen Palucca-Sprungfotos durch die Rudolph. Besonders der große Sprung mit dem Blick über ein imaginäres Hindernis und die wie zur Aufmerksamkeit dort befindlicher Personen aufrufende Gestik von linkem Arm und linker Hand gemahnen an die photographische Meisterschaft und langjährige Erfahrung. Ein letzter Kräftebeweis gegenüber der Schülergeneration?

    Anmerkungen:
    1) Da in den Ausstellungskatalogen der letzten Jahre oft noch Unklarheit über die Lebensdaten mancher Tanzphotographen herrscht, hier einige Informationen: Charlotte Susanne Rudolph, geb. am 11.07.1896 in Dresden als Tochter des Sekretärs bei der Reichsministerialkasse und späteren Rechnungsrats Johann Heinrich Rudolph und seiner Ehefrau Johanna Christiane Helene, geb. Haug; als Photographin auf Tanz spezialisiert; 1938/39 Übernahme des Ateliers der eben verstorbenen Genja Jonas; gest. am 02.09.1983 in Hamburg. – Die 1994er Ausgabe von "Dance on Disc" der New York Public Library Dance Collection hat immerhin fünf Einträge zu Erfurth aufzuweisen: eine Abbildung in einem Buch und vier Bilder eines Zigarettensammelbilderalbums.

    2) Bemerkenswert, daß 1930 (21.–28.Tsd.) und 1935 (29.–36.Tsd.) das als Frontispiz gewählte Erfurth-Foto von Clotilde von Derp-Sakharoff, im 1.–14.Tsd. 1928 ohne Photographenangabe, aber mit noch lesbarem Erfurth-Schlagstempel rechts unten, nun "Dührkoop-Hamburg" zugeschrieben wird – ist Erfurths Stil zu dieser Zeit schon nicht mehr eindeutig erkennbar?

    3) In: Meister der Kamera erzählen, wie sie wurden und wie sie arbeiten, hrsg.v. Wilhelm Schöppe, Halle-Saale: 4.–6.Tsd. 1937, S.10

    4) Die Vorlagen des o.g. Buches von Aubel im Verlag Langewiesche in Königstein bei Frankfurt überstanden den Krieg und wurden von der Österreichischen Ludwigsstiftung für Kunst und Wissenschaft angekauft. Außer dieser Sammlung tauchten bisher nur zwei Konvolute von je 9 Erfurth-Tanzfotos im November 1991 auf der Auktion 670 bei Lempertz in Köln auf, wo sie in erstaunlicher Ignoranz als "Tanzfiguren" zusammengefaßt wurden und man auf die Nennung der rückseitig z.T. angegebenen Namen der Tänzerinnen verzichtete. (Erworben von der Galerie Bodo Niemann, Berlin).

    5) Robertson, Hans Robert: geb. 08.05.1883 in Hamburg, arbeitete u.a. im Atelier von Albert Steiner in St. Moritz, noch Ende 1927 mit Lili Altschul (Baruch) gemeinsamer Inhaber des auf Tanz spezialisierten Berliner Ateliers Baruch (Kurfürstendamm 201), dann selbständig (Kurfürstendamm 200), unterrichtete im Fach mit Erlaubnis des Provinzial-Schulkollegiums Brandenburg, emigrierte 1933 über die Schweiz, wo er Inger Vera Kyserlinden, geb. Levin heiratete, nach Dänemark; verstorben ebd. in Vangede am 11.09.1950. Det Kongelige Bibliotek in Kopenhagen besitzt seinen Nachlaß mit ca. 3000 Originalabzügen aus allen Schaffensperioden und einer großen Anzahl von Negativen aus der Zeit von 1934-50. Vgl.: Dansk Biografisk Leksikon, Bd. 12, 3 udg., Kopenhagen 1982; ferner: Henrik Dupont: Bruno Schleifer, Hans Robertson, Hermann Decker. Photographen. In: Exil in Dänemark. Deutschsprachige Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller im dänischen Exil nach 1933. Hrsg. v. W.Dähnhardt, Br.S.Nielsen. Heide 1990, S. 367–377.

    6) Enkelmann, Siegfried: geb. 24.12.1905 in Krasnopol/Rußland, ab 1927 Schüler im Fotoatelier C.H.Nolte, Berlin, vom 01.08.1928–31.08.1932 in fester Anstellung bei Robertson, dann wegen der schlechteren Wirtschaftslage "nach Bedarf", übernahm zum 01.07.1933 mit bestem Zeugnis Robertsons Atelier, "Namen und Arbeit"; verstorben in München am 10.01.1978. (Nachlaß im Deutschen Tanzarchiv Köln, Rechte bei der VG Bild-Kunst, Bonn). Enkelmann wurde der führende deutsche Tanzphotograph vor allem der 50er und 60er Jahre; seine Ehefrau und Mitarbeiterin Irene Enkelmann war Schülerin von Hans Robertson.

    7) Vgl.: Bildnisse Hugo Erfurth, Aus der photographischen Sammlung der Folkwangschule Essen, Museum Folkwang Essen 1961, Titelbild, und Bernd Lohse (Hrsg.): Hugo Erfurth 1874 – 1948, Der Photograph der Goldenen Zwanziger Jahre, Seebruck 1977, S. 190 (Aufnahme: ca. 1928).

    8) Palucca-Porträts von Erfurth in ihrem Privatbesitz (heute Akademie der Künste Berlin) und in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, Abt. Deutsche Fotothek; vgl. den Katalog "Künstler um Palucca", Staatliche Kunstsammlungen Dresden/Kupferstich-Kabinett 1987, S.38. Eine Aufnahme von Berthe Bartholomé-Trümpy, 1921, im Wigman-Nachlaß in der Berliner Akademie der Künste.

    9) Das Bild von Dix befindet sich in der Nationalgalerie Berlin (Ost), zwei Vogelsang-Porträtfotos von Erfurth sind abgebildet bei Schöppe 1935/37 (s. Anm. 3) und in "Das Atelier des Photographen/Gebrauchsphotographie", 1938, H.3, S. 41. Da bereits 1935 nur noch die Angabe "Die Tänzerin Vogelsang" gemacht werden kann, ist an ein früheres, dem Dix-Gemälde nahestehendes Aufnahmedatum zu denken. Erfurth ergänzt für die Konstanzer Ausstellung 1947 den Vornamen versehentlich als "Vera", vielleicht in vager Erinnerung an die Tänzerin Vera Skoronel; Oehmen übernimmt diesen Fehler aus dem Konstanzer Katalog; Negativ im Nachlaß in Gaienhofen. Gret Palucca erinnert sich an eine Folge von Porträtsitzungen für Dix: "Dann kam aber diese unglückselige Sache mit meinem Porträt. Er wollte mich malen, nachdem er mich schon gut kannte. Das ist jedenfalls vor 1927 gewesen. [...] In dem großen Zimmer von Fritz Bienert in der Bibliothek sollte ich mich auf den Stuhl setzen. Ich sagte ihm, daß ich ungern sitze. Ich bin kein Sitzmensch, ich stehe lieber, schon durch das Tanzen und Unterrichten. Ich kann auch liegen, aber ich wollte nicht sitzen. Da sagte er: 'Nein, Du setzt Dich hin, und damit man etwas von der Tänzerin sieht, hebst Du irgendwie den Arm.' Das mochte ich gar nicht, das wirkte so heroisch. [...] Dix war nicht umzustimmen. [...] und ich saß völlig steif da. Schließlich fand er: 'Das wird hier nichts.' [...] Er hatte keine Zeichnungen vorher gemacht, sondern gleich das Bild begonnen. In der Kesselsdorfer Straße fing er wieder an. Ich hatte schon Zweifel, ob das noch etwas wird. Plötzlich sagte er: 'Du hast einen unmöglichen Mund, mit Deinem Mund komme ich nicht zurecht.' [...] Bei der nächsten Sitzung sagte er dann plötzlich: 'Jetzt werf' ich Dich raus. Das wird nichts mit Dir.' [...] Vielleicht hat es Dix nicht so gelegen, mich als Tänzerin oder stehend zu malen. Er hat ja auch Marianne Vogelsang nicht als Tänzerin gemalt. Es ist ein sehr schönes Bild, ein Porträt, das wirklich Marianne erfaßt." ("Künstler um Palucca", S. 28). – Eine Rötel- und Kreidevorstudie zum Vogelsang-Gemälde ist im Katalog "Otto Dix zum 100. Geburtstag" der Galerie Remmert und Barth, Düsseldorf 1991, S. 73 abgebildet.

    10) Die von Oehmen ferner geführte "Ranky Johannsen" ist auf Fehler in Oehmens Vorlage, dem Buch "Tänzerinnen der Gegenwart" (s. Anm. 11), zurückzuführen und dort bereits bei den Bildbeschreibungen korrigiert.

    11) Der bisher einzige Hinweis auf ein Foto mit einem Tänzer männlichen Geschlechts erweist sich als Fehler in der Publikation "Tänzerinnen (!) der Gegenwart, 57 Bilder, erläutert von Fred Hildenbrandt", Schaubücher Nr 18, hrsg. von Dr. Emil Schaeffer, Zürich u. Leipzig: Orell Füssli Verlag 1931. In der offensichtlich 1. Ausgabe heißt es auf dem Schmutztitel richtig: "Umschlagbild Mira Karinoff mit ihrem Partner, Phot. A. Binder, Berlin", auf S. 14 jedoch irrig: "Umschlagbild: Erfurth, Dresden"; in der offensichtlich 2. Ausgabe (die auf S. 14 eine Korrektur zu Abb. 38 vermerkt) heißt es auf dem Schmutztitel irrig: "Umschlagbild Lisa Kresse" und in der Rubrik "Herkunft der Bilder" ist weiterhin Erfurth für den unveränderten Umschlag, der wohl die 57. Abbildung darstellt, angegeben. Der Verwirrung noch nicht genug, nennen auch beide Ausgaben auf dem Einband die Zahl von 65 (statt 56?) Bildern.

    12) in einer Postkartenserie (Nrn 1768, 1770, 1771) im Theatermuseum der Universität zu Köln, in der Sächsischen Landesbibliothek, Abt. Deutsche Fotothek, Dresden und in der Privatsammlung Horst Milde, Dresden.

    13) Tanz:Foto, Annäherungen und Dokumente 1880 – 1940, hrsg. von Monika Faber, Üsterreichisches Fotoarchiv im Museum Moderner Kunst, Wien 1990/91, S. 120.

    14) wie Anm. 3

    15) Wobei die Frage des tänzerischen Wertes ihrer Arbeiten umstritten ist: "Hatte nie eine richtige Tanzausbildung, sondern begann in Show-Produktionen und führte in solch einem Stück 1890 einen Serpentinentanz aus, der hauptsächlich auf dem Effekt fließender Seidenbahnen beruhte. Sie fand damit so ungeheuren Anklang, daß sie sich ganz auf die Darbietung von Soloakten konzentrierte, die mit Tanz zwar kaum etwas zu tun hatten, die Zeitgenossen des Jugendstils aber faszinierten [..] Obwohl sie Isadora Duncan 1901 nach Berlin und Wien brachte, kann man sie schwer als Pionierfigur des Modern Dance reklamieren." (Reclams Ballettlexikon). – Vgl. ansonsten insbesondere Hélène Pinet: Ornement de la Durée, Paris: Musée Rodin 1987; Gabriele Brandstetter/Brygida Maria Ochaim: Loie Fuller. Tanz, Licht-Spiel, Art Nouveau, Freiburg 1989; Giovanni Lista: Loie Fuller. Danseuse de la Belle Epoque. Paris 1994; Jo-Anne Birnie Danzker (Hrsg.): Loie Fuller. Getanzter Jugendstil. München, New York 1995. – Außerdem können an dieser Stelle von Peter Elfelt 1903/1905 gemachte Aufnahmen der Bournonville-Tänzer Hans Beck, Valborg Guldbrandsen und Ellen Price de Plane als interessante, aber unbefriedigende Versuche angeführt werden. Siehe hierzu: Knud Arne Jürgensen: The Bournonville Ballets. A photographic record 1844–1933. London 1987.

    16) Vgl. Antonine Meunier: La danse classique, Paris o.J. (1931), S. 41–43, sowie (lt. Meunier) die Comptes rendus de l'Académie de Genève, 1885, S. 274; sie gibt an, daß ein Album mit Originalen in der Bibliothèque de l'Opéra in Paris hinterlegt sei (und heute noch dort aufbewahrt wird).

    17) Ausstellung 1912 in London; Karl Weiss: Künstlerische Bewegungsdarstellung in der Photographie, in: "Photographie für alle", Zeitschrift für alle Zweige der Photographie, 3.Jg. 1914, Nr 4/2. Febr.-H., insb. S. 75f. – Leider war es im Rahmen dieses Artikels nicht möglich, Zeitschriften und Zeitungen systematisch auf Abdrucke von Erfurth-Fotos durchzusehen; als Beispiele möglicher Entdeckungen seien hier die vier Erfurth-Fotos von Charlotte Bara in der "Berliner Illustrirten Zeitung", 1922, Nr. 6, S. 107, das Foto von Lisa Kresse im "Deutschen Camera Almanach", Jg.12-1921, S. 64, oder von Edith von Schrenck, ebd.Jg.15-1924, S. 53, angeführt.

    18) Teile dieser Rohdruckserien von Clotilde von Derp befinden sich im Sakharoff-Nachlaß und als Stiftung von Wolfgang Keilhold im Deutschen Tanzarchiv Köln. Weiterführende Literatur zu Clotilde von Derp und ihrem Partner und Ehemann Alexander Sakharoff: Veroli, Patrizia (Hrsg.): I Sakharoff, un mito della danza fra teatro e avanguardie artistiche, Bologna 1991.

    19) Auch in dessen Nachlaß-Museum in Sao Paulo befindet sich ein Erfurth-Foto von Mary Wigman.

    20) Exakte Angaben über die Lichtstärke fehlen; Siegfried Enkelmann beispielsweise verwendete in den 30er Jahren für seine Tanzaufnahmen eine 15000-Watt-Lichtanlage – vgl. Werner Suhr: Der Tanz in der photographischen Wiedergabe, in: "Photo-Graphik", Heft 24/ 1939, S. 17. Vgl. auch Herbert Starke: Tanz im Atelier, in: "Das Atelier des Photographen/ Gebrauchsphotographie", Berlin, 45. Jg. 1938, H. 11.

    21) Leider sind viele Erfurth-Fotos zum deutlicheren Abdruck durch starke Retuschen, Freistellen des Tänzers unter Verlust des Schattens und etwaiger Unebenheiten des Hintergrundes, Schwärzen und Ansetzen des Bodens etc. verfremdet worden. Aber auch Erfurth selbst hat gekonterte Abzüge hergestellt, retuschiert und namentlich im Palucca-Sprungfoto mit dem Weglassen oder Einzeichnen von Schatten experimentiert.

    22) Holdt, Hanns (1887–1944, war ab 1913 Tanzphotograph in München, ab 1934 Theaterphotograph): Betrachtungen über Bühnen- und Tanz-Aufnahmen, in: "Deutscher Camera Almanach", Ein Jahrbuch für die Photographie unsere Zeit, 11. Bd. Berlin 1920, S.45–50, hier 48.

    23) So läßt etwa Wingler 1951 keinen Zweifel daran, daß in der Anwendbarkeit des Elektronenblitzes für die Tanzphotographie künstlerische Chancen "durch die sich aus šberspitzung und šberpräzisierung ergebende Phantastik eröffnen", ihr aber auch Grenzen gesetzt sind (Karl Maria Wingler: Das Bildnis der modernen Terpsichore, in: "Photo-Magazin", Jg.3-1951, Juniheft, S.31–35, hier 32). – Eckhard Kuhlbrodt: Photographie mouvée, Zur Grenzsituation der Tanzphotographie, in: "Das Tanzarchiv", Jg.10-1962, H. 2, S.46–52, hier 51: "In den letzten Jahren mehren sich Bestrebungen, der Tanzphotographie eine Eigenständigkeit auch in künstlerischer Hinsicht zuzugestehen und sie aus ihren primär kommerziellen und dienenden Bindungen zu lösen. Seitdem tritt eine Reihe neuartiger Richtungen an die Seite der konventionellen Tanzphotographie. Diese photographische Vorhut, die zunehmend Beachtung und Anerkennung findet, beschäftigt sich mehr mit dem Tanz als mit dem Tänzer; sie entwickelt neue Techniken und Bildauffassungen, die alle Möglichkeiten der künstlerischen Umprägung des Tanzes einbegreifen: freie Wahl des Blickwinkels (d.h. Abkehr von der Ausschließlichkeit der Totalen), teilweiser oder gänzlicher Verzicht auf Schärfe (Arbeit mit Bewegungs- und Einstellungsunschärfe) und schließlich Einbeziehung des üblicherweise vermiedenen Korns, das eine Art photographischen 'Pointillismus' hervorbringt, wie er in den Bildern der impressionistischen Malerei [...] als Kunstmittel Verwendung fand. Die 'photographie mouvée' ist eine dieser neueren Strömungen."

    24) Palucca, in: Künstler um Palucca, a.a.O., S. 29

    25) Richter, Irma Ursula Johanna, geb. 23.06.1886 in Radebeul, nach Vermutung ihres Sohnes Autodidaktin, v.a. Porträtphotographin, ferner Theateraufnahmen, im Tanzbereich sowohl von modernen freien, als auch von Theatertänzern; gest. 09.08.1946 in Greifswald. Erwähnenswert ist auch Erica Stroedel, geb. 04.04.1899 in Löbau, von 1916–1919 bei Hugo Erfurth ausgebildet, dann ein halbes Jahr Gehilfin bei C.J.von Dühren in Berlin, danach Mitarbeiterin im Atelier von Genja Jonas in Dresden, ab 1928 eigenes Atelier mit Lucie Imbach, spezialisiert auf Kinderfotos; von Tänzern wurden bisher nur Porträts von Helge P. Pawlinin (Deutsches Tanzarchiv Köln), Wigman und Palucca (Kupferstich-Kabinett, Dresden) aufgefunden sowie Abdrucke: Palucca-Gruppe, Hertha Korinek, Herta Köhler; 1938 vom Kreisfachgruppenwalter Flachs der Deutschen Arbeitsfront "Das Deutsche Handwerk" gezwungen, sich von Lucie Imbach und der Mitarbeiterin Hilde Burgheim zu trennen und das Atelier alleine fortzuführen, "da ich keinesfalls bereit bin, mir anzusehen, daß deutsche Volksgenossen gemeinsam mit Jüdinnen arbeiten bzw. sich von denselben anleiten und befehlen zu lassen."; gest. 06.09.1984 in München.

    26) Charlotte Rudolph: Das tänzerische Lichtbild, in: "Tanzgemeinschaft", Jg.2/1930, 1.Vierteljahresheft, S.4–6, hier 6. Vgl. auch dies.: Tanzphotographie, in: "Schrifttanz", Jg.2/1929, H.2, S. 28f.


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  • Nr. 2: War Harald Kreutzberg ein "alter Nazi"?

    TANZWISSENSCHAFT 2

    Frank-Manuel Peter:
    War Harald Kreutzberg ein "alter Nazi"?
    Anläßlich der neuen Publikation "Tanz unterm Hakenkreuz" von Lilian Karina und Marion Kant

    Abstracts:
    Eine neue Buchpublikation über Tanzpolitik im Dritten Reich enthält eine Vielzahl bisher unbekannter Dokumente, weist in der wissenschaftlichen Behandlung des Themas jedoch erhebliche Mängel aus.

    A new book about dance politics in the Third Reich makes accessible about one hundred unknown documents but reveals as suffering from important faults in scientific treatment of the topic.

    Text:
    Es geschah im März 1996. Eine befreundete Hamburger Tänzerin, die in ihrer Wohnung u.a. ein Plakat der Kölner Photoausstellung über Harald Kreutzberg aufgehängt hatte, bekam Besuch. "Was, mit diesem alten Nazi dekorierst Du Deine Wände?" war der erstaunte Kommentar zum Plakat. Der Besucher hatte gerade einen "Kulturweltspiegel"-Beitrag im seriösen Ersten Fernsehprogramm (ARD) über Tanz im Dritten Reich gesehen. Verfaßt war der Bericht von Tilman Jens (1). Der Beitrag war sehr erhellend, erfuhr man doch endlich erstmals, daß alle Tanzgrößen der Zwanziger Jahre, namentlich Laban, Wigman, Palucca und Kreutzberg, spätestens in den Dreißigern zu überzeugten Nazis wurden und dies nach 1945 gut zu verstecken wußten. So hieß es im Fernsehen zu Kreutzberg (ohne weitere Informationen): "Mit Bravour vermochte der Bewegungskünstler Harald Kreutzberg sich nach dem Krieg seiner einstigen Identität zu entledigen: als Goebbels' tanzender Botschafter 1937 auf der Weltausstellung etwa."

    Anlaß des Fernsehberichtes war eine erst zehn Wochen später endlich auch im Handel erhältliche Buchneuerscheinung von Lilian Karina und Marion Kant: "Tanz unterm Hakenkreuz. Eine Dokumentation". Auf dem Einband ist unter dem ersten Teil des Buchtitels ein Photo von Alexander von Swaine in einem Tanz mit dem - für das Buch vielversprechenden - Titel "de profundis" abgebildet.(2) Daß von Swaine nicht als typischer "Tänzer unterm Hakenkreuz" ausgewählt wurde, sondern an ihn erinnert werden soll als an einen der "ermordeten, vertriebenen, vergessenen Tanzkünstler wie Viktor Gsovsky, Sascha Leontiew, Josef Lewitan" (Text auf dem hinteren Einbanddeckel), erfährt man erst mitten im Buch anläßlich von Dokumenten über seine Verfolgung als Homosexueller.

    Die beiden Autorinnen bringen gute Voraussetzungen für eine solche Dokumentation mit: Lilian Karina, eine bei Eugenie Eduardowa und Viktor Gsovsky ausgebildete Ballett-Tänzerin, verließ 1936 selbst Deutschland und kann aus erster Hand von ihren Erfahrungen und denen der befreundeten Kollegen berichten; in Schweden, wo sie die Problematik von Immigration und Arbeitserlaubnis am eigenen Leib erfuhr, konnte sie sich schließlich als Pädagogin niederlassen und publizierte auch über modernen Tanz. Marion Kant ist die wohl profilierteste Tanzwissenschaftlerin der jüngeren Generation in der DDR gewesen.(3)

    Ausgangspunkt der Veröffentlichung war ein noch zu DDR-Zeiten erfolgter Hinweis einer anderen Autorin des gleichen Verlags auf umfangreiche Dokumentenbestände zum Tanz im Dritten Reich im Potsdamer Staatsarchiv. "Nach schier endlosen Telefonaten, Briefen, Gesuchen, Anträgen" konnte Lilian Karina endlich im Oktober 1987 von Berlin nach Potsdam fahren. "Das Material - dicke Archivmappen, ungeordnete staubige Pakete, mit Bindfäden verschnürt - war seit Jahrzehnten nicht angerührt worden, schien seit der Nazizeit von niemandem gelesen worden zu sein. Ich merkte, wie alle diese Briefe mit ihren Randbemerkungen, Gesuche, Klagen, Anklagen, Denunziationen, Rezensionen, Zeitungsartikel, Notizen etc. immer mehr zur eigentlichen Inspiration für mich wurden [...]. Und dies geschah durch die geradezu von mir erzwungene Erlaubnis, all die Dokumente fünfzig Jahre später lesen zu dürfen."

    Diese Dokumente (Auswahl und Redaktion: Marion Kant), ergänzt mit solchen aus anderen Archiven wie dem Berlin Document Centre, machen den Hauptteil des Buches aus. Unschätzbares Quellenmaterial zur Tanzpolitik im Dritten Reich wird damit erstmals veröffentlicht. Außerdem enthält das Buch auf den ersten ca. 70 Seiten die Erinnerungen, Erfahrungen und Erläuterungen von Lilian Karina, bereits im Vorwort ausgewiesen als "weder eine wissenschaftliche Analyse, noch ein biographischer Bericht", und ebenfalls von ihr einen Text (gut 20 Seiten) über "Labans Weg von der Staatsoper zum Propagandaministerium". Marion Kant half ihr dabei und veröffentlichte außerdem einen eigenen "Essay" von ca. 100 Seiten zur Tanzpolitik des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda.

    Es besteht gar kein Zweifel, daß dies schon allein wegen der zumeist unbekannten Dokumente die bisher wichtigste deutsche Publikation zum Tanz im Dritten Reich ist. Auch einige Hinweise aus persönlichen Gesprächen Karinas mit Beteiligten wurden erstmals publiziert. Der Weg, den der Tanz und insbesondere seine beiden kontrahierenden Hauptvertreter Laban und Wigman mit großem Anpassungsvermögen und eigenem Engagement direkt in den von der nationalsozialistischen Verwaltung vorgegebenen neuen "deutschen" Rahmen genommen haben, um von den politischen Veränderungen zu profitieren, ihre Positionen zu halten oder zu stärken, ist überzeugender bisher wohl nicht darstellbar gewesen. Auch auf einige Voraussetzungen dieser Entwicklung, wie auf die schon 1912 von Max Merz bezüglich der Ausbildung in der Duncan-Schule geäußerten "rassischen" Überlegungen und auf Rudolf Steiners größeren Einfluß wird hier meines Wissens erstmals hingewiesen. Das Buch kann insofern nur dringend zur Anschaffung und Lektüre empfohlen werden. Dennoch bin ich mit dem durch den Titel suggerierten, aber nicht erfüllten Anspruch einer umfassenden Darstellungsweise und insbesondere mit der wissenschaftlichen Betreuung des Buches und Themas (Marion Kant) in vielen Fällen keinesfalls zufrieden. Dies soll hier bevorzugt - anstelle einer weiteren Inhaltswiedergabe - dargestellt werden.

    Die Skepsis beginnt schon mit der Behandlung der bisherigen Forschung zum Thema, die bei unbedarften Journalisten - mit großer Breitenwirkung - zu völlig unrecherchierten Falschmeldungen führt: Der Schlußsatz des o.g. Fernsehinterviews mit Lilian Karina lautet: "Der Tänzerin, der 85jährigen Emigrantin, gelang das, was die Zunft der deutschen Historiker lange versäumte: ein verdrängtes Kapitel deutscher Kulturgeschichte zu porträtieren, den Tanz unterm Hakenkreuz." Kant konstatiert eine "Legendenbildung", nach welcher "es im Dritten Reich kaum Tanz gegeben [hat], vielleicht etwas Ballett" (S. 109), ohne Beispiele dafür zu bringen. "Eine Geschichte des Tanzes im Dritten Reich wurde bisher nicht geschrieben. Es existieren etliche Aufsätze zu einigen Phänomenen des Nationalsozialismus in diesem Bereich; es gibt Untersuchungen zu Person und Werk weniger Choreographen und Tänzer." (S. 111) - Dies ist für einen wissenschaftlich ernstzunehmenden Beitrag eine unwürdige Verallgemeinerung. Hauptfehler des Buches ist der Verzicht auf ein Literaturverzeichnis. Durch das ganze Buch hindurch hat man den - nicht überprüfbaren - Eindruck, daß hier nur so getan wird, als sei alles gelesen worden, denn immer wieder fällt die Unkenntnis von Literatur und Dokumenten auf. Beispiel: Kennt Kant nun die Dissertation von Suzan Moss: Spinning through the Weltanschauung. The effects of the Nazi regime on the german modern dance. (New York, New York Univ. 1988) - oder nicht? Immerhin rund 375 Seiten zum Thema. Und Horst Koegler, dessen Publikation von 1974 "In the shadow of the swastika: dance in Germany, 1927-1936" doch immerhin den Titel des Buches quasi vorwegnahm, und der ja auch mit "Tanz in die Dreißiger Jahre" und "Tanz in den Abgrund" etc. bereits Anfang der 70er Jahre um Dokumentation jener Epoche bemüht war? Er kommt nur beiläufig bezüglich eines vermißten Beitrags in seinem Ballettlexikon vor.(4) - Karina geht zwar zunächst richtig vor: "Seit langem schon hatte ich Literatur - Bücher, Artikel, Rezensionen - über diese Zeit gesammelt", und stellt dabei fest: "Immer wieder bemerkte ich, in welch hohem Maße die Geschehnisse der Zeit nach 1933 falsch geschildert wurden, wie verschönt und vor allem weggelassen wurde. [...] Oft schienen sich die Autoren aber auch darüber hinaus den Wünschen, die die politische Ideologie der Herrschenden sichern halfen, anzupassen und zu fügen. In Lexika wurden Fakten ausgelassen, die die Tanzkunst wesentlich beeinflußt hatten, aber bedeutet hätten, daß man den Ursachen und Verhaltensweisen hätte nachfragen müssen; oft wurden einfach Personen und ihre Schicksale nicht mehr erwähnt. Gründe für Entwicklungen wurden verdunkelt oder verfälscht [...]. Letztenendes muß ich behaupten, daß die Geschichtsschreibung, hier die Tanzgeschichtsschreibung, in allzu vielen Fällen von der Ideologie des Nazismus nicht endgültig befreit wurde." So weit, so interessant. Doch dann belegt Karina keine einzige dieser Aussagen und wird dadurch so unseriös wie jene, von denen sie dies eben behauptet hat.

    Immer wieder sind die ohnehin sehr spärlichen Literaturhinweise (in Anmerkungen) unsauber, kaum nachvollziehbar. Was will man dem Leser sagen, wenn am Ende der Literaturangabe anstelle der Seitenzahl eines zitierten Aufsatzes angegeben ist: "(Ms. im Tanzarchiv Leipzig)"? Soll das heißen, daß die Lektüre des Manuskriptes im Vergleich zum gedruckten Text empfohlen wird, weil der zitierte Autor hier noch drastischer formuliert hat als im Druck, - oder daß sein Manuskript harmloser ist als der womöglich von einer Redaktion bearbeitete Abdruck? Wenn es nur heißen soll, daß der gleiche Text auch im Manuskript identisch noch einmal existiert, ist dieser Hinweis überflüssig, stattdessen wären in jedem Fall die Seitenzahlen der Veröffentlichung erforderlich, um den Aufsatz per Fernleihe bestellen zu können. - Was ist (S.115) unter "Vgl. Fritz Böhme, Aus der Vergangenheit der Tanzfachpresse in Deutschland, 1941" zu verstehen? Eine Monographie ja wohl nicht (auch hier würde der Erscheinungsort fehlen), also ein Aufsatz - aber wo mag er erschienen sein, wie soll man ihn "vergleichen"? - Auf S. 53 heißt es für den verzweifelten Leser gar: "Vgl. auch Labans Briefe an seine Mutter", ohne daß man erfahren würde, wo dieselben aufbewahrt oder abgedruckt sind. - Und wie kann der Leser einen Vortrag "vergleichen" bzw. nachlesen, wenn er keinen Hinweis auf einen Abdruck, ein Manuskript oder einen Tonbandmitschnitt erhält (S. 140, Anm. 52)? - Auf S. 139, Anm. 48 heißt es "Vgl. den 'Stammbaum' von Susan Au, USA, [...]"; darüber, wo in den USA dieser Stammbaum des modernen Tanzes veröffentlicht ist, erfährt man kein Wort!

    Wenn (S. 87) ein Brief von Jooss an Laban eine Auflistung von drei Personen enthält: "Schulz, Dbg und ich", dann ist es nicht der kleine Lesefehler in der Abschrift, einen Trennstrich zu einem Komma mißdeutend, der hier pedantisch angemerkt werden soll, sondern die dadurch aufgezeigte und durch den Eintrag im Personenregister ("Schulz 87") bestätigte Problematik: Hier publizieren zwei Autorinnen über Jooss, die sich noch so wenig mit ihm auseinandergesetzt haben, daß sie seinen Münsteraner und Essener Mentor, den Operndirektor und Gründer der Folkwangschulen, Rudolf Schulz-Dornburg, noch nicht einmal vom Namen her kennen.

    Unseriosität tritt bei Verallgemeinerungen auf. Zu einem Buch anläßlich der Deutschen Tanzfestspiele 1934 heißt es auf S. 149: "In diesem Sammelband erschienen Beiträge von [...= 13 Namen; FMP]; alle bekannten sich mehr oder weniger deutlich zum Deutschen bzw. zu einem deutschen Aspekt im Tanz." Unter diesen Autoren sind auch Yvonne Georgi und Harald Kreutzberg genannt. Die 1,5 Seiten von Georgi heißen "Anmerkungen zum Theatertanz"; nicht einmal das Wort "deutsch", geschweige denn irgendwelche Deutschtümelei kommt in ihrem Vergleich zwischen Bühnentanz und "freiem" Tanz vor. Und Kreutzberg veröffentlicht hier seinen "kleinen Lebenslauf" mit den Geschichten um seine Kinderzeit und den ersten Laienkurs bei Wigman etc.; "Deutsches" kommt erst ganz am Schluß, nach Auflistung seiner Auslandstourneen vor: "Aber einen Teil jeder Spielzeit habe ich in jedem Jahr in Deutschland verbracht: so war ich Ballettmeister in Braunschweig, Düsseldorf, Hannover und Leipzig und gab in vielen deutschen Städten außerdem eine große Anzahl eigener Tanzabende. Auch in diesem Winter habe ich wieder eine Tournee durch Deutschland gemacht, und ich freue mich nun sehr, daß die Deutschen Tanzfestspiele 1934 ins Leben gerufen worden sind. Es ist schön, in der Welt weit herumzukommen, aber es ist noch schöner, immer wieder heimkehren zu können. Ich habe das so oft und dankbar erlebt - und ich möchte auch in Zukunft immer nur weggehen, um wiederzukommen." Kann man daraus wirklich mehr machen als ein "Norden, Süden, Osten, Westen - zu Hause ist es doch am besten"? Wenn die Aufgabe lautete, für das Büchlein etwas zum Thema "deutsch und Tanz" zum besten zu geben, hat Kreutzberg die Verpflichtung geschickt gelöst, ohne mehr als eine unverfängliche Heimatverbundenheit auszudrücken.

    Ein großes Manko des Buches ist im Teil von Lilian Karina seine (beabsichtigte) Unvollständigkeit, seine Zufälligkeit, sein persönlicher Bezug zu einzelnen Fallbeispielen und die trotzdem allem anhaftende Oberflächlichkeit. Das wäre ein schöner Aufsatz mit persönlichen, kurzen Beispielen geworden - für ein im Untertitel als Dokumentation bezeichnetes Buch jedoch zum Thema "Tanz unterm Hakenkreuz" ist das leider nicht ausreichend.

    Zum Beispiel bei Aurel von Milloss. Karina war in Ungarn "beinahe drei Jahre lang seine Tanzpartnerin und Mitarbeiterin". Sie schreibt: "Seine Geschichte beweist, wie die Nazis unliebsame Personen 'entfernten'. Laban war in dieser Zeit noch die führende Tanzpersönlichkeit und im Auftrag des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda tätig." (S. 70). Ganz deutlich stellt sie damit einen Zusammenhang zwischen Laban und der "Entfernung" von Milloss als "unliebsamer Person" her. Milloss wird in diesem Buch eindeutig die Rolle des Opfers zugewiesen, Laban dagegen indirekt zum Täter oder Mithelfer ernannt. Es erfolgt jedoch keinerlei Beweisführung. Das einzige Dokument hierzu, ein Brief von Milloss, äußert nur "[...] daß meine Feinde mit einem derartigen verleumderischen Material gegen mein politisches und sittliches Benehmen loslegen [...]". Karina weiter: "Der Vorwurf lautete meines Wissens: Homosexualität."

    Es wäre ausgesprochen unwahrscheinlich, wenn ausgerechnet Laban mit diesen Intrigen in Zusammenhang gestanden hätte, denn Milloss hatte gerade Labans "Gaukelei" mit Erfolg in Düsseldorf aufgeführt (5) und konnte von Laban somit als einer der besten Vertreter seiner eigenen Vorstellungen von Theatertanz gewertet werden. "Rudolf von Laban, der bei dieser Premiere anwesend war, wurde vom Publikum stürmisch gefeiert."(6) Bisher ist nicht ersichtlich, wieso ein mit den von Laban gelenkten neuen Bestrebungen linientreu Übereinstimmender von offizieller Seite aus "entfernt" werden sollte. Es sieht vielmehr danach aus, daß sich die von Milloss erwähnten "Feinde", vielleicht Konkurrenten und Neider, vielleicht aus sehr privaten Interessen handelnd, durch Denunziationen Vorteile zu verschaffen suchten oder aus Mißgunst tätig wurden, um ihn - lokal von diesem Theater - zu vertreiben. Milloss ist problematischen Situationen am Theater (wie viele andere Tanzschaffende auch) noch mehrmals in seinem Leben begegnet, u.a. in Köln und Wien. Im Dritten Reich war die Bedrohung durch solche Intrigen, Bespitzelungen und Denunziationen - wie in allen totalitären Staatsformen - natürlich ungleich gefährlicher (7). Deshalb verwundert es zunächst nicht, daß die Autorin ihren einstigen Tanzpartner als Verfolgten sofort auf der Seite der Opfer einordnet. Ihr fällt dabei jedoch nicht auf, daß nach den Grundsätzen ihres Buches Milloss genauso als Mitläufer und Schuldiger zu behandeln wäre, wie all die anderen (z.B. Kreutzberg). Milloss hat Deutschland nicht 1933 verlassen, gar fast freiwillig, wie der vielgelobte Jooss (der zwar in engster Umgebung, nicht aber in eigener Person betroffen gewesen wäre). Milloss blieb, und er ging erst im Dezember 1935 aufgrund einer Intrige und Denunziation. Er wäre weiter dageblieben, er hätte weiter mitgemacht, er ist ja sogar zurückgekehrt, 1938 nach München(8), und hat drei Jahre danach mit dem Ballett des römischen Teatro Reale in Breslau, Dresden und Berlin gastiert, er hat sich nicht geniert, "von Goebbels und Göring ehrenvoll empfangen" zu werden (Karina S. 71). Ist er damit nicht mindestens ebenso "schuldig" wie der kritisierte Kreutzberg: Milloss als "Mussolinis tanzender Botschafter"?

    Zu dieser Flucht im Dezember 1935 schreibt Karina: "All dies und noch mehr wurde an den Theatern, an den Tanzschulen eifrig besprochen und weitererzählt. Von Ahnungslosigkeit konnte keine Rede sein" (ebd.) - trifft dies nicht direkt auch auf Milloss zu? In der zu der Ahnungslosigkeit gehörenden Anmerkung heißt es bei Karina: "In den zahlreichen Reportagen, Interviews und Rezensionen, die Patrizia Veroli aus Rom mir zukommen ließ, wurde Milloss' Tätigkeit als Gründer und Leiter der Düsseldorfer Tanzbühne und seine Flucht von 1935 nicht erwähnt." Sie gibt keinerlei Hinweis auf die befragten Personen (Zeitzeugen?), die sich nicht über die Flucht geäußert hätten. Aber seine Tätigkeit als Ballettmeister in Düsseldorf kann man beispielsweise im Ballettlexikon von Koegler/Günther nachschlagen. Oder in den Bühnenjahrbüchern sich darüber informieren, daß die Sparte Ballett neben Oper/Operette und Schauspiel zum Zeitpunkt der Tätigkeit von Milloss, offenbar auf seine Anregung, als "Tanzbühne" bezeichnet wurde und damit eine gewisse Selbständigkeit hatte. Oder in den Archiven die Rezensionen seiner dortigen Arbeit studieren und Fotos ansehen.

    Oder wirkliche Zeugen befragen. Ich rief nach der Lektüre von Karinas Einordnung ein Mitglied der von Milloss am Düsseldorfer Theater geleiteten "Tanzbühne" an, Martha Hensel, um zu erfragen, woran sie sich mehr als 60 Jahre danach erinnert. Sofort erinnerte sie sich ausführlich an die "so nette" Tanzmeisterin Ruth Loeser (Loeszer), eine namhafte Labanschülerin, die von den Nazis 1933 "als Jüdin leider entlassen" wurde. Auch an das Intermezzo mit Kreutzberg in der nächsten Spielzeit erinnerte sie sich in vielen Details und Rollenzusammenhängen. Und an die folgenden Spielzeiten mit Milloss hat sie die allerbesten Erinnerungen: "Das war meine schönste Zeit!" An eine Entlassung und Flucht von Milloss kann sie sich dagegen nicht im geringsten erinnern, das habe sie wohl "nicht mitgekriegt"; sie meint, er sei ganz normal weggegangen. Auf den Aspekt der Homosexualität angesprochen, erwidert sie: "War er denn nicht mit [der Solotänzerin] Alida Mennen liiert? Das nahmen wir aber alle an. Er hat sie mitgebracht, und er kam auch immer mit ihr zusammen ins Theater."(9)

    Wenn Karina für die anderen Tänzer an Theatern und Tanzschulen konstatiert, daß eine Ahnungslosigkeit ausgeschlossen ist, dann muß das auch für Milloss gelten. Warum wird Düsseldorf nur mit dem Jahr des Milloss-Fortgangs 1935 betrachtet? 1933 wurde als Vor(vor)gängerin von Milloss am Düsseldorfer Theater die erwähnte Ruth Loeser als Jüdin entlassen; sie kommt in Karinas/Kants Buch gar nicht vor. Wenn niemand ahnungslos war, weil man an Theatern und Tanzschulen solche Fälle "eifrig besprochen und weitererzählt" hat, dann muß auch Milloss gewußt haben, daß er zu denen zählt, die eine Chance erhalten, weil jemand anderer zuvor "entfernt" wurde. Dann muß er die Methoden der Nazis gekannt und - akzeptiert haben; hätte er nicht aber nach der einhelligen Auffassung von Karina und Kant protestieren, die Mitarbeit verweigern, das Land freiwillig verlassen müssen? Das Beispiel Milloss soll hier nur aufzeigen, wie schwierig Schuldzuweisungen sind, wie vorsichtig man sich vor Schwarzweißmalerei hüten muß.

    Übrigens wird Milloss im vorliegenden Buch permanent als Laban-Schüler bezeichnet. Ich möchte dies hier relativieren. Das Buch von Patrizia Veroli ist zwar entgegen der Meinung der Autorinnen ("Vgl. ..., Lucca 1995") im Mai 1996 immer noch nicht erschienen, aber Patrizia Veroli bestätigte mir vorab per Fax, daß sie einen direkten Unterricht bei Laban nicht beweisen könnte: "I have found no document about it."(10) Milloss ging in die Berliner Laban-Schule von Hertha Feist. Diese erzählte mir, daß Milloss mit Laban allenfalls bei den jährlichen Prüfungen und Kurzaufenthalten in Berührung gekommen ist, den eigentlichen Laban-Unterricht aber von ihr erhielt. Er konnte den Unterricht nicht finanzieren und wurde wegen seiner großen Begabung von ihr zunächst ohne Bezahlung unterrichtet aufgrund seines Ehrenwortes, dies bei eigenen Einnahmen nachzuholen. Daß er einen so schlechten Charakter hatte und nicht Wort hielt, hat sie ihm nie vergessen. Noch mehr aber kränkte es sie, daß er seine Lehrerin und Tanzpartnerin später - nach ihrer Kenntnis - niemals erwähnt hat und sich immer mit dem berühmteren Laban an ihrer Stelle schmückte.

    Immer wieder stolpert man über einseitige Interpretationen, die als Tatsachen dargestellt werden und Hintergrundwissen vermissen lassen. Auf S. 86 heißt es über Laban: "Kaum sechs Monate nach der Machtübernahme beantragte er die 'Arisierung' der Ballettschule." Aus dem im Faksimile abgedruckten Dokument ist aber eine derartige "Beantragung" durch Laban oder seine Initiative in dem Vorgang überhaupt nicht ersichtlich. Das Schriftstück enthält eine Mitteilung über einen Sachverhalt: Laban teilt mit zweimaligem "ergebenst" der General-Intendanz der Staatlichen Theater in Berlin mit: "Die B.D. [Ballett-Direktion; FMP] hat alle nicht arischen Schüler und Schülerinnen mit Ablauf der Spielzeit aus dem Kinderkursus entfernt. Ablauf d. 7. Juli 33. Anbei die neue Schülerliste." Es ist ebensogut möglich, wenn nicht wahrscheinlicher, daß die B.D. auf dem Dienstwege aufgefordert wurde, dies zu tun, und hierdurch mitteilt, das es nun geschehen ist. An allen Theatern Deutschlands wurden 1933 zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 Fragebögen verteilt, mußten Listen aufgestellt werden, sind einzelne Fälle von der Theaterverwaltung den Nazi-Dienststellen wie NSDAP Gauleitung, "Gaukulturämtern" usw. vorzulegen gewesen. Die Preußischen Staatstheater, und vielleicht nicht nur diese, haben dies womöglich bis in die Ausbildungsklassen durchgeführt, denn diese Ausbildung erfolgte ja mit staatlicher Finanzierung (und nützte denjenigen Kindern, die per Gesetz später nicht mehr den Tänzerberuf ausüben durften, wenig). Nach meinem Empfinden überschätzt Karina den Einfluß der Theaterpraktiker auf die Politik und Verwaltung erheblich. Solche Entlassungen wurden von der inzwischen nationalsozialistischen Verwaltung als Träger der Theater angeordnet und durchgesetzt. Im Fall der Entlassung von Ruth Loeser und zehn anderen Düsseldorfer Künstlern (11) hat einfach der Hauptausschuß der Düsseldorfer Stadtverwaltung in der Sitzung vom 30. Mai 1933 den Haushaltsplan für die vereinigten städtischen Theater abgelehnt bzw. nur mit der Maßgabe genehmigt, daß keine Mittel für die Besoldung der aufgelisteten 11 Künstler bereitgestellt werden.(12) Vielleicht war die weitere Finanzierung der Staatsopern-Ballettschule auch an Bedingungen geknüpft worden? Der von Karina zum Beweis von Labans antisemitischer Gesinnung im Interview und Buch angeführte Vergleich, daß erst 1938 "nicht-arische" Kinder vom Schulunterricht ausgeschlossen wurden, ist unsachlich, weil er eine Situation am Theater mit der Situation der allgemeinbildenden Schulen gleichsetzt. Sollte bisher in der Literatur dargestellt worden sein, daß Laban nichts von der Entlassung jüdischer Mitbürger bzw. Künstler gewußt habe (bei Karina/ Kant wird dies nicht näher ausgeführt), so wäre dies durch das o.g. neu aufgefundene Dokument zweifelsfrei widerlegt; ein Beweis für Labans Eigeninitiative ist das Schriftstück jedoch keineswegs.

    Auch die Machtstrukturen innerhalb der Theaterhierarchie werden von Karina unterschätzt, obwohl Labans zweimaliges "ergebenst" einen deutlichen Hinweis gibt. Da mir keine geeigneten Beispiele aus Labans Zeit vorliegen, will ich die Machtverhältnisse zwischen Intendanz und Ballettleitung am Beispiel derselben Staatsoper, jedoch 20 Jahre später verdeutlichen: Intendant Max Burghardt schreibt am 5.10.1954 in einem Brief: "Mit dem Ballett habe ich Ärger. Es protestiert gegen Lilo Gruber als Ballettmeisterin. Sie hätte keine ausreichende Qualifikation für die Staatsoper. Die jetzige Ballettmeisterin ist Frau Spies. Eine Schwester des bekannten Komponisten Spies. Sie ist eine ausgezeichnete Choreographin, aber meinen Zielen und Absichten entspricht Lilo Gruber besser. Gruber hatte das Pech, mit einer schlechten oder, besser, mißratenen Aufführung von Beethovens 'Die Geschöpfe des Prometheus' in Berlin aufgetreten zu sein. Ballettleute sind sehr kritisch. Besonders untereinander. - Nun mußte ich eine Versammlung im Ballettsaal durchführen, um mit dem Corps zu sprechen. Es sind alles tüchtige und nette Kinder, aber in diesem Falle verwirrt oder gar aufgehetzt, weil Lilo Gruber Genossin ist. Ich hatte mir Walter Kanakowski mitgenommen, weil er Lilo und ihre Arbeit von Leipzig her gut kennt. Die meisten Tänzer rückten dann nicht mit der Sprache heraus. Du weißt, wie das ist. Die lautesten Schreier schweigen, wenn es um die Wurst geht. Ich setzte den Mitgliedern auseinander, warum ich Lilo Gruber will und was wir zusammen vorhaben. - Eines wurde Kanakowski und mir wieder klar: Die Oper muß von den Westkünstlern unabhängig werden."(13) Die "Westkünstlerin" Daisy Spies wurde also aus der Ballettleitung "entfernt" (im Theaterbereich ist dies auch in den Dreißiger Jahren ohne großes Aufsehen dadurch möglich gewesen, daß man den Vertrag am Ende einer Spielzeit nicht mehr für die nächste verlängert), um durch eine Genossin ersetzt zu werden. Protest des Ensembles, der "netten, verwirrten Kinder", war gegenüber der Intendanz sinnlos, zumal, wenn man seine eigene Stelle behalten wollte; in den Dreißiger Jahren wird auch dies nicht anders gewesen sein.(14)

    Große Verständnisschwierigkeiten bereiten uns heute "Zweigleisigkeiten" von Personen, wenn sie aufgrund einzelner Aspekte einer bestimmten Seite zugeordnet werden. Albrecht Knust, "der Schüler Labans und maßgeblich an der Ausarbeitung der Kinetographie/ Labanotation beteiligt war", wird in der Reihe derjenigen aufgelistet, deren Loyalität sich der "Kampfbund für Deutsche Kultur" versichert hatte (S. 132). Nach allem, was das Buch vorbringt, wird der Leser nicht mehr als die beiden Hinweise "Labanschüler" und "Kampfbund" benötigen, um Knust zukünftig "braunem" Gedankengut zuzuordnen. Vorsicht! Kurt Peters hat mir erzählt, daß Knust in seiner Münchner Wohnung Verfolgte versteckt hielt. Er schreibt am 19.5.1944 an Kurt Peters über die Tanzbühne und Meisterstätten: "Ich wurde dann [im Herbst 1936; FMP], nur weil ich ein Laban-Mann war, innerhalb von 5 Tagen auf die Straße gesetzt, mein Archiv übernahm Herr Böhme (15), und Herr Fischer-Klamt, der mich gerade scharf befehdet hatte, wurde in den Lehrkörper der Meisterstätten eingefügt."(16) Hierzu muß man erstens wissen, daß Knusts Archiv vor allem aus Tanznotationen in der Kinetographie Laban bestand, und daß zweitens der für Rassenkunde zuständige Fischer-Klamt eine eigene Tanzschrift - gegen Laban - propagierte. Im gleichen Brief schildert Knust einen aus heutiger Sicht ebenfalls nicht auf den ersten Blick verständlichen Fall: "Sonners Schrift [...] habe ich leider nicht gelesen. [...] Hat er gegen den sogen. modernen Tanz oder gegen Frau Wigman persönlich Stellung genommen? Der ironische Witz der Geschichte ist, daß Herr Sonner mit jener Susanne Ivers verheiratet ist, die ich im Vorwort meines Buches als erste Fachkinetographin erwähne, und daß in seinem Hause viele Kollegen aus dem engeren Labankreise verkehren, von welchen Zusammenkünften mir berichtet wurde, daß Sonner sich sogar für eine Rehabilitierung Labans in Deutschland einsetze."

    Gerade die Vorgänge und Begriffe, die wir heute nicht mehr sofort verstehen (und ausländische Tanzforscher vermutlich noch schwerer), hätten im Buch ausführlicher erklärt werden sollen. Was verstanden die Labanesen unter der "neuen Festkultur", die bis in die Frage der Kleidung reichte? (17) Die Parallelität und Konkurrenz zwischen Gymnastik und Tanz ist ebenfalls noch nicht ausreichend ergründet. Knust schreibt 1944: "Wir waren, zu jeder Zusammenarbeit bereit, in den 20er Jahren dem neugegründeten Gymnastikbund beigetreten und hatten uns einige Jahre später wegen der ausgesprochen tanzfeindlichen Gesinnung wieder von den Gymnastikern getrennt. Daraufhin waren wir auf Betreiben Labans, der immer für einen großzügigen Zusammenschluß der Tänzer sprach, dem Deutschen Chorsängerverband und Tänzerbund beigetreten. Im Jahre 33 wurde dieser Verband in die Reichstheaterkammer überführt, und die neuen Leiter wußten nichts mit uns anzufangen. Um in diesem entscheidenden Stadium der Umbildung und Neubildung nun nicht abseits zu stehen, hörten wir auf die Lockungen des Reichsverbandes Deutscher Turn-, Sport- und Gymnastiklehrer, der gerade den Gymnastikbund aufgesogen hatte. Hier mußten wir nun erleben, daß die Organisation, der wir uns anvertraut hatten, von eben jenen Gymnastikern beherrscht wurde, die ihre alte, uns nicht recht verständliche Feindseligkeit dadurch zum Ausdruck brachten, daß wir einfach nicht eingeschaltet wurden, ja, daß sie sich auf diese Weise auch für 'Tanz' und 'Chorspiel' als zuständig ausgaben. Als wir merkten, daß wir in dieser Gesellschaft verraten und verkauft waren, sahen wir uns nach anderem Anschluß um, und wir erreichten dann, daß die Reichstheaterkammer die Fachschaft 'Tanz' gründete, in der die freien Tänzer, die Lehrer für Tanz und später auch die Gesellschaftstanzlehrer angeschlossen wurden. Im Rahmen der Fachschaft wurde dann der Reichsbund für Gemeinschaftstanz gegründet, der auf dem Wege über die in der Theaterkammer organisierten Chorleiter und Tanzkreisleiter bezw. Lehrer für Laientanz alle deutschen Laientänzer umfassen sollte. Als erste große Aufgabe wurde uns ein Weihespiel gestellt, das auf der Dietrich-Eckart-Bühne bei Gelegenheit der Olympiade aufgeführt werden sollte. Jenes Weihespiel wurde ein Jahr lang in den verschiedenen Städten vorbereitet und in einer Gemeinschaftstanzwoche in Berlin dann zusammengebaut. Es ging alles wundervoll, der Leiter der Reichstheaterkammer war begeistert (damals Schlösser), die Tausende von Zuschauern einer öffentlichen Probe waren auch offensichtlich ergriffen. Nur schien leider Dr. Goebbels nicht sonderlich interessiert, er sah nicht wie die anderen Generalproben die ganze Sache von der Führerloge aus an, sondern erschien nur einen Augenblick am Rand des Zuschauerraumes. Zunächst hieß es, das Spiel solle aufgeführt werden, dann, es müsse geändert werden, und schließlich wurde es abgeblasen. Wer das Spiel zu Fall gebracht hat, ist nur zu vermuten. Vielleicht war damals schon der Entschluß gefaßt, Laban im Herbst auszuschalten. Eins ist gewiß: Die Gymnastiker waren bei dem anderen Festspiel in der Arena des Olympiastadions beteiligt und fürchteten einen Erfolg des Laientanzes. Einige Jahre später hat sich ein führender Gymnastiker einer Kollegin gegenüber ziemlich offen geäussert: Ja, sie hätten damals gegen uns gearbeitet, sie hätten den ganzen Stand der Laientanzlehrer zugrunde richten wollen, und zwar, weil wir sonst angeblich die ganze Gymnastik zugrunde gerichtet hätten. Mir bleibt heute noch die Luft weg, wenn ich an diese gemeine Unterstellung denke. Der ganze Gedankengang erscheint zunächst als Irrsinn, denn Gymnastik und Tanz haben verschiedene Aufgaben, die einander ergänzen, die aber nie in Widerstreit miteinander treten können. Dieser Unsinn erhält erst dadurch seine Bedeutung, daß die bisher tanzfeindlichen Gymnastiker sich jetzt für berufen hielten, den neuen deutschen Tanz zu erschaffen. Sie nahmen, was an sich lobenswert war, den Volkstanz in ihr Programm auf und verhinderten zunächst einmal, daß die Leute, die sich bisher um den neuen deutschen Tanz bemüht hatten, an dem neuen großen Geschäft, das sich aus dem aufblühenden K.d.F.-Betrieb ergab, beteiligt wurden. Und dann gründete zum Beispiel Frau Elly Bode die 'Ausbildungsstätte für deutschen Tanz'. Als ich im Jahre 39 nach München kam, habe ich bei Gelegenheit des Tages der deutschen Kunst eine Vorführung dieser Ausbildungsstätte gesehen. Es war ein choreographisch dürftiger Reigen, ausgeführt mit einer erschütternden tänzerischen Schwunglosigkeit. Daß man uns, die wir uns seit Jahrzehnten auf solche Aufgaben vorbereitet hatten, ausschaltete, hat mir nicht so weh getan wie dieser Anblick, die Feststellung, daß sich jetzt der untänzerische Ungeist breitmacht mit seinem Turnen zu Musikbegleitung, welches vorgibt, Tanz zu sein."(18)

    Auch die Arbeit des Lektorats (Mechthild Frick) bietet Anlaß zu Kritik, sofern man sich von ihr mehr erhofft, als nur bei den wenigen zitierten Büchern darauf zu achten, daß ggf. der hauseigene Verlag namentlich genannt wird. Das Lektorat wäre gefordert gewesen, wenn Karina auf S. 30f. unvermittelt zum Dadaismus schreibt: "Valeska Gert und Anita Berber kennzeichneten für mich Gegenpole dessen, was ich als Dadaismus bezeichne. Valeska Gert vertrat in ihren Tanzsatiren die revolutionierende soziale Kritik, die die Künstler des DADA auszeichnete, während Anita Berber, Fotomodell, Filmschauspielerin, ursprünglich Tänzerin, von der radikalen Kunstszene dank ihrer Mitwirkung in den für die damalige Zeit äußerst gewagten Aufklärungsfilmen akzeptiert und gefeiert wurde. Anita Berber personifizierte in ihrer Kunst und in ihrem Leben den bis zum Sadomasochismus reichenden Protest gegen die Gesellschaft, den die Dadaisten satirisch vertraten." Was denn nun, sind beide Gegenpole zum Dadaismus oder Gegenpole innerhalb des Dadaismus? Das hätte der Lektorin doch als Unklarheit auffallen müssen! Immerhin hat die Gert auch spontan auf zumindest einer Berliner Dadaveranstaltung getanzt. Und was ist mit dem direkten Bezug von Laban, Wigman, Perrottet und Wulff zu den (Züricher) Dadaisten? Man kann doch nicht ernsthaft den Bereich "Dada und Tanz" in o.g. drei Sätzen abhandeln?

    Leider sind auch die spärlichen Abbildungen in schlechter Qualität zu kritisieren. Auf Seite 103 ist die Person neben dem Herrn mit der Hakenkreuzbinde nun wirklich nicht Laban. Auf S. 143 wird der abgebildete Brief (leider quasi die einzige der erwähnten Denunziationen, in denen sich die Ausdruckstänzer "überboten" - S. 142 -, und gerade die wären aufschlußreich gewesen) mit dem deutlich sichtbaren Datum vom 12. Dez. 34 ohne Erklärung als "15. Januar 1937" ausgewiesen. Auf S. 171 und 265 werden fotokopierte Briefe trotz freien Raumes auf der Seite in der Abbildung so verkürzt (bzw. Anfang und Schluß montiert), daß es nur beim Lesen der Handschrift auffällt.

    Auch das Personenregister ist unsauber: Alexander von Swaine wird man auf S. 38 vergeblich suchen, ebenso den [Inspizienten am Städtischen Opernhaus Berlin, Erich] Streubel auf S. 257 (auf S. 349 ins Alphabet eingereiht zwischen Stepanek und Stöckemann) oder Herrn Köcher auf S. 304 oder Kreutzberg auf S. 231 (wo es allerdings um "Kreuzzüge" geht). Viele Vornamen von Verwaltungsbeamten sind heute nur mit allzu großer Mühe recherchierbar, aber hätte man nicht den preußischen Ministerialrat [Leo] Kestenberg noch ermitteln können, nach dem eine Schulreform benannt wurde, den Dirigenten [Hans] Schmidt-Isserstedt (ohne "ä"), die Tänzerin [Friedel] Carter-Fähnle, den Oberschulrat [Franz] Hilker als Vorsitzenden des Dt. Gymnastikbundes und Autor von Gymnastikbüchern? Daß man den seltenen Vornamen A[mint] des Autors Freising nur vom Anfangsbuchstaben her kennt, ist leicht verzeihlich, aber warum ordnet man diesen im Alphabet nicht unter "F", sondern unter "Z" bei Herrn Zorn ein?

    Manch belangloser Nachname wie beim "Ref. Frenzel" (S. 306) würde erst durch - hier leider fehlende - Zusätze für den Leser interessant; bei einer Dokumentation zum genannten Thema hätte ich mir eher folgende Informationen - womöglich noch ausführlicher - erhofft: "Herbert A. Frenzel, Schriftleiter (Chef vom Dienst: Kulturpolitik) beim 'Angriff', Regierungsrat im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, nach dem Krieg Schriftleiter der Gesellschaft für Theatergeschichte in Berlin, heute bekannt vor allem durch seine 'Daten Deutscher Dichtung', die er gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth veröffentlichte (sie promovierte 1940 über 'Die Gestalt des Juden auf der neueren deutschen Bühne'; die Arbeit erschien im gleichen Jahr im Deutschen Volksverlag München unter dem Titel 'Judengestalten auf der deutschen Bühne: ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte', die Titelrückseite vermerkt: 'In die NS-Bibliographie aufgenommen'; tätig als wissenschaftliche Angestellte des Amtes für Kunstpflege in der Reichsleitung Rosenberg, zuständig für 'Theater, Literatur und die Judenfrage')."

    Die Pressenotiz über die Nichtteilnahme der Tanzgruppe der Preußischen Staatstheater an dem von Laban geleiteten Schulungslager in Rangsdorf 1935 und die Kommentare bezüglich der Autorisierung durch dortige Nennung der Generalintendanz würden für den Leser viel verständlicher, wenn man erfahren würde, daß jener "Kapp", der die Notiz genehmigte, der Staatsoperndramaturg und prominente Buchautor Dr. Julius Kapp war, der laut Bühnenjahrbuch zugleich "Vertreter des Generalintendanten in allen Opernangelegenheiten" war - und somit ausreichend autorisiert. Doch die Behandlung jenes Tänzerlagers im Buch ist ohnehin äußerst problematisch und legt erneut die für eine Dokumentation völlig unzureichenden Recherchen der beiden Autorinnen offen. Zur Datierung schreibt Karina auf S. 87: "im Juni 1935", Kant dagegen auf S. 156: "im Juli 1935". In Wirklichkeit fand das Tänzerlager im August 1935 statt, und zwar im ganzen Monat volle vier Wochen lang. Höchst unseriös aber ist dann das, was Frau Karina darüber ausführt: "Das Schulungslager für Tänzer in Rangsdorf im Juni 1935 [...] war der Versuch, die Tänzerschaft auch mental von der Ideologie des Nationalsozialismus zu überzeugen [...]. Laban vermittelte den Tänzern in diesem Kurs die nationalsozialistischen Bestimmungen für Tanzkünstler, wie das Propagandaministerium sie sah." Mit solchen - bisher vollkommen unbewiesenen - Behauptungen führt Karina ihre eigenen, ehrenwerten Ziele ("Ich möchte verhindern, daß Mißverständnisse, Verfälschungen, Legendenbildungen über genaue Beschreibung und die Analyse von Dokumenten dominieren", S. 18) ad absurdum.

    Die Autoren können keinerlei Belege für eine weltanschauliche Schulung im Rangsdorfer Sommerkurs anführen, die einzige Grundlage ihrer Argumentation ist neben dem erwähnten Zeitungsausschnitt zur Staatsoper (19) eine "Lagerordnung", in welcher eine halbe Seite lang die Essens-, Ruhe- und Bürozeiten festgelegt sind und Laban darauf bekanntgibt: "Der Schulungskurs in Rangsdorf ist die erste offizielle Veranstaltung, die allen Tänzern und Tanzpädagogen zugänglich gemacht wird und zwar durch großzügige Unterstützung der zuständigen Behörde. Alle Teilnehmer übernehmen dadurch eine große Verantwortung dem nationalsozialistischen Staat gegenüber. Von dem guten Gelingen und reibungslosen Ablauf des Kurses hängt für viele unserer Kollegen ihre Zukunft und auch die Zukunft des deutschen Tanzes ab. Es muß daher jedem zur Pflicht gemacht werden, von sich aus für eine strenge Disziplin - wie sie in unserem nationalsozialistischen Staat selbstverständlich ist - aller Teilnehmer mitzusorgen." (S. 241) Läßt man die "strenge Disziplin" und die Verantwortung gegenüber dem Staat außer acht, so würde man Labans Lager heute als "Sommerakademie des Tanzes" oder ähnlich bezeichnen, für die sich Laban die nötigen Gelder vom Staat unter Ausnutzung des Modewortes "Schulungslager" besorgt hatte.

    In der Tat gab es in Deutschland im Sommer und Herbst 1935 eine Fülle von Schulungslagern, die jedoch bereits in der Presse deutlich als weltanschauliche Schulungen ausgewiesen waren.(20) Die von Karina und Kant im ganzen Buch konsequent aus den eigenen Recherchen ausgesparte Presse spricht aber beim Rangsdorfer Lager keineswegs von irgendwelchen weltanschaulichen Schulungen. So zitiert die Presse eine Lehrkraft: "Stellen Sie sich vor, Sie sind auf Ihrem Wege einem Engel begegnet, Sie grüssen ihn, Sie beugen sich gern". Davon, daß dies mit der zum "deutschen Gruß" erhobenen Hand zu geschehen hätte, ist nichts gesagt, "denn die fünfzehn jungen Tänzerinnen folgen ihrer Lehrerin, sie begegnen dem Engel. Wie sie ihn grüssen! Wie sie sich selbst vergessen! Jene Grosse dort mit dem ekstatischen Gesicht grüsst ihn geistig, fromm und keusch. [...]" "Seit dem 1. August sind hier fünfzig der Auserwählten des Tänzernachwuchses [...] für einen Monat zu einem Lager gemeinsamer tänzerischer Arbeit vereinigt. Sie üben und lernen täglich sechs Stunden mit sechs verschiedenen Lehrern im klassischen Ballett und klassischen Volkstanz, die individuelle Entwicklung im modernen deutschen Tanz und schließlich zwei Stunden die Arbeit in der Gruppe." Theaterpraxis bietet die Teilnahme an der Aufführung des "Vogelhändlers" im Freilichttheater Friedrichshagen. Die Deutsche Allgemeine Zeitung überschreibt ihren Bericht mit "Kleine Tänzerakademie". Auch aus den Reden, die von Keudell und Laban an die Presse richten, teilen deren Vertreter offenbar nichts Weltanschauliches mit: "In herzhaftem Bayerisch begrüßt Rudolf von Laban die Gäste der Deutschen Tanzbühne. Er freut sich dankbar der Förderung tänzerischer Arbeit durch den Staat [...]" Das klingt allenfalls nach "tänzerischer" Weltanschauung. "Schlank und federnd steht die Lehrerin vor ihnen. 'Position 5, rechter Fuss vor, Wechsel links, zweimal 2. Position'" - wenn das der "Versuch, die Tänzerschaft auch mental von der Ideologie des Nationalsozialismus zu überzeugen" (Karina) gewesen ist, dann braucht man über eine "Gleichschaltung" nicht mehr zu diskutieren.(21)

    Karina schreibt: "Aber fünfzig Jahre später kann ich nicht umhin, die Frage nach denen zu stellen, die sich nicht anpaßten, nicht anpassen konnten. Was geschah mit den Opfern? [...] Darüber wird in der Geschichte des Tanzes nichts gesagt. All jene haben den traditionellen Rahmen der Geschichtsschreibung verlassen [...] So [...] wie die Nationalsozialisten diese Leben ausmerzen wollten, konnte durch Schweigen und Vergessen vollendet werden, was sie begannen. Was wissen wir über jene, die einfach nur verschwanden, die in aller Stille verhaftet wurden, die in Auschwitz oder anderen Konzentrationslagern umkamen [...]?" (S. 17f.). Karina kann diese Frage leider nur stellen, ohne sie auch beantworten zu können. Ihr (und Alfred Oberzaucher) ist zu verdanken, daß jetzt wenigstens die Tatsache des Todes von Sascha Leontjew 1942 im KZ Mauthausen bekannt wird. Völlig rätselhaft bleibt indes, warum solcher Fragestellung seitens der Autorin nicht weiter nachgegangen wird und namentlich Tatjana Barbakoff (ermordet in Auschwitz), Oda Schottmüller (ermordet im Zuchthaus Berlin-Plötzensee) und René Blum (ermordet in Auschwitz) in diesem Buch nicht einmal erwähnt werden. Entgegen der Auffassung von Karina kann man in anderer "Geschichtsschreibung" sehr viel über diese drei nachlesen (22); wieder trifft das, was die Autorin pauschal und ohne Nachweis der Tanzwissenschaft vorwirft und sogar mit ideologischen Motiven verknüpft, mindestens ebenso stark auf sie selbst zu, die damit in ihrer eigenen Terminologie das Werk der Nazis durch Schweigen und Vergessen fortsetzt.

    Wenn man (den Ausdruckstanzförderer) Fritz Böhme auf 19 Seiten nennt oder zitiert, ist unverständlich, warum man den viel nationalsozialistischeren (Ballettförderer) Rudolf Sonner überhaupt nicht erwähnt. Jemanden, der im Gegensatz zu Böhme unmißverständlich antisemitische, rassistische Hetze betrieben hat ("Den jüdischen Zersetzungstendenzen lag der neue Ausdruckstanz näher, daher wurde er auch von der judenhörigen Presse propagiert." "Wenn wir heute über Wertfestsetzung in der Kunst sprechen, dann können wir nicht mehr an der Tatsache des rassischen Schönheitsideals vorbeigehen. Rudolf v. Laban hat einmal die Tänzer eingeteilt in Hoch-, Mittel- und Tieftänzer. Hier sind die Ansatzpunkte zu einer rassekundlich ausgerichteten Bewegungslehre. [...]" Den Ausdruckstanz "besonders zu pflegen und zu fördern, bloß weil das verjudete Amerika ihn als New german dance bezeichnete, ist für uns kein stichhaltiger Grund.").

    Man erhält leider manchmal den Eindruck, daß die Darstellung und Diskussion in diesem Buch etwas einseitig und damit unsachlich geführt wurde. Sehr lobenswert ist die Untersuchung des Weges von Laban und Wigman ins Dritte Reich. Mit der Darlegung aller Anbiederungen der Tanzgrößen an den Nationalsozialismus und dem Nachspüren der Vereinbarkeit von persönlicher und nationalsozialistischer Weltanschauung ist es jedoch nicht getan. Es fehlt u.a. die Darstellung der Bedrohung, welche ebenfalls für diese Anbiederung (namentlich in Böhmes Brief von 1933 an Goebbels zu finden) mitverantwortlich sein kann. Aller Expressionismus und das gesamte Theater der Weimarer Republik waren hochgradig gefährdet, damit auch der ohnehin nicht dem nationalsozialistischen Wunsch von Körperschönheit etc. entsprechende moderne Tanz. "Die Bühne der Zukunft scheint gesichert zu sein, wenn man einfach die letzten 14 Jahre aus der deutschen Theatervergangenheit streicht" schreibt Wolfgang Nufer in der "Völkischen Kultur", der "Monatsschrift für die gesamte geistige Bewegung des neuen Deutschlands" im August 1933, S. 132. Wenn man unter der Überschrift "Die Situation in der Tanzforschung" das Fehlen einer Geschichte des Tanzes in den Dreißiger Jahren beklagt, dann muß man eigentlich fairerweise hinzufügen, daß eine - derselben logischerweise vorausgehende - Geschichte des Tanzes in den Zwanziger Jahren auch noch nicht geschrieben wurde. Und man müßte unter dieser Überschrift eigentlich auch erklären, warum es um die Tanzforschung - speziell in Deutschland - noch so dürftig bestellt ist. Daß das Deutsche Tanzarchiv in Berlin im Krieg verbrannte, seine neuaufgebauten, ins Sudetenland verlagerten Bestände dort beschlagnahmt und verkauft wurden. Daß die von Frau Karina in Stockholm offenbar genutzten Bestände aus dem Nachlaß von Jooss der dritte große Verlust für die deutsche Tanzforschung sind, weil sie jahrelang nicht einsehbar waren und heute deutsche Studenten kaum die Reise nach Stockholm finanzieren können, um dort beispielsweise die Briefwechsel zum zweiten deutschen Tänzerkongreß Essen 1928 lesen zu dürfen. Und daß es eine wissenschaftliche Auffassung gibt, die - im Gegensatz zu den Verfassern - zuerst die Einzelstudien und dann darauf basierend die Gesamtdarstellung für den richtigeren Weg hält. So kann man eine Dissertation über Böhme nur dringend anregen, wenn man die Entwicklung verstehen und nicht oberflächlich bleiben will; Böhme schrieb seit spätestens 1919 über den Tanz und hat allein zwischen 1933 und 1945 nicht nur die im Buch erwähnten zwei oder drei, sondern etwa 1700 Artikel veröffentlicht, - und seine Rezensionen des Bühnentanzes dieser Zeit sind offenbar keineswegs typisch nationalsozialistisch.

    Während Laban trotz der o.g. Fehleinschätzungen vermutlich sehr gut erfaßt ist, kommen mir bereits bei der Beurteilung der Wigman einige Zweifel (und alle anderen sind viel zu oberflächlich untersucht worden). Auf S. 147 schreibt Kant: "Die Festspiele [1934; FMP] präsentierten alle 'bedeutenden Vertreter des deutschen künstlerischen Tanzes', Mary Wigman, Dorothee Günther, Gret Palucca, Harald Kreutzberg, Yvonne Georgi, Jens Keith, Valeria Kratina, Laban selbst natürlich ebenfalls. Sie alle blieben in Deutschland. Über die schon Emigrierten, wie Kurt Jooss oder Jean Weidt, sprachen jene nicht mehr." Abgesehen davon, daß wir heute schlecht beurteilen können, worüber Wigman 1934 gesprochen hat (ihre Tagebücher sind hier offensichtlich nicht herangezogen worden), - warum sollte gerade Wigman wohl über Kurt Jooss oder Jean Weidt "nicht mehr" sprechen? Wahrscheinlich hat Wigman schon vor deren Emigration nicht über Jooss und Weidt "gesprochen"! Zum Verständnis von Mary Wigmans Handeln ist eine genaue Untersuchung ihrer Persönlichkeit und Selbsteinschätzung Voraussetzung. Ihr Buch "Deutsche Tanzkunst" erwähnt weder Laban als Lehrer und Kollegen, noch erfolgreiche Schüler von ihr, noch gar irgendwelche ihr ganz fern stehende Tänzer. Den etwa 65 Seiten Text stehen unter dem Titel "Bildnerische Dokumente zur deutschen Tanzkunst" 60 Seiten Abbildungen gegenüber, welche die Deutsche Tanzkunst in drei Gruppen einteilen: "1. Mary Wigman im Einzeltanz, 2. Mary Wigman und ihre Tanzgruppe, 3. Junge Tänzer, die aus der Wigman-Schule hervorgegangen sind." Es wird deutlich, daß Mary Wigman unter "deutscher Tanzkunst" nur sich selbst und Statisterie aus unbedeutenden eigenen Schülern verstand. Insofern war in ihrer Auffassung vom "deutschen Tanz" weder Platz für Emigranten noch für andere Dagebliebene neben ihr. Die Texte jenes Buches sind übrigens nicht erst 1935 erschienen, sondern schon 1933 in der "Völkischen Kultur", wo sich auch seit dem ersten Heft Reklameanzeigen ihrer Schule finden.

    Insbesondere aber Harald Kreutzberg ist nicht so leicht darzustellen, wie das hier versucht wird. Auf S. 203 schreibt Kant in der "Nachbemerkung": "Harald Kreutzberg, der tanzende Botschafter der Nationalsozialisten, hatte nie etwas mit Politik zu tun, sondern tanzte nur. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß es einen Krieg in Europa gab. Von Kriegsverbrechen hörte er später erstaunt und wußte nichts von ihnen. Noch etwas später erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Nach seiner Vergangenheit im Dritten Reich wurde er nie befragt." Dies führt dann zu dem o.g. Aufmacher des Filmberichts von Tilman Jens und dieser in seiner unseriösen Versimplifizierung dann mit Breitenwirkung zur Verurteilung Kreutzbergs als "alter Nazi". Kant hat keine der o.g. Äußerungen belegt, geschweige denn näher dargestellt. Es klingt ausgesprochen unwahrscheinlich, daß Kreutzberg "nicht einmal bemerkt" haben sollte, "daß es einen Krieg in Europa gab": Immerhin hat er oft genug seine Einberufung, Tätigkeit beim Militär als Fahrer, seinen Aufenthalt im amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Italien erwähnt. Es ist richtig, daß Kreutzberg nicht wie Jooss Deutschland den Rücken gekehrt hat. Jooss hatte eine Truppe mit mehreren jüdischen Mitgliedern und einen als Juden angeprangerten Komponisten namens Cohen, Kreutzberg trat nur im Ausnahmefall mit Gruppe auf und sein Komponist Wilckens war nicht gefährdet. Kreutzberg verlegte seinen Wohnsitz Anfang der Dreißiger Jahre von Deutschland ins Nachbarland Österreich, und zwar ins friedliche Tirolerdorf bzw. -städtchen Seefeld. Zuvor als deutscher (sächsischer) Staatsbürger geführt, wurde er jetzt Österreicher, was ihm wegen seiner Geburt in Böhmen nicht schwerfiel. Von 1933-1944 absolvierte er auf Reisen 795 Gastspiele. Direktes politisches Geschehen, Entlassungen oder gar Verhaftungen von Bekannten und Freunden, in Deutschland wohl auch eher mündlich im engsten Kreis weitererzählt, wird er in Seefeld und auf seinen Tourneen kaum mehr als aus der Zeitung miterlebt haben. Daß er über den Emigranten Jooss im Dritten Reich nicht mehr gesprochen hat, wie Kant S. 147 mutmaßt, wäre im offiziellen Rahmen naheliegend und ist im privaten Bereich nicht nachzuweisen. Kreutzberg versuchte sich nach der Olympiade (zu der es eigentlich internationale Tanzfestspiele als Fortsetzung der zweimaligen deutschen Tanzfestspiele geben sollte und für die er, Wigman und Palucca schon im Sommer 1935 in der Presse mit ihren Rollen genannt wurden) den "ehrenvollen Aufträgen" zu entziehen, in Gruppenspektakeln nicht mehr mitwirken zu müssen.(23) Jedenfalls sind bis heute keinerlei schriftliche Äußerungen Kreutzbergs aufgefunden worden, die ihn in eine geistige Nähe zum Nationalsozialismus setzen würden. Warum er das Dritte Reich insgesamt nicht negativ genug sah, um 1937 die Teilnahme an der Pariser Weltausstellung zu verweigern, wo er und auch die Tanzgruppe des Deutschen Opernhauses und Dorothee Günther laut Kant (S. 186) "im Kulturprogramm demonstrierten, wie sehr sie dem nationalsozialistischen Regime verpflichtet waren", wird in diesem Buch nicht erklärt.

    Überhaupt fehlt in diesem Buch die Verbindung zum täglichen Leben, und der beklagte eingeengte Blick auf die Tanzkunst wird nur um das Gesichtsfeld der Tanzpolitik und -verwaltung erweitert, nicht aber in Bezug zum sonstigen Alltag gesehen. Völlig unerklärlich bleibt nach der Lektüre, warum so viele Millionen Menschen und mit ihnen das Gros der Tänzerschaft in Deutschland geblieben sind. Immerhin war nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Parteigenossen. Die verlockenden Versprechungen der NSDAP von einem besseren Dasein schienen sich für einen großen Teil der Bevölkerung zu erfüllen, es gab wieder Arbeit, die KdF-Reisen versprachen den sozial Schwächeren Urlaub und Erholung usw. Die eigentliche Propagandamaschinerie des Dritten Reichs lief bereits auf vollen Touren und zeichnete permanent und lautstark ein positives Bild. Wenn man nicht erklären kann, warum direkt Betroffene wie jüdische Künstler, die im Kulturbund weiterarbeiteten, oder in ihren Werken für "entartet" erklärte und ihres Arbeitsplatzes verlustig gewordene Künstler wie beispielsweise Oskar Schlemmer Deutschland nicht verließen - kann man dann von denjenigen, die nicht direkt betroffen waren, erwarten, daß sie ihre Arbeit aufgaben und Deutschland den Rücken kehrten? 1933 waren im Deutschen Reich 5457 Tänzer und Tanzlehrer als professionelle Tanzschaffende registriert: 5122 im Hauptberuf (davon 3742 weiblich) und 335 im Nebenberuf (56 weiblich). Und 50,9 Prozent all dieser professionellen Tanzschaffenden waren damals arbeitslos.(24) Wer gibt in unsicheren Zeiten schon gerne freiwillig und aus Protest gegen politische Entwicklungen Arbeitsplatz, Wohnung, Mobiliar und persönlichen Besitz, Heimat, Freundeskreis und Muttersprache auf? Auch ist der eigentliche "Tanz unterm Hakenkreuz" im Buch übrigens keineswegs dokumentiert; wie und was getanzt wurde, kommt viel zu kurz und wäre doch wichtig gewesen, weswegen ein Titel wie "Tanzpolitik im Dritten Reich" treffender wäre. Auch die Beschränkung auf die aufgefundenen Dokumente ohne Berücksichtigung der vielen gedruckten Dokumente in den Zeitschriften, der Kritik oder Berichterstattung in den Tageszeitungen macht das Buch unvollständig. Das Gesagte soll natürlich über die im Buch gut dargestellte Nähe Labanscher und Wigmanscher "Tanzideologie" zum nationalsozialistischen Gedankengut nicht hinwegtäuschen und die von beiden recht bewußt betriebene weitere Annäherung zur Erreichung persönlicher Ziele nicht entschuldigen.

    Immerhin, dem Buch läßt sich auch entnehmen: Laban, Wigman, Palucca und Kreutzberg haben sich in ihrem Karrierebewußtsein nicht soweit auf den Nationalsozialismus eingelassen, daß sie der Partei beigetreten wären. Was man beispielsweise von Ruth Berghaus, der späteren Vorzeige-Regisseurin der DDR (Palucca-Schülerin), nicht behaupten kann: NSDAP-Mitgliedsnummer 9.990.705, eingetreten am 20.4.1944 (Geburtstag des "Führers"); später u.a. SED-Parteisekretärin beim Berliner Ensemble 1964-67. Muß man da nicht eher als bei Kreutzberg sagen: "Mit Bravour vermochte sie sich ihrer einstigen Identität nach dem Krieg zu entledigen"? Außerdem beweist das Buch von Karina und Kant ausführlich, daß der Nationalsozialismus einen unpolitischen Tanz wollte, Weltanschauung und Handlungsballette waren nicht erwünscht. Trotz ansonsten vieler direkter Parallelen zwischen dem Dritten Reich und der DDR ist hier ein deutlicher Unterschied festzustellen: In der DDR wurde auch das noch erreicht: eine Politisierung nicht nur der Verwaltung im Tanzbereich, sondern des Tanzes selbst. Aber das ist ein anderes, wenn auch genauso düsteres Kapitel deutscher Theatergeschichte; man kann sich also auf eine verbesserte zweite Auflage des Buches - und auf eine Fortsetzung als "Tanz unter Hammer und Zirkel" freuen.

    Anmerkungen:
    (1) Ich widme diesen Text dem Andenken an den Tanzfilmemacher und Dokumentar Ulrich Tegeder, der in Köln am 13.4.1996 überraschend verstarb und sich kurz zuvor noch beim Sender wegen der mangelnden Seriosität jenes Filmbeitrags beschwert hatte. - Tilman Jens, Sohn des Präsidenten der Akademie der Künste, Walter Jens, wurde dadurch bekannt, daß er als Journalist nach dem Tod des Schriftstellers Uwe Johnson dessen Haus aufbrach, um darin als erster filmen zu können.

    (2) Henschel Verlag, Berlin (Preis des Buches: 39,90 DM). - Das Photo wurde durch "Anschneiden" unerlaubt verfremdet und zudem ohne Erlaubnis der Urheberrechtsinhaber abgedruckt. Der Verlag ist bereits im Oktober 1992 anläßlich einer früheren Buchpublikation von Lilian Karina (mit Lena Sundberg) auf die Urheberrechtsnachfolger des Photographen schriftlich hingewiesen worden. Ansonsten nimmt es der Verlag mit Rechten aber sehr genau, wie die Rückseite des Titelblattes beweist: "Die Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen."

    (3) Promotion 1985 über "Romantisches Ballett. Eine Auskunft zur Frauenfrage".

    (4) S. 62: "Obgleich Lewitan in höchstem Maße bekannten Tanzkritikern wie Horst Koegler als Inspiration und Informationsquelle diente [nicht belegt, wie; FMP], erwähnte dieser Lewitan in seinem Ballettlexikon nur als Gatten der Eduardowa." Immerhin geht aber die Tatsache, daß Frau Karina in der New York Public Library Dance Collection die von ihr dann ausgewerteten Dokumente über Lewitan finden konnte, auf Vermittlung Horst Koeglers zurück. Außerdem hat Koegler Lewitan in seinem Aufsatz mit Dokumentation "Tanz in die dreißiger Jahre" 1972 breiten Raum gewidmet. Berücksichtigt man noch den Titel von Koeglers Publikation "In the shadow of the swastika: dance in Germany" (1974) im Vergleich mit dem Buchtitel "Tanz unterm Hakenkreuz", ist man beim Lesen des o.g. Satzes von Karina in Versuchung, zu parodieren: "Obgleich Koegler in höchstem Maße den Autorinnen als Inspiration und Informationsquelle diente, erwähnten diese Koegler in ihrem Buch nur als Verfasser des Ballettlexikons."

    (5) "Das Programm [27.10.1935; FMP] umfaßt zwei Uraufführungen und eine Erstaufführung. [...] Die Uraufführungen waren zwei Laban-Ballette. Einmal die Tanzballade 'Gaukelei', die Laban ursprünglich ohne Musik nach gesprochenen Texten choreographiert hatte. Milloss ließ von Winfried Zillig, der auch selbst dirigierte, eine Musik dazu komponieren. 'Rosario la tirana', Iberisches Ballett in einem Akt nach der Handlung und Musik des Spaniers Juan Manén. Die im Programm vermerkte choreographische Komposition besorgte ebenfalls Aurel von Milloss nach der Tanzbeschreibung Rudolf von Labans." Heinrich Riemenschneider: Theatergeschichte der Stadt Düsseldorf. Düsseldorf 1987, Bd. 2, S. 229

    (6) ebd.

    (7) Trotzdem gibt es einige Beispiele von Situationen, in denen Ballettmeister während des Dritten Reichs aufgrund von vergleichbaren Intrigen ihre Stellung verließen, jedoch anschließend weiterhin in Deutschland tätig waren. Zu Ellen von Cleve-Petz' und anschließend Helge Peters-Pawlinins Verlassen der Dresdener Staatsoper vgl. FMP: Helge Peters-Pawlinin: Tänzer, Choreograph, Kostümbildner. In: Tanzdrama. Magazin. H. 9, 4. Quartal 1989, S. 12f.

    (8) "Und später, 1938, während seines plötzlichen und nicht leicht nachzuvollziehenden Aufenthaltes in München, probte er mit Lilian Karina neue Duette zu Werken von - kaum zu glauben - Kurt Weill und Erich Korngold, die beide bereits in die Staaten geflohen waren. Drei Jahre später überzeugte er den zögernden Mussolini, "Petruschka" in Wien und Berlin aufführen zu lassen, während einer Tournee mit der Königlichen Oper Rom." Patrizia Veroli: Der besessene Tänzer Aurel von Milloss, von 1928-1938. In: Tanzdrama, Magazin. H. 30, Oktober 1995, S. 19-25, hier 21.

    (9) Telefonat vom 1.6.1996; Martha Hensel ist vielleicht als einzige aus der Tanzgruppe am Düsseldorfer Theater unter Milloss noch am Leben (mitwirkend waren u.a. Erika Hanka, Marcel Fenchel-Luipart und Bernhard Wosien). - Auch Riemenschneider sind trotz profunder Kenntnisse (u.a. Direktor des Düsseldorfer Theatermuseums, wo er 1983 die Ausstellung "Verfemte Kultur" zeigte) die Gründe für Milloss' Verlassen Düsseldorfs nicht bekanntgeworden (ebd. S.229f.).

    (10) Fax vom 2.6.1996. Milloss wurde aber offenbar von Laban beraten: "Milloss told me that at the beginning of 1928, he started to attend the Laban Central Choreographic Institute, too: it was there that Laban started to assist to his improvisations, and spent some time with him, giving him suggestions and finally proposing to Herwarth Walden to come to his rehearsals (still in the Hertha Feist School)." (ebd.)

    (11) darunter Jascha Horenstein, Leopold Lindtberg, Wolfgang Langhoff

    (12) Riemenschneider a.a.O., S. 206

    (13) Max Burghardt: Ich war nicht nur Schauspieler. Erinnerungen eines Theatermannes. Berlin und Weimar 1983, S. 343

    (14) Lilo Gruber, Ballett-Direktorin und Chefchoreographin der Staatsoper von 1955 bis zu ihrer Pensionierung 1971, hatte 1953 auf einen Artikel von Daisy Spies reagiert (in der "Weltbühne", zitiert nach "Zur Diskussion: Realismus im Tanz. Hrsg. von der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten, Hauptabteilung Künstlerischer Nachwuchs und Lehranstalten. Dresden o.J., S. 38): "Frau Daisy Spies zeigt die Schwierigkeiten, die uns Tanzschaffenden hinlänglich bekannt sind, schon zum Teil auf. Wesentlicher ist uns aber, welche anderen Voraussetzungen noch vorhanden sein müssen, um zum sozialistischen Inhalt und zur nationalen Form kommen zu können. Es muß deshalb die Aufgabe der Tanzschulen und der Ballettmeister sein, nicht nur klassischen und modernen Tanz, sondern, neben diesem notwendigen technischen Rüstzeug, ein gründliches Studium des Marxismus-Leninismus und der Lehren Stalins zu vermitteln. Außerdem müssen sie es verstehen, die Scheu vor dem deutschen Volkstanz überwinden zu helfen, der auch meiner Meinung nach eine wesentliche Hilfe ist, das Ballett seiner Stagnation zu entreißen und es zu befruchten. Ich erlebe es immer wieder in der Praxis, daß die Mehrzahl unserer Bühnentänzer den deutschen Volkstanz nur mangelhaft ausführen kann. Die Tänzer sind international ausgebildet und verbildet, so daß sie für den eigenen nationalen Tanz wenig Einfühlungsvermögen aufzubringen vermögen." --- Sozialistischer Inhalt vereint mit nationaler Form - oder erst das Nationale, dann das Sozialistische?

    (15) Böhme hat die Entlassung von Knust und "Übernahme" des Archivs aller Wahrscheinlichkeit nach nicht angestrebt, denn er wird erst Ende Februar 1937 auch mit dem Archiv betraut, vermutlich nach Feststellung, daß man ohne das Archiv doch nicht auskommt. Er erhält zunächst nur sehr kurz befristete Verträge für Archivarbeiten. Vgl. Teilnachlaß Fritz Böhme im Deutschen Tanzarchiv Köln, insbesondere Vertrag vom 22.2.1937.

    (16) Brief im Deutschen Tanzarchiv Köln, Slg. Knust

    (17) "Eine Frage, die uns seit 30 Jahren beschäftigt, ist die nach einer schönen, die Bewegung nicht hemmenden Festkleidung. Der Jackettanzug und der Smoking sind farblos, den Körper entstellend, hinderlich und heiß. (Die Frauen tun sich etwas leichter, oder könnten es, sofern sie nicht irgendeinem herrschenden Modespleen huldigen). Es müßte doch möglich sein, ein Festgewand für Frauen und eins für Männer zu finden und einzubürgern, welches die Bewegungsfreude nicht erstickt. Und zwar wäre es wünschenswert, daß dieses Gewand nicht nur für die allen zugänglichen allgemeinen Tänze brauchbar sei, sondern auch für jene festlichen Reigen, die eine besonders geschulte und begeisterte Schar (am besten mitten im Saal, nicht auf der Bühne) als Bestandteil der Feier zelebrieren." Brief von Knust an Kurt Peters vom 27.5.1943, Deutsches Tanzarchiv Köln, Sammlung Knust

    (18) Albrecht Knust an Kurt Peters, 19.5.1944, Deutsches Tanzarchiv Köln, Sammlung Knust

    (19) Karina macht in konsequenter Fortführung ihrer - als solche aber nicht gekennzeichneten - Interpretation aus einer Ablehnung der tänzerischen Weiterbildung durch die Tanzgruppe der Staatsoper eine (mutige) öffentliche Verweigerung nationalsozialistischer Einflußnahme durch Laban: "Die Tänzer der Staatsoper fühlten sich unter der Ägide des Generals Hermann Göring aber sicherer. [...] Die Tänzer der Staatsoper aber wagten es sogar, die Teilnahme am Rangsdorfer Kurs zu verweigern. Doch nicht nur das, sie gaben dies auch noch in einer Zeitungsnotiz bekannt." (S. 88)

    (20) So etwa die diversen Schulungslager des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, beispielsweise das Nationalpolitische Lager für junge Lehrer; oder der weltanschauliche Schulungskurs des Buchhändlernachwuchses.

    (21) Dr. G-e im Berliner Tageblatt Nr. 384, Abend-Ausg. v. 15.8.1935. Vgl. ferner "Rudolf von Laban über Friedrichshagen" im BT Nr. 374, Abend-Ausg. v. 9.8.1935; F[ritz] B[öhme] in der DAZ Nr. 379, Abend-Ausg. v. 15.8.1935; B[eda] P[rilipp] im Berliner Lokal-Anzeiger Nr. 210 v. 1.9.1935; Der Tanz, Jg. 8-1935, H. 6, S. 16 und H. 9, S. 14f.

    2) s.u.a. Günter Goebbels: Tatjana Barbakoff: 1899 Libau - 1944 Auschwitz. Katalog der Ausstellung im Stadtmuseum Düsseldorf, 17. Oktober bis 24. November 1991, Düsseldorf 1991; Norbert Molkenbur/ Klaus Hörhold: Oda Schottmüller. Tänzerin, Bildhauerin, Antifaschistin. Eine Dokumentation. Berlin 1983; Horst Koegler in Reclams Ballettlexikon; René Blum, 1878-1942, Textes de M.T.Bernard, Jean Cocteau, Colette u.a., Paris 1950; Léon Blum: L'histoire jugera. Montréal 1943 und L'oeuvre, vols. IV und V, Paris 1954

    (23) Vgl. seine Briefe an Hanns Niedecken-Gebhardt in dessen Nachlaß in der Theaterwiss. Slg. der Universität zu Köln

    (24) Horst Koegler, in: Tanz in den Abgrund. Chronik deutscher Tanzereignisse 1936-44. Jb. Ballett 1973, S. 58


    © SK Stiftung Kultur 1996 - 2018 Deutsches Tanzarchiv Köln

  • Nr. 3: Buchrezensionen / Book reviews

    TANZWISSENSCHAFT 3

    Frank-Manuel Peter:
    Buchrezensionen / Book reviews

    "Ich habe lange
    mit Gott in St. Moritz gelebt"

    Letztmalig ist er 1919 aufgetreten, und wohl kaum jemand ist am Leben, der ihn noch auf der Bühne gesehen hat. Dennoch ist Nijinskys Ruhm als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Ballettgeschichte so verbreitet und seine eher kurze Tänzer- und Choreographenlaufbahn so von Legenden umwuchert, daß die Herausgabe seiner Tagebuchaufzeichnungen auch heute noch kein verlegerisches Risiko darstellt. Zumal dann, wenn sie erstmalig vollständig in der unredigierten Originalfassung erscheinen, wie das 1995 in französisch bei Actes Sud und jetzt auf deutsch im Berlin Verlag geschehen ist.

    Wissenschaftler sind immer an der unbearbeiteten, ursprünglichen Originalversion von Aufzeichnungen interessiert, insofern war diese Ausgabe ohne die zeitbedingten Kürzungen seiner Frau Romola von 1936 lange überfällig. Wo sich die verwendeten drei Schreibhefte heute im Original befinden, erfährt man seltsamerweise jedoch nicht aus dem Buch: ein editionsmäßig grober Fehler. Ob allerdings dem nicht wissenschaftlich interessierten Lesepublikum mit dieser Neuausgabe viel gedient ist, wird sicherlich unterschiedlich beurteilt werden. "Diese Tagebücher sind ein einzigartiges Dokument einer beginnenden Schizophrenie" heißt es im Klappentext, und schon da müßte jedem eigentlich klar werden, daß die Lektüre anstrengend werden könnte. Leser von Memoiren wollen viel über die Zeit und ihre Berühmtheiten erfahren, hier aber liegen persönliche Tagebuchaufzeichnungen eines kurzen Lebensabschnittes vor. Zwar heißt es ferner: "Alle ihm wichtigen Menschen kommen vor", aber das sind vor allem Familien-Debakeleien; zudem verzichtet der Berlin Verlag unverständlicherweise auf ein Register. Natürlich tauchen auch Diaghilew, Strawinsky, Karsawina und andere Prominente seiner Umgebung - rückblickend - in dieser Niederschrift auf, und Nijinsky gibt sehr persönliche Einschätzungen und Erinnerungen preis. Überraschen wird manchen Leser, wie freimütig Nijinsky 1919 seine Aufzeichnungen ausdrücklich der Öffentlichkeit zugedacht hat, trotz aller Intimitäten über Stuhlgang oder Sexualität (er äußert sich mehrfach eingehend über seine Auto- und Heterosexualität und über die Jahre mit Diaghilew). Die Gedanken über das Theater sind allerdings rar und größtenteils schon bekannt gewesen.

    Die deutsche Ausgabe erscheint bar aller Kommentare, mit ganz wenigen Anmerkungen zu Personen und einer angehängten knappen Chronologie, sogar ohne Vor- oder Nachwort, ganz offensichtlich "nur übersetzt" und nicht von einem Fachmann "herausgegeben". Die französische Ausgabe ein Jahr zuvor hatte immerhin ein 11 Seiten umfassendes Vorwort vom französischen Übersetzer Christian Dumais-Lvowski aufzuweisen mit vielen interessanten Informationen, auch über die Geschicke der Tagebuchhefte, sowie einen Anhang mit vier Briefen aus einem vierten "cahier". Dafür ist die deutsche Ausgabe - trotz Verzicht auf einen Abbildungsteil - eine ästhetische Produktion: Hardcover mit gut in der Hand liegendem gerundetem Rücken, ansprechend gestaltetem Schutzumschlag und einem Lesezeichen-Bändchen. Warum man solch ein Buch aber - für Jahrhunderte haltbar - auf säurefreies Papier druckt, wenn man es dann trotz festem Einband nicht fadenheftet, sondern nur eine kurzlebige Klebebindung herstellt, bleibt ein verlegerisches Rätsel.

    Waslaw Nijinsky: Ich bin ein Philosoph,
    der fühlt. Die Tagebuchaufzeichnungen
    in der Originalfassung.

    Aus dem Russischen von Alfred Frank. Berlin: Berlin Verlag 1996. 284 Ss. ISBN 3-8270-0190-0 DM 39,80

    Weniger berühmt und legendär, aber nicht minder interessant als andere Diaghilew-Choreographen wie Nijinsky und Fokine (und vielleicht als dessen künstlerischer Erbe zu bezeichnen) ist Leonide Massine(1896-1979). Im Vergleich mit ihnen wurde Massines Werk bisher jedoch wissenschaftlich viel zu wenig untersucht und gewürdigt. Monika Woitas hat diesen tanzwissenschaftlichen Mißstand jetzt mit einer ausführlichen Studie behoben und Massines umfangreiches und stilistisch vielfältiges OEuvre auf der Basis ihrer schon 1988 fertiggestellten Dissertation eingehend untersucht. In Ermangelung zeitgenössischer Notationen der Massine-Ballette konzentriert sich ihre Forschung auf die "vergleichende Auswertung der zahlreichen verbalen und ikonographischen Quellen - ergänzt durch eine entsprechende Musikanalyse". Einen Hauptteil machen Massines Ballette für Diaghilew aus, die Monika Woitas nach Stil und Charakter zu Werkgruppen zusammengefaßt hat. Der andere Hauptteil des Buches ist einer eingehenden Analyse von "Parade" gewidmet, jenem Ballett-Experiment, welches Massines Ruf als Avantgarde-Choreograph begründete und Diaghilews Vorstellungen vom Gesamtkunstwerk (Cocteau, Satie, Picasso - Massine) in idealer Weise repräsentiert (Vorwort).

    In diesem Sinn läßt die Publikation nur wenig zu wünschen übrig. Das Register hätte aber außer den Personen gut auch die Werke ausweisen können; man muß viel herumblättern, wenn man beispielsweise herausfinden will, ob nicht auch der "Dreispitz" (de Falla, Picasso), "Salade" (Milhaud, Braque) oder "Mercure" (Satie, Picasso) oder, als Vergleich mit anderen Choreographen, der "Train bleu" (Cocteau, Milhaud, H. Laurens, Coco Chanel, Picasso - B. Nijinska) der Diaghilew'schen Idee vom Gesamtkunstwerk entsprochen hätten und eingehendere Untersuchungen wert gewesen wären. Am Literaturverzeichnis kann man ablesen, daß die relativ lange Zeitspanne von der Fertigstellung der Dissertation bis zum Erscheinen des Buches nicht oder kaum für die Einarbeitung neuerer Forschungen genutzt wurde, was doch schade ist, denn so schnell wird kein zweites deutsches Buch über Massine erscheinen. Es fehlen insbesondere die Aufsätze zu den spanischen Arbeiten Massines, von Dawn Lille Horwitz "The Hispanic Influence on Leonide Massine" (1991), von Joan Acocella "Diaghilev sits out World War I in Spain: Iberian Idyll" (1989), Jane Kings Bericht über die Ausstellung und Conference zur Beziehung der Ballets Russes zu Spanien (38th annual International Festival of Music and Dance in Granada 1989), ferner Lynn Garafolas "The making of ballet modernism" (1989) oder Janet Sinclairs "Choreartium born again" (1991). Auch, daß der "systematisch-chronologische Werkkatalog mit detaillierten Angaben" nur in Vorbereitung ist (bei der Verfasserin?) und nicht im Anhang des Buches, wo ihn ein knappes Titelverzeichnis unzureichend vertritt, ist jammerschade. In diesem Zusammenhang wäre es interessant gewesen, einen weiterführenden Hinweis auf das "Bureau de Musique Mario Bois" und sein Verzeichnis "The ballets choreographed by Leonide Massine: catalogue established Paris, Janvier 1990 by Mario Bois as the exclusive representative of the Massine estate, Weseke (R.D.A.)" zu erhalten. In einer Werkuntersuchung ist die Fortsetzung der Zurückhaltung Massines über seine letzten, eher privaten Jahre verständlich, aber die auf S. 38 in einer Fußnote diesbezüglich - im Präsenz - erwähnte letzte Frau und Witwe, Hannelore Massine, ist inzwischen ebenfalls verstorben, und gerade für die Forschung wäre doch wichtig zu erfahren, ob tatsächlich alle Dokumente nach Massines Tod von ihr veräußert wurden, oder ob es da doch noch familiären Besitz zu erforschen gibt: auch Lorca Massine wird - im Gegensatz zu Tatjana Massine - in der Danksagung nicht genannt. (Die ebenfalls gerade - posthum - erschienene Massine-Biographie von Vicente García-Márquez [London 1996] dankt immerhin auch Lorca, Peter und Theodor Massine.) Wenn man von diesen Kleinigkeiten absieht, ist die Arbeit von Monika Woitas aber ein gelungener Baustein innerhalb der Tanzgeschichtsforschung des 20. Jahrhunderts.

    Monika Woitas: Leonide Massine - Choreograph zwischen
    Tradition und Avantgarde.

    Tübingen: Max Niemexer Verlag 1996. 238 Ss. ISBN 3-484-66018-x (Theatron: Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste, Bd. 18). DM 86,00

    Längst überfällig war auch eine Untersuchung über die Arbeiten Marc Chagalls für die Bühne. Immerhin war Chagall Schüler von Léon Bakst und kam durch in ihn früh in Kontakt mit den Ballets Russes, mit der Zeitschrift "Welt der Kunst" und natürlich mit Diaghilew. Zeit seines Lebens war Chagall von der Welt des Theaters, des Balletts und der Oper begeistert, und sicherlich mehr als 500 seiner Skizzen und Entwürfe für die Bühne sind erhalten geblieben. Kenntnisreich und mit 110 Farbabbildungen werden als Hauptwerke Chagalls Arbeiten für das Jüdische Kammertheater in Moskau, seine Entwürfe für "Aleko", "Feuervogel", "Daphnis und Chloe" und "Die Zauberflöte" vorgestellt.

    Beate Reifenscheid: Chagall und die Bühne. Bielefeld: Kerber Verlag 1996. 224 Ss. mit 118 Abbildungen, davon 110 in Farbe. ISBN 3-924639-45-0. DM 98,00

    Ein kleinformatiges Bändchen ist zu Kindheit und Jugend der Sophie Taeuber Arp erschienen und will einen Eindruck vermitteln, aus welchem Umfeld heraus Sophie Taeuber in die Welt der Avantgardekunst der 20er Jahre hineinkommen ist. Ihre spätere Mitwirkung etwa im Cabaret Voltaire, bei den Veranstaltungen der Zürcher Dadaisten und damit auch im Kreis des modernen Tanzes um Laban, Wigman, Perrottet und Wulff läßt sich hier allerdings noch nicht erahnen.

    H.R.Fricker: Sophie Taeuber Arp,
    Kindheit und Jugend in Trogen.

    Zürich: edition fink 1995, ISBN 3-906086-13-5, sFr. 20,- (72 Ss. mit 13 Einlageblättern im Bildteil, 59 Abb. und dem Nachdruck eines Textes von Sophie Taeuber Arp; Broschur).

    Ein vielversprechender junger Tänzer an der Berliner Staatsoper 1928 und anschließend Ballettmeister in Hagen, Duisburg, Breslau, Augsburg und Düsseldorf, der Mitte der 30er Jahre Deutschland verließ, war Aurel von Milloss. Nach der Ballettmeistertätigkeit am Ungarischen National-Theater 1936-38 folgten als wichtigste Stationen - in der Funktion des Ballettdirektors - die Oper in Rom 1938-45, die Mailänder Scala 1946-50, das Kölner Opernhaus 1960-63, die Wiener Staatsoper 1963-66, erneut die Oper in Rom 1966-69 und wieder Wien 1971-74. Ein grundlegendes Werk über Leben und Wirken von Milloss war lange Zeit Desiderat und ist nun nach jahrelanger akribischer Forschung und vielen Gesprächen und Interviews von Patrizia Veroli überzeugend vorgelegt worden. Leider liegt die Arbeit bisher nur in italienischer Sprache vor; ihre hochrangige Qualität würde, könnte man einen Übersetzungskostenzuschuß erlangen, unbedingt eine deutsche Ausgabe des Buches rechtfertigen.

    Patrizia Veroli: Milloss. Un maestro della coreografia tra espressionismo e classicità. Con uno scritto di Roman Vlad. Lucca: Libreria Musicale Italiana Editrice 1996. ISBN 88-7096-174-5. Lit. 55.000, 659. Ss.

    Der Tanz in der Bildenden Kunst, genauer: in der Moderne "von Matisse bis Schlemmer" ist das Thema einer bemerkenswerten Ausstellung, die - hauptsächlich dank generöser Förderung durch die Deutsche Telekom - zur Zeit in der Kunsthalle Emden und anschließend im Haus der Kunst München zu sehen ist. Der gleichzeitig hierzu erschienene Katalog vereint 11 Aufsätze zu Tanz und Bildender Kunst, zu Matisse, Kirchner, Nolde, den Futuristen, Sonia Delaunay, Tanz in der Skulptur, Schlemmer, zur Geschichte des modernen Tanzes in Deutschland (Hedwig Müller), zum Verhältnis von Literatur und Tanz in der Moderne (Gabriele Brandstetter) sowie den nicht untertitelten Essay "Der Körper und das Unsichtbare" von Laurence Louppe. Für den typischen Ausstellungsbesucher gedacht, darf man vom Katalog wohl keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse erwarten; wissenschaftlich gesehen bleiben die Texte in der Regel im Konventionellen, Bekannten, Vorhersehbaren. Auch die gute Druckqualität macht den Band ein wenig zu einem Bilderbuch - und idealen Geschenk. Zu bemängeln gibt es nur, daß zuviel buchgestalterischer Freiraum den Abdruck der Künstlernamen fast im Falz - also nur mit Mühe auffindbar - gestattete. Und daß im Katalogteil die angekündigte Unterscheidung in "E" (= Emden), "M" (= München) und "n.a." (= nicht ausgestellt) vergessen wurde. Ebenso vermißt man schmerzlich einen Bildnachweis für die abgebildeten, aber nicht ausgestellten Werke wie z.B. Photos: Diese kommen in der Ausstellung in Emden zu kurz und sind auch im Katalog auf Marginalien beschränkt. Offensichtlich in weiser Erkenntnis, daß die Werke der Bildenden Kunst dem Vergleich mit der Darstellenden Kunst bzw. mit Werken, die dem eigentlichen Tanz näher stehen (wie künstlerische Photographien von Tanz), trotz aller Dynamik leider nicht standhalten können.

    Tanz in der Moderne:
    Von Matisse bis Schlemmer.

    Hrsg. von Karin Adelsbach und Andrea Firmenich. Köln: Wienand 1996. 308 Ss. mit 138 farbigen und 104 s/w Abb. Zugleich Katalog der Kunsthalle Emden und vom Haus der Kunst, München. Buchhandelsausgabe: ISBN 3-87909-511-6, DM 98,-

    Außerdem erreichten uns:

    Wilhelm Reese: Die Kunst der Seele. Tanz als Ausdruck der Emotionen.
    Frankfurt am Main: Haag und Herchen 1994. ISBN 3-86137-140-5

    Das neue Lexikon der Musik.
    Hrsg.v.Marc Honegger und Günther Massenkeil. Stuttgart: J.B. Metzler 1996. Neuausgabe auf der Grundlage von "Das große Lexikon der Musik". Über 10.000 Artikel auf 3400 Seiten mit 700 Abb., davon 200 in Farbe. 4 Bände (Leinen) in Kassette. ISBN 3-476-01338-3. Subskriptionspreis bis 30.4.1997 DM 348,-, danach DM 398,-.


    © SK Stiftung Kultur 1996 - 2018 Deutsches TanzarchivKöln

  • Nr. 4: Noverres Anfänge in Berlin

    TANZWISSENSCHAFT 4

    Rainer Theobald:
    Noverres Anfänge in Berlin.

    Zur Geschichte des Balletts an der Hofoper Friedrichs des Großen

    Der Choreograph und Ballett-Reformer Jean-Georges Noverre (1727-1810) wurde 1744, also im Alter von 17 Jahren, als Mitglied einer Tänzer-Gruppe um den französischen Ballettmeister J.-B. Lany von dem preußischen König Friedrich II. an die neu gegründete Königliche Oper in Berlin engagiert. Er blieb mit Lany und dessen Ensemble drei Jahre in Berlin und trat dort in 21 Opern-Balletten sowie in zahlreichen Tanz-Divertissements des französischen Schauspiels auf. Bisher war nicht bekannt, in welchen Opern, in welchen Rollen und Funktionen Noverre in Berlin tätig war. Es werden hier erstmals alle Auftritte Noverres in Berliner Opern-Balletten verzeichnet sowie seine Aufgaben und die aller seiner Mittänzer, zu denen die berühmte Barberina gehörte, charakterisiert. Es zeigt sich, daß die drei Berliner Jahre unter Lanys Führung und als fester Tanzpartner von Lanys Schwester auf den Anfänger Noverre und sein Jahrzehnte später erschienenes Hauptwerk "Lettres sur la danse, et sur les ballets" einen größeren Einfluß ausübten, als man bisher wußte. Zugleich werden Art und Umfang der Ballett-Produktion an der Hofoper Friedrichs des Großen erkennbar.

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    In 1744, at the age of 17, choreographer and ballet reformer Jean-Georges Noverre (1727-1810) was engaged, as a member of a group of dancers around French balletmaster J.B.Lany, by the Prussian King Frederick II for the newly-founded Royal Opera, in Berlin. He remained in Berlin with Lany and his company for three years, performing there in 21 opera ballets as well as in numerous dance divertissements of the French theater. It was previously unknown in which operas, in which roles and in which functions Noverre was engaged. Here, for the first time, all of Noverre's Berlin opera ballet performances are indexed, and all of his tasks and those of all of his co-dancers are characterized - including those of the famed Barberina. It reveals that the three years in Berlin under Lany's leadership, and as the designated dance partner of Lany's sister, had a greater influence on the novice Noverre and his major work, "Lettres sur la danse, et sur les ballets", which was to appear decades later, than was previously acknowledged. The type and extent of ballet production at the court opera of Frederick the Great will be equally discernible.

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    "Nach der ganz Europa umfassenden Wirksamkeit Noverres, seiner Schüler und unmittelbaren Nachfolger besteht kein Zweifel mehr, daß das Ballett neben die Oper und das Drama als gleichberechtigte theatralische Kunst getreten ist." So lautet eine Bilanz zum Wirken des Choreographen Jean-Georges Noverre (1727-1810) in einer neueren Arbeit über das Ballet d'action in der Geschichte des Bühnentanzes 1). Der Autor konstatiert zueginn seines Buches, daß "eine detaillierte Verfolgung" von Noverres Lebensweg nicht mehr unternommen zu werden brauche, da inzwischen genügend eingehende Forschungen hierzu vorlägen.

    Angesichts der notorischen Dürftigkeit biographischer Daten zu historischen Tänzer-Persönlichkeiten muß in der Tat die Fülle von Abhandlungen über Jean-Georges Noverre geradezu opulent erscheinen. Das Wirken dieses aus heutiger Sicht wohl bedeutendsten Choreographen des 18. Jahrhunderts hat, hauptsächlich aufgrund seiner kunsttheoretischen Schriften, schon seit dem 19. Jahrhundert eine sonst kaum jemals zu beobachtende Vielzahl von musik- und tanzhistorischen Interpretationen, Kommentaren und Quellenpublikationen gezeitigt. Eine der wichtigsten Veröffentlichungen der Noverre-Literatur erschien allerdings erst vor zwei Jahrzehnten: Mehr als 200 Jahre nach der von J. J. C. Bode und G. E. Lessing besorgten einzigen deutschen Ausgabe (Hamburg 1769) von Noverres choreologischem Hauptwerk, den "Lettres sur la danse, et sur les ballets" (Stuttgart und Lyon 1760), wurde endlich ein kommentierter Neudruck der deutschen Fassung veranstaltet. So verdienstvoll diese Edition als solche ist, die der Leipziger Tanzhistoriker Kurt Petermann herausgegeben und mit ausführlichem Nachwort sowie mit Werkverzeichnis, Bibliographie und Register versehen hat 2), so zeigt sich doch bei näherer Beschäftigung mit dem kritischen Apparat eine Reihe von eklatanten Mängeln und Seltsamkeiten, die symptomatisch sind für die traditionellen Schwächen der biographischen Noverre-Forschung: fehlender theaterhistorischer Überblick, Schwanken des Urteils je nach der gerade benutzten Sekundärliteratur, unpräzise Aussagen aufgrund unzureichender Kenntnis, Auswertung und Nachweise der Quellen2a). Die Tatsache, daß Petermanns Edition dennoch zu den gründlichsten neueren Veröffentlichungen über Noverre gezählt werden muß, verdeutlicht den Zustand der Forschung über den großen Neuschöpfer des Ballet d'action, die nicht einmal im biographischen Umriß und in der grundlegenden Werkinterpretation ein klares Bild zu schaffen vermag.

    Um wieviel schlechter sieht es da erst aus, wenn man sich einmal über einen bestimmten Lebensabschnitt des Künstlers näher unterrichten will - zum Beispiel über die Anfänge Noverres als Tänzer im Berliner Opern-Ensemble Friedrichs des Großen. Verfolgt man die Angaben darüber in den Noverre-Biographien seit 1882, als in London die erste größere Arbeit über den Ballettmeister erschien 3), so findet man diese Berliner Episode jeweils in zwei bis vier Sätzen abgehandelt, die deutlich machen, daß es dem betreffenden Historiker zu mühsam erschien, hier systematische Quellenforschung zu betreiben, um das Dunkel jener frühen Jahre durch gesicherte Erkenntnisse aufzuhellen. Dabei müßten doch gerade die ersten Jahre der Theaterpraxis eines später so gefeierten, einflußreichen Künstlers für die Forschung von eminentem Interesse sein, und dies umsomehr, als die Praxis Noverres als Tänzer nach allgemeinem Konsens auffallend kurz währte und daher all seine späteren pädagogischen Bemühungen, seine Analysen und Lehren zur Bewegung und Empfindung des Tänzers, im wesentlichen auf den Erfahrungen dieser Jahre fußen mußten.

    Überprüfen wir also zunächst, was die Biographen Noverres über die ersten vier Jahre seiner Bühnenwirksamkeit zu berichten wissen. Charles Edwin Noverre schreibt 1882 in "The Life and Works of the Chevalier Noverre": "In August, 1743, the young Noverre made his début before the Court of Louis XV., at Fontainebleau. Here he received an indifferent welcome; but in no way discouraged, he was soon afterwards residing at Berlin, where in a very short time he made himself a general favourite. Frederick the Great, and especially his brother, Prince Henry of Prussia, received him most affectionately. But Noverre could not overcome his dislike to the very rigid way in which the Royal Festivities were there conducted, nor his dissatisfaction at the little enterprise displayed in theatrical productions. In 1747 he returned to France" 4). Bereits ohne nähere Information über die tatsächlichen Vorgänge läßt sich erkennen, daß hier Wahrheit mit Dichtung vermischt ist. Aus englischer Sicht mußte es natürlich das rauhe, bekanntermaßen stets militärische Gebaren am preußischen Hof sein, das den jungen französischen Tänzer 5) abstieß, obwohl er es in "sehr kurzer Zeit" zum "general favourite" gebracht hatte! Solche rein spekulativen Folgerungen und Mutmaßungen begleiten das Noverre-Schrifttum bis in die Gegenwart 6). Hans Niedecken hat sich in seiner Dissertation 1914 erstmals wissenschaftlich mit dem Leben und Werk Noverres beschäftigt, doch seine musikhistorische Arbeit vermag über die Berliner Jahre des Künstlers nichts Neues beizubringen 7). Auch Andrei Levinson, der 1915 mit sicherem Blick Noverres Gestalt in ihrer Größe und in ihren Schwächen zeichnet 8), eilt über die Jahre 1744-1747 in einem Nebensatz hinweg. Noch 1950 herrscht in der nun endlich gründlichen und umfassenden, aber keineswegs fehlerfreien Noverre-Biographie Deryck Lynhams 9) weitgehende Ungewißheit über des Tänzers Anfänge in Berlin. Immerhin weiß Lynham bereits über die näheren Umstände von Noverres Engagement zu berichten, und er nennt vier Opern, bei denen er Noverres Mitwirkung als sicher oder wahrscheinlich bezeichnet. Doch die Zeitpunkte von Beginn und Ende der Berliner Tätigkeit des Künstlers blieben Lynham ebenso unbekannt wie dessen Stellung und Aufgaben an der Hofoper Friedrichs des Großen 10). Pierre Tugal in seiner 1959 erschienenen Noverre-Monographie 11) erwähnt das Berliner Engagement in einem einzigen Satz und fügt hinzu: "Über diese ganze Periode seines Lebens ist wenig bekannt." Manfred Krügers anfangs zitierte, 1963 erschienene Arbeit über Noverres Einfluß auf die Ballettgestaltung verzichtet, wie gesagt, von vornherein auf alle biographischen Forschungen. Die Tanz-Historikerin Friderica Derra de Moroda gibt 1976 im Rahmen ihrer Untersuchungen zum Ballet d'action 12) zu erkennen, daß sie trotz Lynhams Veröffentlichung so gut wie nichts über Noverres Frühzeit weiß: "Von Noverre als Tänzer hören wir erst in Berlin ... Hier finden wir 1747 den Namen Noverre im Corps de ballet, aber nicht als Solotänzer, wie einige Autoren behaupten. Wir wissen nichts weiteres über Noverre als Tänzer, da weder er noch irgend ein Dokument darüber Auskunft gibt" 13)). Petermann schließlich übernimmt nun all dieses Nichtwissen, beklagt das gänzliche Fehlen von Vergleichsmöglichkeiten zwischen Noverres tänzerischer Praxis und seinen choreologischen Arbeiten, ergeht sich in Mutmaßungen über die Ursachen für die schnelle Aufgabe seiner aktiven Tänzerlaufbahn und gelangt zu dem Schluß, daß Noverre sich so früh der Choreographie zugewandt habe, weil er als aktiver Tänzer erfolg- und bedeutungslos gewesen sei. Wenn somit nach mehr als 200 Veröffentlichungen 14), die sich in drei Jahrhunderten mit Jean-Georges Noverre beschäftigten, noch immer beklagt wird, daß kaum Fakten über die ersten Jahre seiner Bühnentätigkeit bekannt seien - eines Engagements bei einem der vortrefflichsten Opern- und Ballett-Ensembles, die zu dieser Zeit an einem der Höfe Europas zu finden waren - dann muß die Ursache solchen Defizits wohl methodologischer Art sein.

    Bekanntlich erfüllte um die Mitte des 18. Jahrhunderts das Ballett eine Art "Dessert"-Funktion in der Aufführungsfolge des Theaterabends. Seine Aufgabe bestand darin, als Divertissement die Zwischenakte zu kennzeichnen und zu überbrücken, wobei möglichst nach jedem Aktschluß Motive oder optische Elemente der vorhergegangenen Handlung in tänzerischen Einzel- und Gruppenbewegungen wieder aufgenommen werden sollten, um die von der Handlung erregten - oder gelangweilten - Gemüter durch musikalisch-optische Harmonie, durch rhythmisch bewegte Bilder zu besänftigen und zu zerstreuen. Das Ballett war weder eine abendfüllende musikalisch-pantomimische Handlung, noch ein integrierender Bestandteil der Oper, sondern nur ein formaler Bestandteil der
    A u f f ü h r u n g . Wer also hier nach Quellen zur Ballettgeschichte suchen will, muß sich mit der Aufführungspraxis der Oper befassen. Schaut man beispielsweise lediglich in das Register von Louis Schneiders "Geschichte der Oper und des Königlichen Opernhauses in Berlin" 15), einem der wichtigsten Quellenwerke zur preußischen Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts, so wird man Noverres Namen dort vergeblich suchen. Dennoch findet er sich im Text (S. 114 sowie Beilagen S. 51), und zwar bei der Aufzählung des Ballettpersonals, das Schneider in gedruckten Libretti fand. Diese meist zweisprachigen Textbücher bilden, wie die Lektüre von Schneiders Chronik zeigt, eine wesentliche Basis für seine Kenntnis von Daten und Personalien. Die Auswertung früher Textbücher zu Opern und Singspielen gehört seit dem 19. Jahrhundert zur musikwissenschaftlichen Methodik, während ihre Nutzung für die Theaterwissenschaft, ihre Behandlung als Aufführungsdokumente, noch heute längst nicht in ausreichendem Maße stattfindet. Dabei waren die Libretti des 17. und 18. Jahrhunderts weder als Musikdrucke noch als literarische Erzeugnisse konzipiert, sondern sie stellten regelrechte "Programmhefte" dar, die im Theater verkauft oder verteilt wurden und dem anwesenden Publikum ein Maximum an Informationen zur bevorstehenden Aufführung bieten sollten, viel mehr als ein bloßer Theaterzettel: Im Idealfall enthält ein Libretto des 18. Jahrhunderts den kompletten Text der Gesänge und Rezitative sowie die Szenenanweisungen, ferner Ort und Datum der Aufführung, Angaben über den Autor und den Komponisten, den Bühnenbildner, die Besetzung der Rollen und - die vorkommenden Ballett-Einlagen mit ihrem Personal. Selbst in fachkundig bearbeiteten Libretto-Katalogen aus neuester Zeit werden zuweilen solche wichtigen Personal-Informationen noch unterschlagen, weil der bearbeitende Bibliothekar sie für unwesentlich hält 16). Wenn die Libretti aber Angaben zum Ballett enthalten, so kann der Historiker hier viel mehr Aufschluß erwarten als in irgendwelchen Hofmarschallamts- oder Rentkammer-Akten, die von den Forschern immer gern anvisiert werden, aber doch in der Regel nur trockene, wenig aussagekräftige Engagements- und Besoldungsfragen behandeln. Auf den einfachen Gedanken, die in Frage kommenden Libretti systematisch zu überprüfen, scheint bis heute kaum einer der vielen Noverre-Biographen gekommen zu sein 17). Dabei läßt sich auf diesem Wege eine recht klare Vorstellung von der Tätigkeit gewinnen, die der spätere "Shakespeare des Balletts" 18) in den ersten Jahren seiner Laufbahn als Mitglied einer französischen Ballettgruppe am preußischen Hof auszuüben hatte. Die Ergebnisse meiner Forschungen in dieser Richtung seien im folgenden, ohne weitere methodologische oder musikwissenschaftliche Erörterung, als bloße Faktensammlung zusammengefaßt und, soweit notwendig, quellenkundlich belegt.

    Die Verpflichtung einer Ballett-Truppe als unverzichtbarer Bestandteil eines Opernbetriebs gehörte zu den ersten Forderungen, die Friedrich II. im Rahmen seiner Pläne zur Wiedererrichtung einer höfischen Musik- und Theaterkultur in Berlin stellte, nachdem er 1740 den Thron Preußens bestiegen hatte. Schon im August 1742, also noch vor Fertigstellung des neuen Opernhauses Unter den Linden, waren die ersten Tänzer aus Paris eingetroffen, darunter der Ballettmeister Michel Poitiers (auch: Poitier) mit seiner Geliebten, der Primaballerina Cathérine Roland; ferner Marianne Cochois (auch: Cauchoy) mit ihrem Bruder und ihrer älteren Schwester Babet, der späteren Marquise d'Argens, einer geistreichen und charmanten, umfassend gebildeten Schauspielerin und Tänzerin. Bei der Eröffnung des Theaters mit Grauns Oper "Cesare e Cleopatra" füllten sie mit Pas de deux und Pas de trois die Divertissements nach den Aktschlüssen. In der Folgezeit verlangte Poitiers aus berechtigten künstlerischen Erwägungen das Engagement eines kompletten Corps de Ballet, und als der sparsame König die Absicht äußerte, dieses von Fall zu Fall aus Dilettanten, jungen Berliner Bürgersleuten, ergänzen zu wollen (die Kosten für den Opernhausbau, die Dekorationen und die hochrangigen Sänger hatten bereits erhebliche Mittel verschlungen), fühlte Poitiers seine Kunst profaniert; er machte seinem Verdruß durch schlechtes Benehmen Luft, so daß er bereits im August 1743 in Ungnade entlassen wurde. Er reiste ab, nahm aber Demoiselle Roland mit, sehr zum Bedauern des Königs, der die schöne Ballerina in einem anonymen Artikel in der Spenerschen Zeitung als "eine der grösten Täntzerinnen von Europa" bezeichnete. Es wurde nun der preußische Gesandte am französischen Hof, Monsieur de Chambrier, beauftragt, in Paris unverzüglich für Ersatz zu sorgen. Schon im folgenden Monat gelang es ihm, den Solotänzer Jean-Barthélémy Lany (1718-1786) als neuen Ballettmeister zu gewinnen, im Verein mit seinen beiden Schwestern als Tänzerinnen. Bezüglich ihrer Aufgaben und Gagen schreibt Chambrier am 15. Oktober 1743 an den König: "... à savoir: Lany en qualité de maitre de ballet et de premier danseur et aux appointements de deux mille écus par chaque année ... Madeleine Lany pour danser seule à l'opéra et Charlotte Lany pour danser dans les prologues et dans les ballets aux appointements de mille écus pour les deux par chaque année." Lany durfte nun auch das unter Poitiers so unausreichend gewesene Corps de ballet durch Engagement weiterer Mitglieder auffüllen, so daß die künftig übliche Stärke von 18-20 Tänzern erreicht wurde. Schon die ersten drei Künstler, die er für das Berliner Hoftheater verpflichtete, rechtfertigten das Vertrauen in seine Fähigkeit, den qualitativen Ansprüchen des Königs zu genügen: außer Lanys Schwestern Louise-Madeleine und Charlotte wurde der 16jährige Jean-Georges Noverre engagiert, der nach Ausbildung durch den großen Louis Dupré (1697-1774) erst im Juni desselben Jahres sein tänzerisches Début am Théâtre de la Foire bestanden hatte. Von dem bedeutenden, damals bereits namhaften Lany an den Hof des Königs von Preußen mitgenommen zu werden, war für den Anfänger Noverre sicher nicht, wie Petermann meint, "ein weniger attraktives Angebot", sondern eine Auszeichnung, verbunden mit der Chance, im Ausland Erfahrung und Sicherheit in einem vorzüglichen Ensemble zu gewinnen. Für des Königs Verlangen nach höchster Qualität spricht nämlich auch der Entschluß, eine weitere Primaballerina von internationalem Rang zu engagieren, obwohl mit Marianne Cochois bereits eine exzellente Solotänzerin zur Verfügung stand und mit Madeleine Lany eine zweite hinzugekommen war. Unter den bekannten dramatischen Umständen und diplomatischen Verwicklungen wurde die bereits in Italien, Frankreich und England gefeierte Barbara Campanini, genannt Barberina, nach Berlin geholt 19), um in einem Corps de Ballet zu glänzen, das sich im neuen Opernhaus im wahrsten Sinne des Wortes "vor aller Welt" sehen lassen konnte und sollte. Allein die Zugehörigkeit Noverres zu dieser Truppe zeugt von der Anerkennung seines Talentes.

    Wie sah nun seine Bühnentätigkeit in Berlin aus? Von 1744 bis 1747 leitete Lany die Ballett-Einlagen zu elf Opern und deren Wiederholungen, und bei allen können wir die Mitwirkung Noverres entweder nachweisen oder mit Bestimmtheit annehmen. Lany debütierte am 20. November 1743 "à la Comédie" und gefiel dem König sofort außerordentlich: "C'est sans contredit un des grands sujets pour la danse qu'il y ait en Europe", schrieb er am folgenden Tag aus Potsdam an seine Schwester Wilhelmine 20). Die mit dem Karneval verbundene Opernsaison begann jedoch erst im Dezember mit der Premiere von Metastasio-Grauns "Artaserse", gefolgt am 24. Januar von "Catone in Utica". Die Textbücher enthalten keine Angaben zum Ballett, und Louis Schneider bemerkt zur zweiten Aufführung: "Mit dem Ballett war es diesmal schlecht bestellt, namentlich vermißte der König die Roland schmerzlich" 21). Lanys Truppe war anscheinend noch nicht zu voller Entfaltung und Wirkung gekommen, zumal die junge Madeleine Lany noch nicht die an eine erste Tänzerin gestellten Ansprüche erfüllen konnte. Anders sah es bei der Wiederholung am 15. Juli 1744 aus. Seit dem 8. Mai befand sich die Barberina in Berlin, und Lany hatte sein Corps de ballet vollständig versammelt. In fünf Festvorstellungen, die im Juli anläßlich der Vermählung der Prinzessin Ulrike mit dem Kronprinzen Adolph Friedrich von Schweden stattfanden, konnte sich das neue Ensemble bewähren. Lanys und damit auch Noverres erstes Auftreten in einem Berliner Opernballett mit eigener Choreographie fand also spätestens am 15. Juli 1744 im Rahmen der Aufführung von "Catone in Utica" (Metastasio/Graun) statt. Es folgten am 21. Juli "Artaserse" (Metastasio/Graun), am 22. Juli "La clemenza di Tito" (Metastasio/Hasse) sowie am 24. und 26. Juli "Rodelinda" (Botarelli/Graun), alles Wiederholungen früherer Inszenierungen mit neuen Ballett-Einlagen.

    Erst im nächsten Karneval brachten zwei neue Opern wieder nennenswerte Beschäftigung für das Ballettpersonal: "Alessandro e Poro" (Text von Metastasio) und "Lucio Papirio" (Text von Apostolo Zeno), beide wieder vom Hofkapellmeister Graun komponiert. Ein sicheres Indiz für die neue Qualität des Balletts ist die Tatsache, daß ihre Textbücher - die ersten, die seit dem Eintreffen von Lanys Truppe vollständig neu gedruckt werden mußten - erstmals nicht nur die Ballett-Einlagen erwähnen, sondern auch in einem Anhang die einzelnen Entrées mit den Namen der Ausführenden aufzählen. Das Corps de Ballet ist als künstlerisches Personal nunmehr den Sängern annähernd gleichgestellt. Von jetzt ab bis zum April 1747 läßt sich Lanys, Noverres und ihrer Truppe Beschäftigung bei der Berliner Hofoper aus den Textbüchern ablesen. Ein chronologisches Verzeichnis aller Berliner Opern, in deren Divertissements Noverre mit Sicherheit mitwirkte, mag zunächst einen Überblick über den Umfang seiner hiesigen Tätigkeit vermitteln:

    15. Juli 1744 Catone in Utica (Metastasio/Graun)

    21. Juli 1744 Artaserse (Metastasio/Graun)

    22. Juli 1744 La clemenza di Tito (Metastasio/Hasse)

    24. Juli 1744 Rodelinda (Botarelli/Graun)

    21. Dez. 1744 Alessandro e Poro (Metastasio/Graun)

    5. Jan. 1745 Lucio Papirio (Zeno/Graun)

    29. Dez. 1745 Adriano in Siria (Metastasio/Graun)

    17. Jan. 1746 Demofoonte, rè di Tracia (Metastasio/Graun)

    27. März 1746 Il sogno di Scipione (Metastasio/Nichelmann)

    2. Dez1746 Cajo Fabricio (Zeno/Graun)

    Jan. 1747 Arminio (Pasquini/Hasse)

    27. März 1747 Le feste galanti (Villati/Graun)

    Hinzu kommen die in den Quellen meist nicht genannten Wiederholungen (in den Karnevalsmonaten Dezember bis Februar wurde jeden Montag und Freitag gespielt), so daß allein die Anzahl der Opern-Vorstellungen, in denen Noverre während seiner drei Berliner Jahre auftrat, nicht unbeträchtlich sein dürfte. Ein weiteres Tätigkeitsfeld - und auch dies ergibt eine erhebliche Summe - waren die jeden Mittwoch stattfindenden Vorstellungen der französischen Schauspieltruppe im Theater des Stadtschlosses. Hier wurde nämlich, wie Michael Steltz anhand der Aufzeichnungen des Barons von Sweerts nachgewiesen hat 22), fast bei jeder Aufführung das Opernballett mitbeschäftigt.

    Das erste Libretto, das nähere Angaben zu den Tänzen und damit zur Truppe Lanys enthält, ist das zu "Alessandro e Poro" (auch als "Alessandro nell'Indie" bekannt) von Metastasio und Graun 23). Den I. Akt beschloß ein Tanz der Schiffsleute, die der Begegnung zwischen Alexander und Cleofide auf dem Fluß beigewohnt hatten. Barthélémy Lany und die Barberina tanzten als "komische Matrosen" einen Pas de deux; es folgte Monsieur Josset mit einer Entrée seule, während die Herren Le Clercq, Giraud, Cochois, Du Bois und Pietre sie die Damen Babet Cochois, M. Cochois 24), Tessier, Dasnoncour und Artus als Figuranten mitwirkten. Noverre trat erst nach dem II. Akt auf: Er begann das Zwischenakt-Ballett, das aus Tänzen von Indern und Griechen bestand, mit einem Pas de deux; seine "indische" Partnerin war, hier wie auch in fast allen folgenden Balletten, die junge Madeleine Lany, die Schwester des Ballettmeisters. Es folgte ein Solo-Auftritt des "Inders" Artus, abgelöst von dem "Griechen"-Paar Monsieur Tessier und Marianne Cochois. Die Figuranten (Inder und Inderinnen) waren dieselben wie nach dem I. Akt, nur vermehrt durch Mr. Josset und Mlle Du Buisson. Der Schluß des III. Aktes, der in einem Bacchustempel spielt, bot - zumal Metastasio dies ausdrücklich verlangt - Gelegenheit zu einem phantasievollen Tanz von Bacchanten: Man begann wieder mit einem Pas de deux von Lany und der Barberina; es folgte ein Hirtenpaar in Gestalt von Tessier und Marianne Cochois, dann der Solotänzer Artus als Faun ("égipan"). Den Beschluß machten Noverre und Madeleine Lany mit einem Pas de deux als Winzerpaar. Die zwölf Figuranten waren dieselben wie am Schluß des II. Aktes. Schon diese erste Übersicht über das Ballettpersonal und seinen Einsatz läßt die hervorgehobene Position des jungen Noverre sowie die Konstellation der übrigen Tänzer, der Solisten, Paare und Figuranten erkennen, wie sie sich in den folgenden Auftritten als konstant erweisen wird.

    Die Textbücher enthalten nun jeweils den Vermerk: "Alle Ballets sind von der Erfindung des Herrn Lany, Königl. Ballett-Meisters". Diese dritte Autorschaft unter den Schöpfern der Oper wird noch dadurch unterstrichen, daß die Beschreibungen der Tänze in französischer Sprache abgefaßt sind, während das übrige Libretto, wie üblich, einen italienisch-deutschen Paralleltext bietet. In seiner Arbeit über "Carl Heinrich Graun als Opernkomponist" stellt Albert Mayer-Reinach fest: "Die Zahl der Ballette ist immer gleich der Aktzahl, also bei allen Opern drei mit Ausnahme der fünfaktigen 'Europa galante', wo dann auch 5 Ballette zu finden sind. Die gewöhnliche Verteilung derselben ist derart, daß nach jedem Akt ein Ballett folgt, so daß also ein Ballett den Schluß der Oper ausmacht." Sie sind zuweilen "organisch mit der Handlung verwoben", gewöhnlich aber "nur in losem Zusammenhang mit derselben, doch meist das Lokalkolorit des Stückes wahrend" 25). Dieses Schema finden wir auch bei dem nächsten Berliner Libretto vor, "Lucio Papirio". An den I. Akt schloß sich ein Tanz von Römern und Römerinnen, der aus Solo-Auftritten von Mr. Tessier und Marianne Cochois sowie aus einem Pas de deux von zwei Gladiatoren bestand, ausgeführt von den Herren Artus und Giraud. Als Figuranten agierten die Herren Leclercq, Cochois, Pietre, Du Bois, Josset und Noverre sowie die Damen Babet und M. Cochois, Dasnoncour, Tessier, Artus und Du Buisson. Auch hier fällt wieder die symmetrische Verteilung der Tänzer und Tanzfolgen ins Auge, ein Prinzip, das von Lany konsequent eingehalten wird und im Einklang mit dem gesamten traditionellen Produktions-Aufbau der Opera seria steht, der vom Libretto über die musikalische Struktur bis hin zum Bühnenbild ein ausgewogenes Gleichmaß als künstlerisches Gesetz verfolgt.

    Nach dem II. Akt gab man ein Ballett von "samnitischen Sclaven" mit den Auftritten: Josset (Entrée seule), Barberina-J. B. Lany (Pas de deux), Mr. Artus (Entrée seule), Madeleine Lany (Entrée seule). Die Zahl der Figuranten war auf 10 reduziert: Josset und Noverre fehlten und waren durch Mr. Giraud ersetzt.; bei den Damen fehlte Mlle Du Buisson. Das Abschluß-Ballett nach dem III. Akt nannte sich in der deutschen Übersetzung "Ballet des frolockenden Römischen Volcks zur Verehrung der Gottheit, so der Gute Erfolg genennet wurde". Es bestand aus einer Folge von 4 Pas de deux, die jeweils Lebensalter repräsentieren sollten: Madeleine Lany-Noverre als "Enfance", Marianne Cochois-Tessier als "Jeunesse", Barberina-Lany als "Age de Travail" und Mlle Pietre-Mr. Artus als "Vieillesse". Im Gefolge der Jugend tanzten die Herren Le Clercq, Du Bois, Pietre und die Damen Tessier, Artus, Du Buisson. Die Generation der "Arbeit" wurde begleitet von den Herren Giraud, Cochois und Josset sowie den Damen Babet Cochois, M. Cochois und Dasnoncour.

    Die Betrachtung dieser beiden ersten Rollenverzeichnisse liefert uns bereits genug Aufschlüsse über die Wertigkeit der Tänzer innerhalb der Truppe und die Verteilung der Partnerschaften. Tessier und Marianne Cochois, die beide noch aus Poitiers' Truppe stammen, sind aufeinander eingespielt und treten weiterhin als Paar auf. Die neuen Stars des Ballett-Ensembles sind die Barberina und der "premier danseur" Lany; sie nehmen außer den Solo-Auftritten auch die wichtigsten Pas de deux für sich in Anspruch. Das dritte Paar besteht aus Noverre und Madeleine Lany. Die Herren Josset und Artus schließlich treten einzeln oder paarweise auf, jedoch fast immer ohne Partnerin. Die übrigen Tänzer sind gewöhnlich nur in größeren Formationen zu finden, auch wenn sie sich gelegentlich paarweise produzieren dürfen. Diese Verteilung von Kombinationen und Funktionen wird von Anfang bis Ende der Ära Lany beibehalten. Zwei der acht Solisten und "Duettisten" müssen bei Bedarf auch figurieren: Noverre und Josset. Dennoch heben sie sich offenbar von den übrigen Figuranten so deutlich ab, daß ihnen auch wichtige Duo-Partien anvertraut werden.

    Die Oper "Adriano in Siria", die am 29. Dezember 1745, nach dem preußischen Kriegserfolg gegen Sachsen, zur Aufführung gelangte, gewann "diesmal dieselbe Bedeutung, welche die Vestalin von Spontini in Paris zur Zeit der Rückkehr Napoleons aus den deutschen Feldzügen hatte" 26). Sie stellt vielleicht den künstlerischen Höhepunkt in der Geschichte der friderizianischen Opernpflege dar. In einer Inszenierung mit Bühnenbildern von Jacopo Fabris und hervorragenden Gesangssolisten wie den Kastraten Porporino und Salimbeni sowie den Primadonnen Gasperini und Molteni wurden auch tänzerische Höchstleistungen geboten, die sich über fünf Ballett-Divertissements erstreckten. Der Szenenwechsel vom 10. zum 11. Auftritt des I. Aktes wurde zu einem besonderen pantomimischen Tanz benutzt, der nicht nur in der Ballett-, sondern auch in der Kunstgeschichte Berühmtheit erlangt hat. Schon Poitiers hatte in der Aufführung von "La clemenza di Tito" nach dem II. Akt einen "Tantz von Griechischen Bildhauern, welche die Fabel vom Pygmalion vorstellen", eingeschoben. Der Pygmalion-Stoff als Ballett-Motiv geht aber mindestens auf das Jahr 1734 zurück, als Marie Sallé am 14. Februar in London dieses Ballet d'action kreierte; sie trat als Statue auf in einem Kostüm "without paniers, petticoat, and bodice, her hair loose and without any ornament on her head: she was dressed only in a single muslin robe which was draped about her in a manner of a Greek statue" 27). Am 28. Juni desselben Jahres folgte eine Aufführung im Pariser Théâtre Italien mit Cathérine Roland als Statue und Francesco Riccoboni als Pygmalion (Musik: Jean-Joseph Mouret). Lany, der diese Ballett-Pantomime wahrscheinlich in Paris gesehen hatte, führte sie nun auch in Berlin ein: mit ihm selbst als Pygmalion, der Barberina als Statue, Madeleine Lany als Amor sowie einer Schar von 12 weiteren Statuen, die im Verlauf der Handlung gleichfalls "belebt" wurden. Noverre figurierte hier nur als eine dieser Bildsäulen. Unter den männlichen Tänzern begegnet uns mit dem Figuranten Neveu ein neuer Name, während Pietre und der Solotänzer Tessier fehlen. Bei den Damen treten die Figurantinnen Sauvage und Auguste neu in Erscheinung; dafür fehlen die Namen Pietre und Du Buisson. Die Berühmtheit dieser frühen Berliner Ballettpantomime gründet sich nicht zuletzt darauf, daß sie den Hofmaler Antoine Pesne zu seinem Wandgemälde im Musikzimmer des Schlosses Sanssouci inspiriert hat. Die Szene ist dort zwar nicht bühnenmäßig-realistisch wiedergegeben, aber die Haltung der Figuren ist sicherlich dem tänzerischen Gestus jener Aufführung nachempfunden. Auch über die Kostüme zu der gesamten Ballettfolge dieser Opernaufführung sind wir genau informiert, da sich detaillierte Rechnungen der Kostümbildnerinnen, der Schwestern Hauchecorne, erhalten haben 28). Der Kostüm-Aufwand und seine Kosten waren so erheblich (499 Taler), daß der Intendant, Baron von Sweerts, den Schwestern 199 Taler schuldig blieb, worüber diese sich noch 37 Jahre später (!) beim König beschwerten 29). Da bei "Pygmalion" der Glücksfall vorliegt, daß von einem frühen Berliner Beispiel des Ballet d'action nicht nur die Umstände der Aufführung, die Mitwirkenden, die Kostüme und eine Abbildung bekannt sind, sondern auch die Musik erhalten ist, mag es gestattet sein, auch die Abfolge der Tänze, die Mayer-Reinach vor annähernd hundert Jahren schon einmal veröffentlicht hat, an dieser Stelle zu wiederholen, um das Bild von Noverres Berliner Betätigungsfeld möglichst zu konkretisieren und auf die Wurzeln seiner Reformideen hinzuweisen.

    Da Grauns Berliner Ballette mit bis zu 20 Tanznummern zu jeweils 16-120 Takten relativ lang waren, nahm er sie nicht in die Partituren auf, sondern behandelte sie als selbständige Tanz-Kompositionen. Dabei war er nicht um musikalisch-dramatische Charakterisierung bemüht, sondern reihte ziemlich schematisch bekannte Tanzformen in gefälligen Variationen aneinander. Umso auffallender ist es, daß er mit dem "Pygmalion"-Ballett der kleinen äußeren und inneren "Handlung" Rechnung trägt und eine Art dramatischer Entwicklung schafft, die nicht nur unter seinen eigenen Ballettkompositionen, sondern überhaupt in der zeitgenössischen Ballettmusik eine Ausnahme bildet. Grauns Bezeichnungen der Tänze lauten (unter Auslassung der Takt- und Tonarten) buchstabengetreu wie folgt, wobei die Abschrift und der Kommentar nach Mayer-Reinach zitiert sind:

    1. Entrada, Fièrement, 10 Takte.

    2. Dance, Allegro, 24 Takte.

    3. Le travaille du martout (con spirito), 13 Takte.

    4. Etonnement de la perfection de son ouvrage (Andante), 10 Takte.

    5. Il implore l'amour, 14 Takte

    6. L'amour vant animé (vient animé ? va animer ?), Presto, 11 Takte.

    7. La statue s'anime, Adagio, 6 Takte.

    8. Surprise de la statue, 10 Takte.

    9. Affectuoso pour privoise la statue qui est timide, Adagio, 41 Takte.

    10. Dance en Tambourin, 40 Takte.

    11. L'amour vient les rentur (réunir ?), 50 Takte.

    12. Gigue, 36 Takte.

    13. Contredanse, 41 Takte.

    14. Allegro, 16 Takte.

    15. Gavotte, 16 Takte.

    "Wir sind hier also imstande, durch die Musikstücke hindurch ziemlich genau den Faden der Handlung zu verfolgen. Von Nr. 3 bis 12 enthält sich Graun vollständig der ihm sonst geläufigen Tanzformen, um in der musikalischen Illustrierung der Bühnenvorgänge ganz seiner Phantasie die Zügel schießen lassen zu können. So entsteht eine Art von Programmmusik, welche ohne die angegebenen Bemerkungen, die uns den jeweiligen Vorgang auf der Bühne mitteilen, ganz unverständlich wäre. In musikalischer Beziehung ist diese Illustrierung der Pantomime allerdings noch sehr primitiv, aber die Thatsache, daß wir schon 1745 einen derartigen Versuch in der Orchestermusik finden, ist von größter Wichtigkeit. Merkwürdigerweise hat Graun niemals mehr etwas Ähnliches geschrieben" 30).

    Der I. Akt von "Adriano" schloß nicht, wie es zunächst im Textbuch heißt, mit einem Ballett von römischen Soldaten, sondern - gänzlich unmotiviert - von Z w e r g e n. Auch der Szenenwechsel innerhalb des II. Aktes wurde durch ein Divertissement überbrückt, diesmal jedoch passend - die Szene verwandelt sich in einen Garten - mit einem Tanz von Flora und ihrem Gefolge, "Botanikern", Gärtnern und Gärtnerinnen. Marianne Cochois war Flora, ihr Gefolge bestand aus den Herren Le Clercq, Giraud, Du Bois und den Damen Babet Cochois, Tessier und Auguste. Die beiden Botaniker Artus und Josset tanzten ebenso einen Pas de deux wie Mr. Lany und Mlle Barberina als Gärtner und Gärtnerin. Ihre Begleiter waren die Herren Cochois, Noverre, Neveu und die Damen M. Cochois, Dasnoncour und Sauvage. Nach Aktschluß folgte ein "Ballet von Parthern". Die Aufführung endete mit einem Divertissement "La festa del Imeneo", einem beliebten Ballett-Sujet, das in Berlin schon im Jahre 1700, von Attilio Ariosti vertont, durch die Hofgesellschaft dargestellt worden war. Es sind wieder vier Paare, welche die Auftritte bestreiten: Madeleine Lany und Noverre als "Tambourins", die Herren Le Clercq und Giraud als Hirten, Mlle Sauvage und Mr. Artus als Schäferpaar, und schließlich ein (oder mehrere) Pas de deux von Marianne Cochois als Nymphe Issé und Mr. Lany als Apollo in Gestalt eines Schäfers. Je sechs Schäfer und Schäferinnen bilden die Figuranten. Noverre ist nicht unter ihnen; seine Auftritte mit Mlle Lany sind offenbar von größerem Umfang.

    Das Textbuch zu "Demofoonte" von Metastasio und Graun erschien schon im Dezember 1745, auch wenn die Premiere erst am 17. Januar 1746 erfolgte. Da die letzten Szenen des I. Aktes am Meeresstrand spielen, ließ Lany ein Ballett von Meeresgöttern und Matrosen folgen: Barberina als Thetis, Marianne Cochois als Amphitrite, Lany selbst als Neptun. Noverre findet sich diesmal mit dem Solisten Josset unter den sechs männlichen Matrosen, denen natürlich sechs weibliche zugesellt sind. Der tumultuöse Schluß des II. Aktes, der im Apollotempel spielt, veranlaßte Lany zu einem Ballett von Vestalinnen, Phrygiern und Soldaten. Marianne Cochois trat als Priesterin auf, dann das Paar Mad. Lany-Noverre als Phrygier. Es folgte wieder eine Entrée seule von Artus als Krieger, und auch die Herren Giraud und Le Clercq präsentierten sich in einem anschließenden Pas de deux als Soldaten. Marianne Cochois wurde von sechs Vestalinnen begleitet, Mr. Artus von sechs Kriegern. Stets findet sich Babet Cochois unter den Figurantinnen; die später durch ihre Ehe mit dem Marquis d'Argens und durch ihre Schriften gesellschaftlich so aufgewertete Tänzerin und Schauspielerin mußte sich hier noch mit einer Statistenrolle begnügen. Der III. Akt schloß mit einem Ballett von Thrakern und Skythen. Madeleine Lany konnte sich in ihrem Solo-Auftritt als Thrakerin zeigen; zwei ihrer Landsleute, verkörpert durch die Herren Artus und Josset, folgten mit einem Pas de deux. In einem weiteren Pas de deux brillierten abschließend die Barberina und Lany als Skythen. Noverre war auch hier nur als Figurant unter den sechs männlichen Thrakern vertreten, die wieder sechs weibliche Partner hatten.

    Auch zur Aufführung von "Il sogno di Scipione", einem zweiaktigen "Drammatico componimento" von Metastasio und Nichelmann (27. März 1746), liegt uns ein Textbuch vor, das über Noverres weitere Tätigkeit Aufschluß gibt. Der erste Akt schloß mit einem Tanz der Göttinnen der Beständigkeit (Barberina) und des Glückes (Marianne Cochois). Ihre Partner waren wie immer die Herren Lany und Tessier. Auch das Gefolge bestand, wie gewohnt, aus je sechs Damen und Herren. Während Noverre hier fehlte, war er beim Schlußballett, genannt "Frohlocken des Römischen Volcks", wieder in einem der drei Pas de deux vertreten. Offenbar handelte es sich hier um eine Reprise des Schlußballetts von "Lucio Papirio". Die bekannten Paare Barberina-Lany, Cochois-Tessier und Madeleine Lany-Noverre tanzten im Wechsel mit dem zwölfköpfigen Corps de ballet.

    Welchen Stellenwert das Opernballett im Jahre 1746 unter den Themen einnahm, die in der Berliner Öffentlichkeit diskutiert wurden, geht aus einem Brief des Anakreontikers (und Theater-Habitués) Johann Wilhelm Ludwig Gleim hervor, den dieser am 22. November an den Ansbacher Dichter-Kollegen Johann Peter Uz richtete: "... Sind Sie noch ein so großer Liebhaber vom Tanzen? Ach, wieviel schöne Sprünge könnte Sie Barbarina lehren! Ihre Schwester wird auch erwartet. Ich müßte noch einen Bogen vollschreiben, wenn ich der Geschichtsschreiber der hiesigen Gespräche in großen Gesellschaften sein wollte. Barbarina, Lani, Cochois, Favier, Quantz - das sind die Helden, welche in den Gedanken und Unterredungen herrschen; man vergißt dabei alles andere, Politik und Poesie. Vor sechs Jahren waren drei deutsche Komödianten hier, jetzo untersteht sich keiner, sich zu nähern. So allgemein ist der Geschmack an Opern, Musik und Tänzen ..." 31).

    Die nächste Serie der Karnevals-Aufführungen wurde am 2. Dezember 1746 mit der Premiere von "Cajo Fabricio" (Zeno/Graun) eröffnet. Die Ballette folgten wieder den drei Aktschlüssen. Das erste, "Fest der Saturnalien" genannt, enthielt Solo-Entrées von Marianne Cochois (Priesterin) und Lany (Furie), zwischen die ein Pas de deux der Herren Artus und Josset (Furien) eingeschoben war. Noverre befand sich unter den figurierenden Furien. Genau dasselbe Schema der Auftritte verwendete Lany im "Fest des Tarentinischen Volks" nach dem zweiten Akt, nur daß die Solisten ausgetauscht sind: Tessier und die Barberina treten jeweils allein auf, während Noverre und Madeleine Lany den Pas de deux tanzen. Josset nimmt dafür Noverres Stelle unter den Figuranten ein. Eine zahlenmäßige Abwechslung brachte das Schlußballett, "Frohlocken der befreyten Römischen Sclaven" genannt. Zwischen zwei Pas de deux (Marianne Cochois-Tessier und Barberina-Lany) war ein Pas de trois eingeschoben, ausgeführt von den Herren Artus, Lany und Noverre. In allen drei Balletten fehlten die Damen Dasnoncour und Sauvage bei den Figurantinnen; sie hatten offenbar die Truppe verlassen.

    "Arminio" von Pasquini und Hasse, die zweite neue Oper der Saison, gelangte im Januar 1747 zur Aufführung. Der für die Epoche ungewohnte Stoff aus germanischer Frühzeit inspirierte Lany zu entsprechend phantasievoller Aktion in seinem Bereich. Das Textbuch führt die Ballette diesmal nur im Anhang und somit nur mit ihren französischen Titeln auf. Das erste nennt sich "Sacrifice à Teuto" und ist in der von Lany bevorzugten Form der Solo-Duo-Solo-Folge aufgebaut. Tessier, Barberina-Lany und Madeleine Lany wechselten einander im germanischen Gottesdienst ab, und Noverre war bei den sechs Figuranten anzutreffen. Das weibliche Gefolge war durch die neu hinzugekommenen Damen Marianna Campanini (die in Gleims Brief genannte Schwester der Barberina) und Du Portail ergänzt. Auch das zweite Ballett, "Rejouissance du Peuple Romain" (hier also zum dritten Mal das "Frohlocken des römischen Volkes"), zeigte Noverre nur im Gefolge der Solotänzer Artus- Josset und Marianne Cochois. Im abschließenden "Ballet des Héros" befand sich Noverre unter den sechs Kriegern (Le Clercq, Giraud, Cochois, Noverre, Du Bois, Neveu), die, ebenso wie die entsprechenden sechs "Amazonen", den Solo- und Duo-Auftritten der Herren und Damen Artus, Cochois-Tessier, Mad. Lany, Barberina-Lany zugeordnet waren. Erstmals seit dem Antritt seines Engagements in Berlin war Noverre über die gesamte Aufführungsfolge zu den Figuranten verbannt. Über die Gründe läßt sich nur spekulieren. Vielleicht wollte Lany seine Schwester mehr als Solistin herausstellen: Hier wie auch in der letzten Berliner Produktion von Lanys Truppe präsentierte sich Madeleine Lany in mehr Solo-Auftritten als die Barberina.

    Am 27. März 1747 wurde "Le feste galanti" von Villati und Graun im Theater des Berliner Stadtschlosses aufgeführt; die Wiederholung am 6. April fand dann im Opernhaus statt. Diesmal hatte Lany für vier Ballette gesorgt: Außer den Divertissements zu jedem der drei Akte gab es ein Finale von neun Pas de deux, in denen sich alle 18 Mitglieder der Truppe produzieren durften. Das erste der "galanten Feste" wurde durch ein "Ballet von dem Gefolge des Hidaspes" gekrönt, "als Africaner und Africanerinnen gekleidet". In einer szenischen Bemerkung zum Aktschluß heißt es: "Celimene und Hidaspes setzen sich auf einen vor sie zubereiteten erhabnen Ort nieder, und in ihrer Gegenwart wird der Ball eröfnet, durch welchen sich das erste Fest, und die erste Handlung, endigen." Madeleine Lany begann mit einer Entrée seule, gefolgt von einem Pas de deux, ausgeführt von Marianne Cochois und Tessier. Noverre taucht als zweiter der sechs männlichen Figuranten auf; das weibliche Personal ist ergänzt durch die Neuankömmlinge Domitilla und Dourdet. Der II. Akt enthielt ein "Ballet von dem Gefolge des Cleontes, als Schiffer gekleidet". Es handelte sich um die zwölf "Africaner" des I. Aktes, nur neu kostümiert. Die szenische Bemerkung lautet: "Man siehet bey dem Klange einer angenehmen Music einen prächtig ausgezierten Bucentaurum erscheinen. Das Gefolge des Cleontes, als Seeleute gekleidet, befindet sich in dem Bucentauro, welcher immer näher kömmt, und woraus das besagte Gefolge steigt, um den Ball zu eröfnen." Dazu wurde ein Pas de deux der Barberina mit Barthélémy Lany geboten. Das dritte Fest brachte wieder in Gegenwart von Celimene und Sostrates ein "Ballet von dem Gefolge des Sostrates, als Nachfolger der Flora gekleidet". Hier war die Zahl der Figuranten auf zehn reduziert, weil zwei von ihnen, die neu engagierten Dourdet, in einem Pas de deux auftraten. Am Ende des III. Aktes folgte "der Ball der Edelleute, und des Neapolitanischen Volks, welche auf verschiedene Art verkleidet sind, um das Vermählungs-Fest der Celimene feyerlich zu begehen." Den Abschluß der "Feste galanti" bildete ein "Ballet général", in dem sich das gesamte Corps de Ballet noch einmal in einer Folge von neun Pas de deux präsentierte. Hier finden wir wieder die gewohnten Konstellationen und ihre seit Beginn der Ära Lany beibehaltene Rangordnung, die von folgenden sechs Tänzern angeführt wurde: Barberina-Lany, Marianne Cochois-Tessier, Madeleine Lany-Noverre. Auch in diesem Textbuch wird die Autorschaft und damit der eigenständige künstlerische Wert der Ballette ausdrücklich hervorgehoben: "Alle iezt gemeldete Ballets sind von dem Königl. Balletmeister, Herrn Lany, erfunden und ausgearbeitet worden" 32).

    Das Schlußballett von "Le feste galanti" wirkt wie eine Abschiedsvorstellung, und sein Choreograph hatte es wohl heimlich auch so geplant: Unzufrieden mit der Bezahlung für so hochrangige Kräfte, wie der ehrgeizige Lany, seine Schwestern und Kollegen sich mit Recht einschätzten, verschwand der Ballettmeister wenig später aus Berlin und mit ihm die Tänzer, die er drei Jahre zuvor mitgebracht hatte: seine Schwestern und die Geschwister Tessier sowie Josset und - Noverre. Alle außer Noverre (er wandte sich zunächst nach Dresden, also gewissermaßen in Feindesland) kehrten nach Paris zurück, wo Lany ein glänzendes Engagement mit 4000 (ab 1749: 5000) Livres Salär als Ballettmeister an der Oper erhielt. Hier blieb er mehr als 20 Jahre, und selbst nach seiner Pensionierung (1769) fand er noch ehrenvolle Engagements in Turin und London. Seine Schwestern hatte er zunächst an der Comédie Française untergebracht; sie wurden aber wenig später von der Académie Royale de Musique übernommen. War der König von Preußen begreiflicherweise schon über das "Desertieren" der wichtigsten Mitglieder seines Ballett-Ensembles erbost, so mußte er noch obendrein erfahren, daß Lany und seine "camarades de désertion" abfällige Bemerkungen über seine Sparsamkeit ("parcimonie") in Paris verbreiteten (Brief Friedrichs vom 5. Oktober 1747 an seine Schwester Wilhelmine). Der Marquis d'Argens, der besonders den Solotänzer Tessier schätzte, versuchte den König dazu zu bewegen, wenigstens jenen, der sich auch mit Tadel zurückgehalten hatte, wieder nach Berlin zu holen, doch Friedrich lehnte ab. Seine musischen Neigungen und die Repräsentationspflichten des Hofes erforderten zwar auch aus seiner Sicht die Existenz eines funktionierenden Opernbetriebs einschließlich des Balletts, aber im Gegensatz zu vielen anderen Fürsten Europas war Friedrich nicht bereit, den Etat für diesen Luxus in ein unangemessenes Verhältnis zum sonstigen, immer durch hohe Militärausgaben belasteten Staatshaushalt zu setzen. So endete die erste Glanzzeit des friderizianischen Opernballetts schon nach drei Jahren, und auch künftig krankte die Berliner Oper trotz steter Anwesenheit einzelner Spitzenkräfte in allen künstlerischen Sparten (erinnert sei z. B. nur an die Bühnenbildner Galli-Bibiena) immer wieder an den zur Verfügung gestellten Finanzmitteln, so daß ihre Entwicklung durch eine schnelle Fluktuation bei den Protagonisten und einen schwankenden Anteil an Mittelmaß gekennzeichnet ist.

    Fassen wir die aus acht Textbüchern erkennbare Beschäftigung Noverres an der Berliner Oper statistisch zusammen, so gelangen wir zu folgenden Ergebnissen: Noverres Mitwirkung in mindestens 21 Opern-Balletten und ihren diversen Wiederholungen ist erwiesen. Davon stehen mindestens 18 nach Titel, Charakter und Kostüm in losem Zusammenhang mit der Opernhandlung, sind also keine rein dekorativ-artistischen Spektakel, sondern tendieren eher zu ergänzenden, stummen Opernszenen. Ein weiteres Ballett, "Pygmalion", kann in seinem selbständigen Handlungsablauf bereits als kleines Ballet d'action gelten. Noverre gehört, obwohl er keinen Solo-Auftritt hat, offensichtlich zu den sechs führenden Mitgliedern der Truppe Lanys. Er ist der ständige Partner der hochbegabten Schwester des Ballettmeisters und darf sich mit ihr in mindestens acht Pas de deux zeigen. Auch ein Pas de trois im Verein mit den Solisten Lany und Artus am Schluß von "Cajo Fabricio" beweist noch einmal Noverres hervorgehobene Stellung im Ensemble. Dennoch mußte er in seinem Alter von weniger als 20 Jahren als Anfänger gelten, und so darf es nicht verwundern, daß wir ihn zwölfmal unter den sechs bzw. fünf männlichen Figuranten finden. Nimmt man die mehr als 100 Vorstellungen des französischen Schauspiels hinzu, bei denen das Ballettpersonal in den Jahren 1744-1747 mitzuwirken hatte, so dürfte die Gesamtzahl der Aufführungen, an denen Noverre in Berlin teilnahm, sicherlich mehr als 250 betragen.

    Von einem bedeutungslosen Tänzer Noverre, der mangels Erfolg zum Choreographen wird, kann also zu dieser Zeit keine Rede sein. Zwei andere Faktoren dürften für seine weitere Laufbahn entscheidend gewesen sein, zwei Eigenschaften, die ihn zwangsläufig zur Überwindung des rein athletisch-dekorativen Bühnentanzes führen mußten: ein scharfer, kritischer Verstand und eine ausgeprägte schauspielerische Begabung. Der Intellekt verlangte eine Durchgeistigung, eine Ausfüllung der tänzerischen Abläufe durch eine emotionale Aussage und eine dramatische Steigerung. Das Schauspiel-Talent benötigte "Ausdruck", eine mimische Gestaltung von Handlung in natürlicheren Bahnen, über die "positions" und "attitudes" des traditionellen Balletts hinaus, folgend der "Zurück-zur-Natur"-Devise des Jahrhunderts. Noverres Freundschaft mit David Garrick 33) ist auch ein Indiz für die Seelenverwandtschaft zwischen zwei Verfechtern der "Natürlichkeit" auf der Bühne durch feiner nuancierte Darstellung seelischer Vorgänge in sorgfältig durchdachtem Einsatz mimisch-gestischer Mittel. Für beide Eigenschaften Noverres, Geist und Schauspieltalent, gibt es einen oft zitierten Beleg aus seinen Berliner Anfängerjahren. Der berühmte Fürst von Ligne (Karl Joseph von Aremberg-Ligne, 1735-1814) hat in seinem "Mémoire sur le Roi de Prusse Frédéric II.", das zuerst 1789 von Friedrich Nicolai aus einer Handschrift veröffentlicht wurde 34), eine Wiederbegegnung des Tänzers mit Friedrich dem Großen überliefert, die im Herbst 1770, also 23 Jahre nach Noverres Weggang von Berlin, in Mährisch Neustadt anläßlich eines Treffens des preußischen Königs mit Kaiser Joseph II. stattfand. Nicht nur der Fürst hatte den Kaiser nach Neustadt begleitet, sondern auch ein Großteil des Wiener Hoftheater-Ensembles mit seinem Ballettmeister Noverre. Für die hier vom Grafen Sporck arrangierten Festvorstellungen hatte Noverre eigens das Ballett "Diane et Endimion" komponiert. Nach dem Theaterbesuch, so berichtet Ligne, habe der Kaiser dem König von Preußen den Choreographen vorgestellt, der sicherlich nicht ohne Stolz bemüht gewesen war, dem König vorzuführen, was aus dem Berliner Ballett-Eleven inzwischen geworden war: "'Voilà Noverre, ce fameux compositeur de ballets; il a été, je crois, à Berlin.' Noverre fit une belle révérence de maître à danser. 'Ah! Je le connois', dit le Roi, 'nous l'avons vu à Berlin; il y était bien drôle; il contrefaisoit tout le monde et nos danseuses surtout, à mourir de rire'. Noverre, peu content de cette manière legère de souvenir à son égard, fit encore une belle révérence à la troisième position, espérant que le Roi se livreroit de lui-même à lui procurer une petite vengeance. 'Vos ballets sont beaux', lui dit-il, 'vos danseuses ont de la grace, mais c'est de la grace engoncée. Je trouve que vous leur faites trop lever les épaules et les bras; car, Noverre, si vous en souvenez, notre première danseuse n'etoit pas comme cela!' 'C'est pour cela qu'elle y étoit, Sire!' répondit Noverre". "Satirically, all he could", fügt Thomas Carlyle, der die Anekdote in seiner "History of Frederick the Great" in englischer Übersetzung wiedergibt, an dieser Stelle an, um Noverres Antwort zu erläutern 35).

    Auch Nicolai liefert schon eine Anmerkung zu Lignes Gesprächsprotokoll: "Noverre war 1744 als Solotänzer in Berlin, er tanzte in der Oper Alexander und Porus. Seine Mittänzerinn war Mademois. Lani, die Schwester des damaligen berlinischen Ballettmeisters. Die erste damalige Tänzerinn war die berühmte Barberina, die besonders wegen der unaussprechlichen Grazie in ihren Bewegungen allgemein entzückte. Die kurzhälsichte Grazie der neustädtischen Tänzerinnen Noverrens, der überhaupt in seinen großen Balletten nicht so wohl auf Grazie der Bewegungen, als auf Gruppen sah, die mehr ausdrücken sollten als sie andeuten konnten, mag freylich in den Augen des Königs ziemlich dagegen abgestochen haben."ei aller erkennbaren grundsätzlichen Abneigung Nicolais gegen Noverre (die abfällige Bemerkung über die "neustädtischen Tänzerinnen", die ja in Wirklichkeit aus Wien kamen, ist unzutreffend und ungerecht) wird auch hier die Kluft zwischen "konservativem" und "fortschrittlichem" Geschmack deutlich, die Diskrepanz zwischen der geregelten Grazie der herkömmlichen Ballettfiguren und den freieren Bewegungen der neuen dramatischen Ausdrucksformen.

    Weitere Indizien dafür, daß Noverres Berliner Anfängerjahre nicht spurlos und ohne Einfluß auf seine Entwicklung vorübergingen, finden sich in den "Lettres sur la danse", wurden jedoch bisher kaum beachtet. Noverre kommt nämlich hier auch auf seine Berliner Partner zu sprechen: die Geschwister Lany und den Komponisten Graun. Im 8. Brief spricht er von dem Zwang, den die Musik älterer Opern (und neuerer Opern im konventionellen Stil) den Tänzern auferlege. "... Unterdessen hat der Tanz seit einiger Zeit, durch den erhaltenen Beyfall und Schutz ermuntert, sich von dem Zwange, den ihm die Musik anthun wollte, frey gemacht. Hr. Lany läst nicht allein die Melodien in dem wahren Geschmacke spielen, sondern er macht auch neue zu den alten Opern; an die Stelle der einfachen monotonischen Melodien von Lully setzt er Stücke voll Ausdruck und Mannigfaltigkeit. Die Italiener sind in diesem Punkt viel klüger gewesen als wir. Ihrer alten Musik sind sie nicht sehr getreu, aber desto getreuer ihrem Metastasio, sie haben ihn von allen Kapellmeistern, die Talente haben, komponiren lassen, und thun es noch täglich ... jeder Musikus giebt diesem Dichter neuen Ausdruck ... der schöne Vers wird durch Graun matt gemacht, und Hasse mahlt ihn mit Feuer und Glut" 36). Mit den Werken beider Komponisten dürfte Noverre zuerst in Berlin bekannt geworden sein. Seine hier deutlich werdende Abneigung gegen die konservative Kompositionsweise Grauns, die bekanntlich vollkommen dem Geschmack Friedrichs II. entsprach, liefert ein weiteres Motiv für Noverres Verlassen des Berliner Engagements. Immer wieder, mindestens siebenmal, kommt er in den "Lettres" auf sein Berliner Vorbild Lany zu sprechen; er stellt ihn überall in eine Reihe mit Dupré und Vestris, aber während er den ersteren stets nur als den "berühmten Dupré" erwähnt, ohne ihn näher zu charakterisieren, äußert er sich ausführlich über Lany, seine körperlichen Eigenschaften und tänzerischen Fähigkeiten, seine Bedeutung als Choreograph und musikalischer Arrangeur - dies alles in den Tönen höchster Bewunderung. Es drängt sich der Eindruck auf, daß Jean-Barthélémy Lany einen weit größeren Einfluß auf Noverre ausgeübt hat als sein erster Lehrer Dupré: "Monsieur Vestris hat den berühmten Dupré ersetzt, das ist zu seinem Ruhme alles auf einmal gesagt; aber wir haben Monsieur Lany, dessen vorzügliche Kunst ihm Bewunderung erwirbt, und ihn über alles das wegsetzt, was ich zu seinem Ruhme sagen könnte" 37). Auch gegenüber seiner Berliner Partnerin, Madeleine Lany, spart Noverre nicht mit Lob: "Verhältnißmäßig betrachtet, haben die Tänzerinnen heut zu Tage mehr Execution als die Tänzer; sie machen alles, was nur möglich zu machen ist. Mademoiselle Lany wird jedem Tänzer viel zu schaffen machen, der nicht sicher, stark, lebhaft, glänzend und genau ist ... [Viele Nachahmer] wollen die Präcision, die Munterkeit und die schön durchflochtnen Schritte des Monsieur Lany erhaschen, und sind unausstehlich. Alle Tänzerinnen wollen tanzen wie Mademoiselle Lany, und dadurch werden sie alle sehr lächerlich ... Mademoiselle Lany läßt alle weit hinter sich, die sich durch Schönheit, Richtigkeit und Kühnheit in der Ausführung hervorgethan hatten; es ist die grösseste Tänzerin in der Welt" 38).

    Auch das besondere Augenmerk, das Noverre in den "Lettres" auf die Figuranten richtet (mindestens zehnmal beschäftigt er sich mit ihren Funktionen), dürfte sich zum Teil auf seine Berliner Erfahrungen gründen. Bereits auf der ersten Seite kommt er auf sie zu sprechen; im zweiten, dritten und vierten Brief widmet er sich ihren Aufgaben, und aus eigenem Erleben und Empfinden erwachsene Überzeugung mag ihm die Aufforderung an die Ballettmeister diktiert haben: "Laßt ... eure Figuranten und Figurantinnen nicht blos tanzen, sondern durch Tanzen reden und mahlen, sie müssen allesamt Pantomimen seyn, sie müssen sich alle in alle Gestalten zu verwandeln wissen. Wenn ihre Gebehrden und ihre Physiognomie beständig mit ihrer Seele übereinstimmen, so wird der daraus entspringende Ausdruck der wahre Ausdruck der Empfindung seyn" 39).

    Zieht man in Betracht, daß in den zehn Jahren zwischen Noverres Berliner Engagement und der Niederschrift der "Lettres" seine Tätigkeit in Paris (1754/55) nur eine kurze Episode bleibt, so wird immer deutlicher, daß die Geschwister Lany und das dreijährige Zusammenwirken mit ihnen an der Berliner Oper eine weit größere Bedeutung für Noverres Entwicklung hatten, als man bisher annahm. Mag die Folgerung zu weit gehen, daß die Wurzeln von Noverres Reformideen in Berlin zu suchen seien, so ist doch nicht zu übersehen, daß Barthélémy Lany, sein Berliner Meister und Vorbild ("der gelehrteste Tänzer, den ich kenne") mit seiner choreographischen Arbeit Noverres Streben in eine neue Richtung, zu einer theoretischen und einer schöpferischen Beschäftigung mit dem Bühnentanz gelenkt hat. Es wäre nicht der erste und nicht der letzte Fall, daß ein kritischer Geist in der preußischen Residenz die Anregung zu Werken empfing, die sich später als groß erweisen sollten.

    Anmerkungen

    1) Krüger, Manfred: J. G. Noverre und das 'Ballet d'action'. Jean-Georges Noverre und sein Einfluß auf die Ballettgestaltung, Emsdetten 1963.

    2) Briefe über die Tanzkunst und über die Ballette, vom Herrn Noverre. Aus dem Französischen übersetzt. [Reprint der Ausgabe Hamburg und Bremen, Cramer, 1769]. Mit Nachwort, Verzeichnis der literarischen Arbeiten von Noverre, Werkverzeichnis der Choreographien, empfehlender Bibliographie und Register von Kurt Petermann, Leipzig und München 1977 (= Documenta Choreologica, XV).

    2a) So muß man sich fragen, was denn ein Namenregister wert ist, das nicht den Grundsatz der Vollständigkeit erfüllt. Wenn Noverre sich über den Berliner Komponisten Carl Heinrich Graun äußert, den er persönlich kennengelernt hat, so darf man erwarten, daß dessen Name auch im Register erscheint. Die berühmte Tragödin Hippolyte Clairon, von Noverre selbst als "unnachahmliche Actrice" bezeichnet, war dem Herausgeber offenbar unbekannt und taucht im Register als "Clairo (T ä n z e r i n der Noverrezeit)" auf. Solche Fehler dürfen in einer Edition, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, nicht vorkommen. Ein weiteres Ärgernis ist in mehreren wesentlichen Fällen der mangelhafte Quellennachweis, eine Sünde, die Petermann gerade bei anderen Autoren lebhaft beklagt. Wenn er gewissenhaft die Fundorte der theoretischen Schriften und der Libretti Noverres mit deren Bibliotheks-Signaturen angibt, so nützt das dem Leser nichts, wenn Petermann nirgends verrät, wo sich denn das "Tanzarchiv" oder die "Dance Archives Derra de Moroda" überhaupt befinden (der gedruckte Katalog der Salzburger Derra-de-Moroda-Bibliothek erschien erst 1982). Auch eine bibliographische Angabe "Salzburg o. J. 28 Bl. maschinenschr. vervielf." für einen möglicherweise wichtigen Aufsatz von Friderica Derra de Moroda läßt beim Leser keine Hoffnung aufkommen, sich diese Schrift jemals beschaffen zu können. Eine Wunderlichkeit anderer Art ist die zwiespältige Haltung Petermanns gegenüber seinem Sujet. Offenbar unter dem Einfluß von Frau Derra de Moroda ist er bemüht, Noverres Verdienste möglichst zu reduzieren und ihn vornehmlich als eloquenten Verwerter der Reformarbeiten Anderer hinzustellen. Ein Zitat aus einem längeren Kommentar Noverres zu seiner choreographischen Kompositionsweise, der im "Theatralkalender von Wien, für das Jahr 1772" (S. 172-191) erschienen ist, veranlaßt Petermann, von "maßloser Selbstgefälligkeit", "übertriebenem Selbstbewußtsein" und "Komplexen" zu sprechen, die "wahrscheinlich ... erlittene Mißerfolge verdrängen" sollten. Der Herausgeber kannte diese in durchaus sachlich-bescheidenem Ton gehaltene Abhandlung Noverres sicherlich nicht im Original, sonst hätte er vielleicht auch an dieser Stelle jenen anderen Tenor angeschlagen, der sich in seiner Edition überall dort findet, wo er sich
    n i c h t auf Frau Derra de Moroda stützt: Da spricht er von Noverres "genialen Gedanken", seinem "künstlerischen Verantwortungs- bewußtsein" und anderen Eigenschaften, die "zur Bewunderung dieser ehrgeizigen und schöpferischen Persönlichkeit" zwängen.

    3) Noverre, Charles Edwin: The Life and Works of the Chevalier Noverre, London (1882).

    4) Noverre 1882 (wie Anm. 3), S. 9.

    5) Er ist in der französischen Schweiz geboren, doch wäre es sicherlich verfehlt, Noverre deshalb als Schweizer zu bezeichnen.

    6) Selbst der Artikel "Noverre" von Wilhelm Pfannkuch in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Kassel 1949-1985, Bd. IX, Sp. 1734-1739, bringt, was Berlin betrifft, nur die herkömmlichen Vermutungen. Die weitaus beste mir bekannte neuere Arbeit über Noverre, die gedruckt vorliegt, ist der Artikel "Noverre" von Lillian Moore in: Enciclopedia dello Spettacolo, Rom 1954-1962, Bd. VII, Sp. 1243-1248.

    7) Niedecken, Hans: Jean-Georges Noverre. 1727-1810. Sein Leben und seine Beziehungen zur Musik, Phil. Diss. Halle 1914.

    8) Levinson, Andrei: Meister des Balletts (Übersetzung aus dem Russischen von R. von Walter), Potsdam 1923. - Die russische Originalausgabe erschien 1915 in St. Petersburg.

    9) Lynham, Deryck: The Chevalier Noverre. Father of Modern Ballet, London 1950.

    10) Vgl. Lynham 1950 (wie Anm. 9), S. 17 und 176. Zudem verwechselt Lynham den Marquis d'Argens (1704-1771), den Berliner Freund Friedrichs II., permanent mit dem Marquis d'Argenson (1696-1757), dem französischen Staatsmann und Diplomaten.

    11)Tugal, Pierre: Jean-Georges Noverre. Der große Reformator des Balletts (Übersetzung aus dem Französischen von T. Bergner), Berlin 1959.

    12)Derra de Moroda, Friderica: Das Ballet d'Action und seine Entwicklungsgeschichte, in: Österreichische Musikzeitschrift, 31. Jg., 1976, Heft 3, S. 143-152.

    13) Derra de Moroda 1976 (wie Anm. 12), S. 146.

    14) So viele Veröffentlichungen (Bücher und Aufsätze) verzeichnet allein die New York Public Library.

    15) Schneider, Louis: Geschichte der Oper und des Königlichen Opernhauses in Berlin, Berlin 1852.

    16) Als Beispiel sei nur genannt: Thiel, Eberhard: Libretti. Verzeichnis der bis 1800 erschienenen Textbücher, Frankfurt am Main 1970 (= Kataloge der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 14). Die dortigen Titelaufnahmen der Berliner Libretti enthalten keinen Hinweis auf die am Schluß verzeichneten Ballette und ihr Personal.

    17 ) Zu den wenigen Ausnahmen gehört Jean-Jacques Olivier mit seinen grundlegenden Werken: La Cour Royale de Prusse, Paris 1902, in: Les Comédiens Français dans les Cours d'Allemagne au XVIIIe Siècle, Paris 1901-1905, 2me série, und: La Barberina Campanini (1721-1799), Paris 1910. Er konnte jedoch nur drei solcher Libretti, die er als "rarissime" bezeichnet (in: La Barberina, S. 52), ausfindig machen, davon nur eins aus Noverres Zeit.

    18) So soll der große englische Schauspieler und Bühnenleiter David Garrick (1717-1779) Noverre genannt haben.

    19) Vgl. darüber Schneider, Louis: Die Tänzerin Barbarina, in: Almanach für Freunde der Schauspielkunst, hrsg. von A. Heinrich, 15. Jg., Berlin 1851, S. 58-101. Ferner Schneider 1852 (wie Anm. 15), S. 99-106 und Beilagen S. 37-49, sowie Olivier: La Barberina Campanini (wie Anm. 17), S. 35 ff. Die deutsche Ausgabe dieses Werkes: Barberina Campanini. Eine Geliebte Friedrichs des Großen, Berlin 1909, ist eine gekürzte und fehlerhafte Bearbeitung, die man nur mit Vorsicht benutzen sollte.

    20) Zitiert nach Frenzel, Herbert A.: Brandenburg-preussische Schloßtheater, Berlin 1959, S. 78. Vgl. auch Olivier 1902 (wie Anm.17), S. 65.

    21) Schneider 1852 (wie Anm. 15), S. 99.

    22) Steltz, Michael: Geschichte und Spielplan der französischen Theater an deutschen Fürstenhöfen im 17. und 18. Jahrhundert, phil. Diss. München 1965, S. 67. Das von Steltz benutzte handschriftliche "Livre de Mémoire pour les représentations de la Comédie françoise" des Barons von Sweerts, das ich für vorliegenden Aufsatz nicht einsehen konnte, enthält auch Angaben über die Bezahlung der dort jeweils beschäftigten Tänzer, so daß nicht auszuschließen ist, daß in diesen Aufzeichnungen weitere Details über Noverre zu finden sind.

    23) Exemplare der Textbücher zu "Alessandro e Poro" und "Demofoonte" befinden sich in der Library of Congress (Washington), der Textbücher zu "Il sogno di Scipione" und "Le feste galanti" in der Herzog August Bibliothek (Wolfenbüttel). Beiden Bibliotheken habe ich für die freundliche Anfertigung von Kopien zu danken. Alle übrigen genannten Libretti sowie alle angeführten Titel der Sekundärliteratur befinden sich in der Theatersammlung Rainer Theobald (Berlin), der bedeutendsten deutschen Privatsammlung zur älteren Theatergeschichte.

    24) Diese "M. Cochois" ist nicht identisch mit der Solotänzerin Marianne Cochois, denn sie tritt neben Babet Cochois in deren Gefolge auf. Vermutlich handelt es sich um die verwitwete Mutter der beiden Schwestern Cochois, die ihre Töchter und ihren Sohn nach Berlin begleitet hatte und hier anscheinend noch Verwendung unter den Figuranten fand. Vgl. Olivier 1902 (wie Anm. 17), S. 34-35.

    25) Mayer-Reinach, Albert: Carl Heinrich Graun als Opernkomponist, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft, 1. Jg., 1899-1900, S. 446-529. Von der hier behaupteten permanenten Identität der Anzahl von Akten und Balletten gab es, wie wir sehen werden, nicht wenige Ausnahmen.

    26) Schneider 1852 (wie Anm. 15), S. 113.

    27) Beaumont, Cyril B.: Ballet Design Past and Present, London (1946), S. XX.

    28) Olivier 1902 (wie Anm. 17), S. 156-164.

    29) Schneider 1852 (wie Anm. 15), S. 91-92. Ob Schneider sich nicht im Datum der Beschwerde verlesen hat (1782 statt 1747), bedarf der Überprüfung.

    30) Mayer-Reinach 1900 (wie Anm. 25), S. 507-508.

    31) Zitiert nach Glatzer, Ruth (Hrsg.): Berliner Leben 1648-1806. Erinnerungen und Berichte, Berlin 1956, S. 247.

    32) Daß Lany auch diese Ballettsuite noch choreographiert hat, war allen Historikern, angefangen bei Louis Schneider, bisher unbekannt. Schneider und ihm folgend Olivier halten "Le feste galanti" für die erste Arbeit von Lanys Nachfolger, Pierre Sodi.

    33) Vgl. hierzu Hedgcock, Frank A.: David Garrick and his French Friends, London (1912), S. 127-149.

    34) Nicolai, Friedrich: Anekdoten von König Friedrich II. von Preussen, und von einigen Personen, die um Ihn waren, 2. Heft, Berlin und Stettin 1789, S. 106 ff.

    35) Eine Übersetzung findet sich in der deutschen Ausgabe von Carlyles Friedrich-Biographie: Carlyle, Thomas: Geschichte Friedrichs des Zweiten genannt der Große. Neu herausgegeben und bearbeitet auf Grund der Originalübersetzung von Georg Dittrich, Meersburg 1928, Bd. VI, S. 316: "Als sie das Theater verließen, sagte der Kaiser zum König von Preußen: 'Da ist Noverre, der berühmte Ballettmeister; er ist in Berlin gewesen, glaube ich.' Noverre machte darauf eine schöne Tanzmeisterverbeugung. 'Ah, ich kenne ihn', sagte der König. 'Wir sahen ihn in Berlin; er war sehr komisch, machte alle Welt nach, besonders unsere Haupttänzerin, daß man beinahe vor Lachen platzte.' Noverre, der mit dieser Art, sich seiner zu erinnern, schlecht zufrieden war, machte eine andere schöne Verbeugung in der dritten Stellung und hoffte wahrscheinlich, der König werde noch etwas mehr sagen und ihm Gelegenheit geben zu einer kleinen Rache. 'Ihre Ballette sind schön', sagte der König zu ihm. 'Ihre Tänzerinnen besitzen Grazie; aber es ist eine den Wuchs verunstaltende Grazie. Ich glaube, Sie lassen sie ihre Schultern und Arme zu sehr erheben. Denn, Monsieur Noverre, wenn Sie sich erinnern, unsere Haupttänzerin in Berlin war nicht so.' - 'Ebendeshalb war sie in Berlin, Sire', antwortete Noverre (satirisch alles, was er konnte)."

    36) Noverre 1977 (wie Anm. 2), S. 105-106.

    37) Noverre 1977 (wie Anm. 2), S. 126.

    38) Noverre 1977 (wie Anm. 2), S. 125. - "The ballerina Louise Lany is said to be the first to beat an 'entrechat six' in 1750" (Haskell, Arnold: A Picture History of Ballet, London 1954, S. 12).

    39) Noverre 1977 (wie Anm. 2), S. 47.

    (Obiger Beitrag ist außerdem zur Veröffentlichung vorgesehen für: Der Bär von Berlin. Jahrbuch 1997 des Vereins für die Geschichte Berlins. Hrsg. von Sibylle Einholz und Jürgen Wetzel).


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  • Nr. 5: Buchrezensionen / Book reviews

    TANZWISSENSCHAFT 5

    Frank-Manuel Peter:
    Buchrezensionen / Book reviews

    In barocker Hülle und Fülle

    Schon der Einband mit dem attraktiven, mit Ausnahme der Lichter und Schatten halbseitig spiegelbildlichen Stich von Galli-Bibiena mit seinen 14, etwas verloren vor barocker Gartenarchitektur tanzenden Personen läßt vor Neid erblassen. Und erst der Inhalt: Einen wissenschaftlichen Kongreß ausschließlich zu Tanz und Bewegung in der barocken Oper hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Allerdings ist der in Salzburg so berühmte Heinrich Franz Biber, der das alles ermöglicht und die Zuschüsse zu Kongreß und Publikation bewirkt hat, in Deutschland ein außerhalb der Fachwelt quasi Unbekannter. Dafür gab es 1994 zumindest in Salzburg denn auch zur 350. Wiederkehr des Geburtstages dieses "wohl bedeutendsten im Vorfeld Mozarts wirkenden Salzburger Komponisten" - zwar keine "Biber-Kugeln", aber eine "Biber-Festwoche".

    Der Kongreßbericht versammelt fast so viele Symposiumsreferenten wie Bibienas Stich Tänzer. In der Fülle der noch tanzwissenschaftlich aufzuarbeitenden Themen zum barocken Tanz wirken sie nicht weniger verloren als diese. Unter ihnen fällt Carol Marsh mit ihrem Beitrag über "Le Mariage de la Grosse Cathos", eine "komische" Maskerade von 1688 aus Versailles, besonders auf. Endlich hat die Forschung hier einmal ein Beispiel für die lexikalisch neben Feuillet auf den berühmten Chorégraphie-Seiten der Encylopédie von Diderot/ D'Alembert ausgeführten Tanznotation von Jean Favier aufgefunden. Monika Woitas untersucht den Wandel ästhetischer Positionen im Zeichen der Aufklärung vor allem an den Traktaten von Behr und Bonin (aber auch Taubert, Pasch, Gottsched und Weaver). Claudia Jeschke ist mit einem Aufsatz über die Körperkonzepte des Barock vertreten. Weitere Beiträge stammen von Regina Beck-Fris, Magnus Blomkvist, Jean-Noel de Laurenti, Sarah McCleave, Dorothea Schröder, Sabine Henze-Döhring und Daniel Brandenburg.

    Der Druck des Bandes inclusive der Abbildungen ist auffallend gut, doch fehlt ein Register. Die Aufführungen historischer Tänze anläßlich der Festwoche fand die Kritik damals nicht ganz so gelungen wie das Symposium. An den Werken der barocken Oper hat halt doch schon - wenn nicht der Biber, so aber der Zahn der Zeit genagt.

    Tanz und Bewegung in der barocken Oper. Hrsg. von Sibylle Dahms u. Stephanie Schroedter.(Kongreßbericht - Salzburg 1994). Innsbruck, Wien: StudienVerlag, 1996. 179 Ss., Broschur. ISBN 3-7065-1154-1. DM 40,80 / OES 298,00 / SFR 38,00

    Wenn auch weniger eindrucksvoll hergestellt, so doch mindestens ebenso interessant vom Inhalt ist der Konferenzbericht zu Tanz und Musik im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert, der als 45. Heft in der durch Eitelfriedrich Thom unter Mitarbeit von Frieder Zschoch herausgegebenen Reihe "Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts" erschienen ist.

    Die Beiträge von 16 Autoren umkreisen Themen wie Tanzmeister, Polen, norwegische Bauerntänze, Courante-Sarabande, Allemande,Gavotte, Menuett, Tanztempi, J.S. Bach oder "Das Ballett an der Hamburger Gänsemarkt-Oper 1678-1749".

    Tanz und Musik im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert. Konferenzbericht der XIX. Wissenschaftlichen Arbeitstagung Michaelstein, 13. bis 16. Juni 1991. Michaelstein/ Blankenburg 1993. ISBN 3-89512-093-6. 158 Ss. DM 24,-

    Das Institut für Aufführungspraxis der Musik des 18. Jahrhunderts auf Kloster Michaelstein gibt aber außer den Konferenzberichten auch verschiedene andere interessante Publikationsreihen heraus, darunter die Reihe "Dokumentation/ Reprint". Als Band 26 ist hier der Eintrag "Chorégraphie" aus der Encyclopédie von Diderot und D'Alembert von 1753 erschienen. Der Reprint ist löblich, weil die Tafeln zwar von den Antiquaren, die dieses Werk gerne zerschnitten und die Kupferstiche einzeln gewinnbringend verkauft haben, weit verbreitet wurden und zumindest in den Tanzarchiven vorliegen, die Textseiten aber schwer zu beschaffen sind. Leider fehlt hier jeder begleitende Kommentar, den man von einer wissenschaftlich betreuten Ausgabe eigentlich verlangen darf. Als Dokumentation/ Reprint Nr. 28 wurde der Eintrag "Tantzen" aus Zedlers Universallexikon aller Wissenschaften und Künste von 1744 vorgelegt. Wieder fehlt jeder inhaltlicher Kommentar, und dieses Heft ist als Reprint auch nicht ganz so verdienstvoll wie Band 26, denn Zedlers Lexikon liegt ja komplett als Reprint vor und kann in vielen öffentlichen Bibliotheken leicht kopiert werden. Dafür ist der zweiteilige Band 29 mit der Veröffentlichung von Ernest August Jaymes "Recüeil de Contre Dances" von 1717 eine besondere Rarität. Leider umfaßt der Kommentar nur eine halbe Seite, und der Druck ist trotz guten Papiers so schlecht, daß viele Noten als schwarze Kleckse kaum oder nicht mehr zu lesen sind. Technisch besser ist Band 32 gelungen, der auch ein richtiges Nachwort (von Ernst Kiehl) enthält: das Wernigeröder Tanzbüchlein von 1786. Unklar ist allerdings, warum der Untertitel von einem "Reprint der Ausgabe von 1786" spricht, also von einem Neudruck, wenn es sich bei der Vorlage um eine Handschrift, ein Manuskript handelt. Auch die Einbandillustration wirkt ein wenig oberflächlich hinzugefügt. Leider ist die Reihe mit diesem Band eingestellt worden.

    Artikel "Chorégraphie" aus: Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, 1753. Hrsg. von Eitelfriedrich Thom. Michaelstein/ Blankenburg 1991. o.ISBN. DM 2,-

    Artikel "Tantzen" aus Zedlers Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, 1744. Hrsg. von Eitelfriedrich Thom. Michaelstein/ Blankenburg 1991. o.ISBN DM 3,-

    Ernest August Jayme, Recüeil de Contre Dances. Hrsg. von Eitelfriedrich Thom. Michaelstein/ Blankenburg 1991. 2 Bde. o.ISBN. DM 16,-

    Wernigeröder Tanzbüchlein. Hrsg. v. Eitelfriedrich Thom. Mit einem Nachwort von Ernst Kiehl. Michaelstein/ Blankenburg 1993. o.ISBN. 156 Ss. DM 20,-

    Tu felix Austria!

    Jetzt wissen wir doch endlich, wann Giselle gestorben ist: im Januar 1935 nämlich, nachzulesen in den Briefen des Herausgebers der Zeitschrift "Der Tanz", Joseph Lewitan, an Friderica Derra de Moroda, auszugsweise abgedruckt in einer ihr gewidmeten Publikation. Mit Giselle ist allerdings Lewitans "zeppelinförmiger" Dackel gemeint, der in den Ballettstunden bei Lewitans Gattin Eugenie Eduardowa im Berlin der Zwanziger Jahre immer aus friedlichstem Schlummer erwachte, wenn das Abschlußkommando jeder Stunde "Port de bras, Reverence!" ertönte - worauf er erwartungsfroh zur Tür des Ballettsaals trabte. Die wirkliche Giselle dagegen ist unsterblich, hier stimmt Lewitan wie fast immer mit Derra de Moroda überein, wenn auch nicht im Vergleich in seiner Einschätzung der Ballets Jooss: "...irgendwie ist die Sache wenig tänzerisch und primitiv. Der Grüne Tisch ist ein politisches Konjunkturballett und dürfte die Stunde nicht überleben, wie etwa Genf und die Diplomatenverhandlungen sich überlebt hätten. Da ist doch die Lebensfähigkeit einer Giselle eine andere!" - Derra de Moroda war ausnahmsweise anderer Meinung und hat sich in England für die Lebensfähigkeit von Jooss selbst sehr eingesetzt, - und der Grüne Tisch hat bisher viele Jahrzehnte auf den Bühnen der Welt glänzend überstanden.

    "Warum ist Friderica Derra de Moroda in der einschlägigen Tanzliteratur, d.h. in tanzhistorischen Arbeiten, Lexika und Enzyklopädien, lediglich äußerst knapp, wenn überhaupt präsent?", fragt Sibylle Dahms gleich zu Beginn ihrer Einleitung des Buches. In Reclams Ballettlexikon zumindest hat Derra de Moroda mit 36 Zeilen einen längeren Eintrag als ihre englischen Kollegen G.B.L. Wilson oder J.S.R. Richardson oder der gar nicht aufgeführte Cyril W. Beaumont, und selbst ihr Lehrer Enrico Cecchetti hat nur 10 Zeilen mehr (was aus der langen Liste seiner berühmten Schüler leicht verständlich wird). Zweifellos ist es eine Selbstverständlichkeit, daß das von Derra de Moroda in Jahrzehnten aufgebaute Tanzarchiv, das sie der Öffentlichkeit stiftete, ihren Namen trägt. Auch das Erscheinen einer Festschrift zu ihrem 100. Geburtstag ist eine angemessene Würdigung. Ob allerdings Derra de Morodas Wirken als Tänzerin zwangsläufig eine längere tanzgeschichtliche Würdigung bedingen müßte, wagt man nun nach Kenntnis all der neckischen Music-Hall- oder Volkstanz-Fotografien erst recht zu bezweifeln. Immerhin ist es gut und richtig, daß man sich jetzt relativ ausführlich selbst ein Bild machen kann, auch von Derra de Morodas Tätigkeit als Leiterin eines deutschen "Kraft-durch-Freude-Balletts", einem "ehrenvollen" Auftrag, auf den Derra de Moroda nach Zeugenaussagen noch lange nach dem Krieg stolz war, dem sich andere wie Helge Peters-Pawlinin aber - weit ehrenhafter - zu entziehen gewußt hatten.

    Friderica Derra de Morodas Verdienste sind groß und vor allem im Aufbau des Tanzarchivs, aber auch in ihren Beiträgen zur Tanzforschung zu sehen. In der Publikation geben einzelne Aufsätze, beispielsweise von Gunhild Oberzaucher-Schüller, eindrucksvoll von der umfangreichen Sammlung Auskunft. Zu bemängeln gibt es lediglich, daß unverständlicherweise kein Register erstellt wurde und lieber Seiten am Schluß leer gelassen wurden; auch eine chronologische Übersicht wäre bei biographischer Absicht wünschenswert gewesen. Daß man in Österreich auch heute noch nicht auf Fotos von den üblichen Ehrungen im Kreis lokal prominenter, aber für den Tanz unwichtiger Würdenträger verzichten kann, ist schade.

    Sibylle Dahms und Stephanie Schroedter (Hrsg.): Der Tanz - ein Leben. In Memoriam Friderica Derra de Moroda. Festschrift. Salzburg: Selke Verlag 1997. 221 Ss. ISBN 3-901353-14-3 (ÖS 275,-)


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  • Nr. 6: Buchneuerscheinung / A new book published

    TANZWISSENSCHAFT 6

    Buchneuerscheinung / A new book published (in german language with english abstracts):

    Der Tänzer Harald Kreutzberg.

    Hrsg./Ed. von/by Frank-Manuel Peter.

    Berlin: Edition Hentrich, 1997.

    ISBN 3-89468-109-8

    DM 39,80 (mit zahlreichen Abbildungen)

    1.1 Vorwort

    "A new Nijinsky came to light here tonight" schrieb die New York Times anläßlich eines Tanzabends von Harald Kreutzberg während der Salzburger Festspiele 1927: sein Erfolg sei größer als der jedes anderen Künstlers der Festspiele, Max Reinhardt inbegriffen. Für den damals 24jährigen Solotänzer der Berliner Staatsoper begann damit eine einzigartige Karriere auf den internationalen Konzertpodien und Theaterbühnen. Fast 300 Gastspiele gab Kreutzberg allein in Nordamerika. Die Presse widmete ihm Tausende von ausführlichen Artikeln, und auch die namhaftesten Kritiker wie John Martin in New York verfaßten Lobeshymnen. Mehrere Jahrzehnte lang begeisterte er sein Publikum mit dramatischen oder humorvollen Auftritten immer wieder aufs neue und hatte auch in für den modernen Tanz schwierigen Zeiten volle Säle aufzuweisen. Kreutzberg war der mit großem Abstand bekannteste und bedeutendste männliche Vertreter des deutschen modernen Tanzes dieses Jahrhunderts und galt als "der größte Tänzer unserer Zeit" (John Schikowski 1929 im Vorwärts). Zugleich war Harald Kreutzberg ("he brings modernistic influence of german art here") einer der hochrangigsten Repräsentanten zeitgenössischer deutscher Kultur im Ausland - und dies während der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in den ersten ein bis zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland.

    Es bedarf also eigentlich keiner Erklärung, warum ein Buch über Harald Kreutzberg veröffentlicht wird. Viel eher besteht dagegen ein Erläuterungsbedarf, weshalb es bisher noch kein derartiges Buch gegeben hat. Die letzte Monographie, die zu Harald Kreutzberg erschien, ist ein Lyrikband von Rudolf Hagelstange aus dem Jahr 1961; davor wurde lediglich 1950 und 1956 Pirchans Buch aus dem Jahr 1941 neu aufgelegt. Dieses Manko liegt nicht in Kreutzbergs Ansehen begründet, sondern vor allem daran, daß der Tanz die von allen Künsten am schwersten zu dokumentierende ist: Das eigentliche Tanzkunstwerk existiert nur im Moment und am Ort seiner Aufführung. Wegen dieses flüchtigen, transitorischen Charakters gebührt der Tanzkunst die größtmögliche Sorgfalt und Unterstützung bei der Dokumentation. Leider aber haben die öffentlichen Archive kaum Dokumente über Kreutzberg gesammelt. 1) Diesem Mißstand versucht das kürzlich eingerichtete, auf dem Nachlaß des Tänzers basierende Kreutzberg-Archiv im Deutschen Tanzarchiv Köln im Rahmen seiner Möglichkeiten abzuhelfen. Seine Vorläuferinstitution, das im Dritten Reich in Berlin zur Dokumentation der Tanzkunst eingerichtete und im Krieg zerstörte Deutsche Tanzarchiv hatte immerhin den Status eines "Reichsarchivs". Da die dringend notwendige staatliche Förderung der Tanzdokumentation und -forschung in der Bundesrepublik is heute jedoch fehlt, ist die von ausländischen Tanzhistorikern gelegentlich geäußerte Feststellung leider nicht zu widerlegen, daß die Politiker des Dritten Reichs in diesem Metier mehr für die Kultur getan hätten als die überregionale Politik der Bundesrepublik Deutschland.

    Die einst erschienenen, antiquarisch gelegentlich noch erhältlichen Bücher über Kreutzberg entsprechen keineswegs heutigen Anforderungen. Da gab es zum einen das seit 1938 mehrfach aufgelegte Bändchen Kreutzbergs "...über mich selbst" mit weniger als 20 Textseiten und einigen Abbildungen. Kreutzberg hat es als "ein kleines Büchlein mit Bildern, eigenen Zeichnungen und kleinen Anekdoten" angelegt.2) Diese Publikation war auf den Verkauf an den interessierten Besucher seiner Tanzabende ausgerichtet. Auch Emil Pirchans im Plauderton abgefaßte Monographie über Kreutzberg von 1941 kann heutigem Interesse nicht mehr genügen und ist zudem arg vom Zeitgeschehen und -geschmack geprägt, wie Pirchans Blick aus den frühen 40ern auf die 20er Jahre beweist: Die namentliche Nennung Max Reinhardts wird in der Ausgabe von 1941 vermieden, ebenso die von Egon Wellesz, dessen Komposition Pirchan zudem als "zersetzend" angreift: "Die Nächtlichen heißt eine Tanzsymphonie, die Max Terpis als ersten Versuch einer neuen Ballettauffassung im Opernhaus bringt. [...] Aber die zersetzende, merkwürdige Musik, blaß und blutleer bis zu peinlichen Dissonanzen, erregte Widerspruch."3)

    Die vorliegende Arbeit will also nicht in neuer Verpackung altbekannte Informationen dem Markt wieder zugänglich machen, will auch keine Biographie Kreutzbergs sein und all jene Erzählungen und Anekdoten aus diesen beiden Publikationen und so vielen Interviews wiederholen. "Also, man schluckt einmal kräftig herunter und beginnt wieder mit den alten Geschichten, die man schon tausendmal erzählt hat", heißt es bei Kreutzberg selbst dazu. 4) Biographische Angaben, um neue Erkenntnisse wie den Dresdener Auftritt als Mitglied des Petz-Kainer-Balletts ergänzt, werden deshalb nur in einem kleinen "Vorspann" zu finden sein, insbesondere für diejenigen Leser gedacht, die mit Kreutzbergs Biographie gar nicht vertraut sind; ihnen wird auch eine chronologische Tabelle am Ende des Buches den Überblick über die vielfältigen Ereignisse und Engagements erleichtern.

    Das Phänomen Harald Kreutzberg war aus heutiger Sicht und aus unterschiedlichster Perspektive und Fragestellung zu untersuchen. Wiewohl dabei ein möglichst umfassendes Bild Kreutzbergs entstehen sollte, gibt es zwei Lücken zu beklagen, die entstanden, nachdem Autoren in letzter Minute "absprangen" und ihre Themen so kurzfristig nicht mehr von anderer Seite übernommen werden konnten. Ein Wiener Musikwissenschaftler hatte die Aufgabe übernommen, auf der Basis des in Wien öffentlich verwahrten Musiknachlasses von Kreutzbergs Komponisten und jahrzehntelangem Begleiter Friedrich Wilckens über die Musik zu Kreutzbergs Tänzen zu schreiben. Daß ein so wichtiger Beitrag nicht rechtzeitig zustande kam, ist sehr bedauerlich und kann für die weitere Forschung nur als Desideratum angemahnt werden. Auch die späte Absage des Beitrags einer momentan über ostasiatische Einflüsse auf die europäische Kunst arbeitenden Kunsthistorikerin zum Thema der Verwendung von Tanzmasken in Deutschland am Beispiel Kreutzbergs ist ein bedauerlicher Verlust und sollte zum baldmöglichen Nachholen anregen. Das ursprünglich ebenfalls avisierte Thema "Kreutzberg als Pädagoge" erwies sich als zu komplex für einen Aufsatz in diesem Buch und setzt sehr umfassende Recherchen über seine Lehrtätigkeiten im In- und Ausland mit langwieriger Suche nach Schülern und deren Befragung voraus. 5) Es scheint ansonsten eine interessante Aufgabe für eine Examensarbeit zu sein, mit deren Realisierung man wegen des hohen Alters vieler Schüler nicht zu lange warten sollte.

    Kreutzbergs Theaterlaufbahn begann mit viel Erfolgn Hannover, wo sie - nach einer Steigerung der Anerkennung und dem Sammeln neuer Erfahrungen in Berlin - noch erfolgreicher in einer zweiten Phase fortgesetzt wurde. Mit Hannover verbunden ist jedoch nicht nur Kreutzbergs erste Theaterpraxis, sondern auch seine Zusammenarbeit mit Yvonne Georgi. Man kann diese zweite Zeit in Hannover und mit Yvonne Georgi wohl zu recht als die wichtigste Schaffensperiode in Kreutzbergs Leben bezeichnen. Auch Kreutzbergs "Intermezzo" als Ballettmeister am Theater in Leipzig fällt in diesen Zeitraum.

    Bei keinem anderen namhaften männlichen Vertreter des Ausdruckstanzes spielten religiöse Themen im tänzerischen Werk eine so große Rolle wie bei Kreutzberg. Warum tanzte er beispielsweise so gerne Engelsgestalten? Kreutzbergs amerikanische Partnerin, die spätere Chicagoer Choreographin Ruth Page, schrieb in einem Nachruf auf ihn: "If ever an angel walked this earth, it was Harald Kreutzberg." Oder handelt es sich bei solchen Gestaltungen um ein Phänomen der Zeit, heutigem Publikum schwer verständlich? Auch Tänzerinnen wie Mary Wigman oder Charlotte Bara haben schließlich religiöse Themen aufgegriffen.

    Neben den dramatischen Tänzen mit den pathetischen großen Gesten, die vor allem in den zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren entstanden, gründet sich Kreutzbergs Ruhm und vor allem seine ungeheure Popularität auf seinen heiteren, humorvollen, verspielten Tänzen. Ja es scheint sogar, daß Heiterkeit und Humor die eigentliche schöpferische Triebfeder Kreutzbergs waren.

    Der sog. "freie" Tanz der Zwanziger Jahre war ein überwiegend weibliches Phänomen, die wenigen männlichen Tänzer nicht ohne eine feminine Note (wie Alexander Sacharoff) oder nach kurzer Zeit ins Fach des Choreographen oder Pädagogen überwechselnd (wie Rudolf von Laban und Kurt Jooss). Harald Kreutzbergs Beispiel regte die Rezensenten oft zu Gedanken über "Das Problem des männlichen Tanzes" an.

    Ein auch bei den Vorarbeiten zu diesem Buch immer wieder angesprochenes Thema betrifft Kreutzbergs Wirken während des Dritten Reichs. Harald Kreutzberg ist nicht emigriert und konnte weiterhin auftreten, hat sogar bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1936 und beim Tag der Deutschen Kunst getanzt - war er ein Nazi? Das vielleicht "heikel" wirkende Thema wurde mit deutscher Gründlichkeit aufgegriffen und gleich von zwei Autorinnen bearbeitet. Und kein Wunder, daß der Verwandlungskünstler der Bühne und Maskentänzer, der seinen Wohnsitz Anfang der Dreißiger Jahre ins ferne und friedliche Tirol verlegte, bei Recherchen in den Archiven auch zwei Gesichter zeigt: Beispielsweise ein gleich zweifach geschriebener Brief an einen zur Mitarbeit drängenden, befreundeten Regisseur, einmal in ganz privatem Tonfall abgefaßt, und einmal "offiziell zum Vorzeigen", mit "deutschem Gruß". 6)

    Harald Kreutzberg wirkte zwar als Tänzer in Deutschland nicht schulbildend, doch ist beispielsweise lexikalisch nachzulesen, daß er "einen nachhaltigen Eindruck auf die Vertreter des Modern Dance machte." 7) Seine Tourneen durch die USA, durch Japan und Lateinamerika waren folglich daraufhin zu untersuchen, wie Kreutzberg bei Presse und Publikum aufgenommen wurde und welcher Einfluß auf die dortigen Tänzer eventuell nachweisbar wäre. Immerhin war Insidern bekannt, daß Kreutzbergs Gastspiele von wesentlicher Bedeutung für die künstlerische Entwicklung späterhin prominenter Tänzer wie José Límon, Erick Hawkins oder Kazuo Ohno waren.

    Manche Bühnengrößen leben auch ihr Privatleben sehr öffentlich, andere dagegen leben sehr zurückgezogen; von ihnen weiß man nur wenig Privates, den eigentlichen Menschen zeigend. Es lag nahe, in diesem Buch auch diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die Kreutzberg zugleich aus privater Perspektive kannten - und so das Bild von seiner Persönlichkeit abzurunden.

    Abschließend drängte sich die Frage auf, ob denn nicht doch mehr als nur der Nachweis eines Einflusses auf die Entwicklung des modernen Tanzes nachweisbar wäre, ob nicht Harald Kreutzberg außerhalb der Dokumente, sondern auf der Bühne selbst weiterleben könnte: Kann man Kreutzberg-Tänze heute aufführen, u wie sehen solche Rekonstruktionen aus? Eine Kennerin des Ausdruckstanzes schrieb vor wenigen Jahren: "Yvonne Georgis und Harald Kreutzbergs Persisches Lied wirkt für uns so naiv, daß es schon fast peinlich ist. 1928, als der Orient noch exotischer Ort von Mystik und Sinnlichkeit war, enthielten die Bewegungen dieses Tanzes eine Bedeutungsebene, die dem nicht vorinformierten Zuschauer heute verschlossen bleibt."8) In diesem Kapitel des Buches sollte jedoch nicht der Theoretiker und Historiker, sondern der Theaterpraktiker zu Wort kommen: Jemand, der mit denen zusammengearbeitet hat, die als Tänzer mit Kreutzberg auf der Bühne standen oder seine Werke früher studiert hatten, und der dann Tänze Kreutzbergs wieder auf die Bühne brachte.

    Der dokumentarische Anhang schließlich soll einen Überblick sowie das Nachschlagen von Details ermöglichen. Den Beginn macht eine chronologische Übersicht über wichtigere Stationen in Kreutzbergs Leben. Es folgt eine Übersicht über die solistischen Gastspiele Kreutzbergs, die auf einer von Friedrich Wilckens wohl 1959 erarbeiteten Aufstellung basiert und deswegen eine große Authentizität verspricht. Dennoch hat sie nur unter Vorbehalten Gültigkeit: sie bezieht sich offenbar ausschließlich auf die Mitwirkung von Wilckens, was schon aus dem späten Beginn mit dem Jahr 1927 deutlich wird, und muß auf Kreutzberg bezogen gelegentlich mit höheren Werten angesetzt werden. So ist es zwar hilfreich, in der von uns ergänzten Spalte beispielsweise 286 Tanzabende (oder -matineen) allein in den USA ablesen zu können. Doch war Wilckens bei drei Tourneen, die Kreutzberg mit Yvonne Georgi durchführte, nur einmal dabei: auf der ersten war Louis Horst der musikalische Begleiter, auf der dritten Klaus Billing. Und da sich hier die Kalenderjahre überschneiden (Jan.-März 1929; Okt.1929-März 1930; Okt.1930-März 1931), wird erst eine detaillierte Rekonstruktion eines Tages die Angaben von Wilckens bestätigen oder korrigieren können. Ein Werkverzeichnis schließlich ist auch im Bereich der Darstellenden Kunst von grundlegender Bedeutung für die Forschung. Ein Mitarbeiter des Tanzarchivs hat sich deshalb der Mühe unterzogen, die bisher bekannt gewordenen Dokumente diesbezüglich auszuwerten. Ergänzende Hinweise und Korrekturen nimmt das Deutsche Tanzarchiv Köln jederzeit dankbar entgegen und hofft auch beim Auffinden neuer Dokumente auf die konstruktive Mithilfe der Leser und die Vervollständigung des auf dem Nachlaß basierenden Kreutzberg-Archivs.

    Frank-Manuel Peter

    Anmerkungen:

    1) Sehr zum Nachteil wirkt sich für die Erforschung und Dokumentation seines künstlerischen Werkes aus, daß bisher keinerlei choreographische Aufzeichnungen und ähnliche Muskripte Kreutzbergs aufgefunden wurden und die an Kreutzberg gerichteten Briefe vernichtet sind. Auch ein Hinweis im Katalog des weltgrößten Tanzarchivs, der Dance Collection der New York Public Library for the Performing Arts, versprach zuviel: Madeleine M. Nichols, Curator der Dance Collection, teilt am 5.7.1994 mit: "In response to your question about the Harald Kreutzberg file of miscellaneous manuscripts, I can tell you that it contains only one autographed program cover from 1960 and one letter from Beth Soll of Cambridge, Massachusetts to Mrs. Cowell, March 29, 1981."

    2) Harald Kreutzberg schreibt diesbezüglich am 21.Juni [wohl 1936, als er wegen einer Zehenverletzung seine erste Südamerika-Tournee absagen muß] an seinen Agenten E. Hamann; Theatersammlung Hamburg.

    3) (1941, S. 24). Nach dem Krieg ist dann in der kaum bearbeiteten Neuausgabe an dieser Stelle zu lesen: "Die Nächtlichen heißt eine Tanzsymphonie von Wellesz, die [...]. Aber die merkwürdige Musik, voll von eigentümlichen Dissonanzen, erregte Widerspruch." (1950 und 1956, S. 24).

    4) "Von... bis", unveröffentlichte Memoiren, S.61 [im Deutschen Tanzarchiv Köln/DTK]. Diese Autobiographie enthält - mit Ausnahmen wie den Schilderungen der Dreharbeiten zum Paracelsus-Film, dem Lager in Italien und der ersten Nachkriegszeit - kaum neue Informationen und ist auf Unterhaltung angelegt: "Ich müßte so viel erzählen, und es würde immer nur heissen: 'und dann kam... und dann war... und dann musste ich.....!' Ich glaube, es würde wohl keinen Menschen interessieren, ob diese oder jene Begebenheit im Jahre 1929, 1936 oder 1940 passierte. Ich will ja nur die Buntheit eines Lebens erzählen und von den vielen Stationen, die es auf einem solchen Weg gibt." (S.56, Vorwort zum 3. Teil).

    5) Ein Brief von Beth Soll, einer Schülerin in Bern, gibt einen Eindruck: "I had the chance to study for 4 months with Kreutzberg when I was living with my family in Bern. By that time (1961-2), he was no longer really dancing, but he loved to satirize dance or merely reminisce. His imitations of other dancers were hilarious. He liked to do a short history of dance for us - it would continue up to the present, which, for him, was best represented by the macho dancing in West Side Story. Naturally he managed to surpass his source material." (Dance Collection, S. Anm. 1)

    6) Zwei Briefe vom 02.05.1935 an Hanns Niedecken-Gebhard, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln.

    7) Koegler, Horst und Helmut Günther: Reclams Ballettlexikon. Stuttgart 1984, S. 252f.

    8) Hedwig Müller: Zwei rück, eins vor. Zur Frage der Rekonstruktion von Ausdruckstänzen. tanzdrama, Magazin. Köln, H. 11, 2. Quartal 1990, S. 4-6, hier 6.

    Translation

    "A new Nijinsky came to light here tonight," wrote the New York Times, on the occasion of a Harald Kreutzberg dance evening during the 1927 Salzburg Festival. His success was estimated to be greater than that of any other artist participating in festival, including Max Reinhardt. For the then 24-year old solo dancer from the Berlin State Opera, it was the beginning of a unique career on the international concert podium and ballet stage. Kreutzberg gave nearly 300 guest performances in North America alone. The press devoted thousands of detailed articles to him and the most renowned critics, such as John Martin, in New York, wrote him hymns of praise. He dazzled his audience repeatedly for decades with dramatic or humorous performances, and packed the theaters even in those times that were difficult for modern dance. Kreutzberg was far and away the most well-known and significant male representative of German modern dance in this century, and was portrayed as "the greatest dancer of our time" (John Schikowski, 1929, in Vorwaerts). At the same time, Harald Kreutzberg was one of the primary representatives of contemporary German culture abroad ("...he brings the modernistic influence of German art here..") - and this during the Weimarer Republic, the Third Reich and the first several decades of the Federal Republic of Germany.

    Why a book about Harald Kreutzberg is being published should thus require no explanation. On the contrary, there is rather more need for illumination about why such a book has not yet appeared. The last monograph about Harald Kreutzberg that appeared is a lyric volume by Rudolf Hagelstange, published in 1961. Before that, Pirchan's book from 1941 was simply reissued in 1950 and 1956. This deficit is not due to Kreutzberg's success and reputation, but primarily because dance is the most difficult of all the fine arts to document. A dance work exists only in that moment and in that place of its performance. Because of this ephemeral, transitory character dance deserves the greatest possible care and support in documentation. Unfortunately, public archives have collected scarcely any documentation about Kreutzberg. 1 The recently established Kreutzberg Archive of the German Dance Archives of Cologne, based on documentation and memorabilia from the Kreutzberg estate, is trying to correct this imbalance. The forerunner of the German Dance Archives of Cologne - the German Dance Archives established during the Third Reich, in Berlin, for the documentation of dance and destroyed during the Second World War ® had, after all, the status of a "Reich Archive". And because the urgently needed state support for dance documentation and research in the Federal Republic of Germany is today still lacking, it is unfortunately not possible to refute the occasional claims of foreign dance historians that political functionaries of the Third Reich, in this respect, did more for culture than does federal policy in the Federal Republic ofGermany today.

    The once appearing, yet occasionally obtainable as second-hand books about Kreutzberg do not in any way accordingly approach present day requirements. There was a small Kreutzberg volume published in multiple editions from 1938 on, "..about myself", with fewer than 20 pages of text and a few illustrations. Kreutzberg published it as "a slim book with pictures, my own drawings and little anecdotes." 2 This publication was directed for sale to interested visitors to Kreutzberg's dance evenings. Published in a chatty tone in 1941, Emil Pirchan's monograph about Kreutzberg, as well, is not sufficient for present day interest and is characterized by the evil of currents events and tastes of the time, as Pirchan's view from the early 1940s looking back to the 1920s proves: the designation of Max Reinhardt by name was avoided in the 1941 edition, and likewise that of Egon Wellesz, whose composition Pirchan attacked as "subversive": "'Die Naechtlichen' is the name of a dance symphony that Max Terpis brings to the opera house as the first attempt at a new understanding of ballet. [...] But the subversive, curious music, pale and bloodless to the point of embarrassing dissonance, aroused protest." 3

    The work at hand will not bring to market yet again old, well-known information in new packaging, and does not try to be a Kreutzberg biography or repeat all of the various narratives and anecdotes out of these two previously-mentioned volumes and so many interviews. "So, one swallows hard and begins again with the old stories, that one has already told a thousand times," as Kreutzberg himself remarked on the subject. 4 Because of that, biographical details amplified for new recognition, such as by findings on the Dresden performance as a member of the Petz-Kainer ballet, are to be found only in a brief "introduction", conceived especially for those readers who are not at all familiar with Kreutzberg's biography. There is also a chronological chart at the end of the book to make an overview of the sheer diversity of events and engagements easier.

    The task was to study the phenomenon of Harald Kreutzberg from a current perspective, and from the most various of perspectives and questions. Although the most comprehensive picture of Kreutzberg possible should develop, there are two lamentable gaps, which originated after the respective authors "jumped ship" at the last minute and their themes could not be dealt with at such short notice by others. A Viennese researcher of music assumed the task of writing about The Music to Kreutzberg's Dances, on the basis of the music estate of Kreutzberg's composer and companion of decades, Friedrich Wilckens, which is publicly archived in Vienna. It is regrettable that such an important contribution was not achieved in time, and we can only send a reminder as a suggestion for further research. Also, the late cancellation of the contribution The Use of Dance Masks in Germany, Using the Example of Kreutzberg by an art historian working momentarily in the field of European art on the subject of East Asian influences, is a regrettable loss, and should be addressed as soon as possible. The likewise originally planned for subject, Kreutzberg as an Educator, proved itself too complex for an essay in this book, requiring a very comprehensive examination of his teaching activities at home and abroad with a prolonged search for pupils and consultation with them. 5 In any case, this particular subject appears an interesting task for an examination paper, with the realization that, because of the advanced age of many of the pupils, one should not wait too long.

    Kreutzberg's theater career began with great success in Hannover, where it - after an increase in recognition and the collection of new experiences in Berlin - continued even more successfully in its second phase. Connected with Hannover, however, is not only Kreutzberg's first theater practice, but rather also his collaborative work with Yvonne Georgi. One can very rightly designate this second period in Hanover, and with Yvonne Georgi, as the most important creative period in Kreutzberg's life. Kreutzberg's "intermezzo" as ballet master at the Leipzig Theater falls into this period, as well.

    There is no other masculine representative of expressionist dance for whom religious themes played so great a role in his works, as they did with Kreutzberg. Why, for example, did he so enthusiastically dance the roles of angels? Kreutzberg's American partner, Ruth Page, who was later based as a choreographer in Chicago, wrote about him in an obituary, "If ever an angel walked this earth, it was Harald Kreutzberg." Or were such characterizations perhaps a phenomenon of those times, which a present day public finds difficult to understand? Dancers such as Mary Wigman or Charlotte Bara, after all, also took up religious themes.

    In addition to his dramatic dances with great emotive gestures, which were created primarily in the Twenties and early Thirties, Kreutzberg's fame, and above all his monstrous popularity, were based on his cheerful, humorous, playful dances. It would appear that cheerfulness and humor were Kreutzberg's actual creative motivation.

    The so-called "independent" dance of the Twenties was a primarily female phenomenon, in which only few male dancers participated. Some of them had a feminine touch (like Alexander Sacharoff), others changed after a short time to choreographic or educational areas (such as Rudolf von Laban and Kurt Jooss). Harald Kreutzberg's example often stimulated reviewers to meditate on, "The Problem of Male Dance".

    A theme repeatedly talked about during the preparations for this book concerns Harald Kreutzberg's works during the Third Reich. Harald Kreutzberg did not emigrate, and could continue to perform, and even danced at the opening celebrations of the 1936 Olympic Games and German Art Day. Was he a Nazi? This perhaps "delicate" to handle subject was taken up with "German thoroughness" and even dealt by not only one, but two different authors (from both parts of the formerly divided country). It was really no wonder that the quick-change artist of the stage and mask dancer, who removed his place of residence to the faraway and peaceful Tirol at the beginning of the Thirties, also turned up showing two different faces, as well, when researched in the archives. As an example, there is a letter written in duplicate to a befriended director who was pushing him to cooperate - one in a completely private tone and the other in an "official version for presentation", with "German salutations". 6

    As a dancer in Germany, Harald Kreutzberg did not create his own tradition and following. However, one can read in an encyclopedia that he "made a lasting impression on representatives of modern dance." 7 Consequently, his tours of the USA, and through Japan and Latin America are to be studied in regard to how Kreutzberg was taken up by the press and public and which influences on the dancers in the countries he visited would eventually be evident. It was known, at least to "insiders", that Kreutzberg's guest performances were essentially significant for the artistic development of dancers coming to prominence later, such as José Limón, Erick Hawkins or Kazuo Ohno.

    Some theater giants also live their private lives very openly. Others, in contrast, live quite retiringly. One knows only a very little about their private lives that actually reveals these persons. It was obvious that this book would also have those few persons speak, who knew Kreutzberg from a private perspective, in order to round out the portrait of his personality.

    Finally, the pushing question was that of whether or not even more than only proof of influence on the development of modern dance would be demonstrable, whether or not Harald Kreutzberg could live on outside of documentation, on the stage. Can one perform Kreutzberg's dances today and how do such reconstructions look? A few years ago a connoisseur of expressionist dance wrote, "Yvonne Georgi's and Harald Kreutzberg's 'Persian Song' struck us as so naive, that it is almost embarrassing. In 1928, when the Orient was still an exotic place of mysticism and sensuality, the motions of this dance contained a level of significance for the uninformed spectator that today remains locked away." 8 In this chapter of the book, however, the voice of the theater practitioner, and not those of the theoretician and historian, should be heard: someone who worked with those persons who stood on the same stage with Kreutzberg or who previously studied his actual works, and who then reanimated Kreutzberg's dances on stage.

    The documentary final section of this publication should enable an overview as well as a reference for details. At the beginning, there is a chronological overview of the more important landmarks in Kreutzberg's life. This is followed by an overview of Kreutzberg's solo guest performances, which is based on a list produced by Friedrich Wilckens assumedly in 1959, and therefore promises a high degree of authenticity. However, it is valid only under certain reservations: it is a list which apparently refers exclusively to the collaboration with Wilckens, which is already obvious, as it (the list) begins rather late, with the year 1927. It has thus to be augmented in reference to Kreuzberg. So it is helpful, at least, in our supplementary column, for example, to be able to read about 286 dance evenings (or matinees) in the USA alone. Wilckens was, in any case, on only one of the three tours that Kreutzberg undertook with Yvonne Georgi: on the first tour Louis Horst was Kreutzberg's musical accompanist, and on the third tour Klaus Billing. And because the calendar years overlap here (Jan - March 1929; October 1929 - March 1930; October 1930 - March 1931), only a very detailed reconstruction will one day verify or be able to correct Wilckens' testimony. An index of works is also of basic significance for research in the area of performing arts. One staff member of the Dance Archives therefore put a great deal of effort into evaluation of the documents known up until now, for precisely this purpose. Any supplementary pieces of advice and/or corrections will be thankfully accepted by the German Dance Archives in Cologne at any time, and we hope, with the constructive assistance of readers, to discover new documents to complete our Kreutzberg Archive, based on the Kreutzberg estate.

    Frank-Manuel Peter

    (translated by Ellen Lampert)

    Notes

    1) Greatly to the detrimental effect on research and documentation of Kreutzberg's artistic work is the fact that until now no choreographic recordings and similar Kreutzberg manuscripts have been found, and letters sent to Kreutzberg have been destroyed. Also, a comment in the catalogue of the world's greatest dance archives, the Dance Collection of the New York Public Library for the Performing Arts, seems to have promised more than it could deliver: Madeleine M. Nichols, curator of the Dance Collection, reported on July 5, 1994, "In response to your question about the Harald Kreutzberg file of miscellaneous manuscripts, I can tell you that it contains only one autographed program cover from 1960, and one letter from Beth Soll of Cambridge, Massachusetts, to Mrs. Cowell, March 29, 1981."

    2) Harald Kreutzberg wrote in connection with this on June 21, (probably 1936, when he had to cancel his first South American tour due to a toe injury) to his agent E. Hamann; Theater Collection of Hamburg.

    3) (1941, page 24). In the relatively unchanged post-war edition however, one can read, "Die Naechtlichen is the name of a dance symphony by Wellesz, which.......But the curious music, filled with strange, weird dissonance, aroused protest." (1950 and 1956, page 24).

    4) "Von...bis" ("From...until"), unpublished memoires, page 61 (in the German Dance Archives in Cologne/DTK). This autobiography - with exceptions such as the descriptions of the shooting of the "Paracelsus" film, of the PW-camp in Italy and the immediate post-war period - contains little new information, and is directed toward entertainment: "I had to narrate so much, and it would only be, 'and then came....and then was....and then I had to...!' I think it would interest hardly anyone, if this or that eventhappened in 1929, 1936 or 1940. All I want is to talk about thecolorfulness of a life and about the many stations to be foundalong such a way." (page 56, preface to part 3).

    5) A letter from Beth Soll, a pupil in Bern, gives an impression: "I had the chance to study for 4 months with Kreutzberg when I was living with my family, in Bern. By that time (1961-2), he was no longer really dancing, but he loved to satirize dance or merely reminisce. His imitations of other dancers were hilarious. He liked to do a short history of dancefor us - it would continue up to the present, which, for him, was best represented by the macho dancing in 'West Side Story'. Naturally, he managed to surpass his source material." (Dance Collection, see note 1).

    6) Two letters from May 2, 1935, to Hanns Niedecken-Gebhard, Cologne University Theater Research Collection.

    7) Koegler, Horst and Helmut Guenther: Reclams Ballettlexikon. Stuttgart, 1984, page 252f.

    8) Hedwig Müller: "Zwei rück, eins vor. Zur Frage der Rekonstruktion von Ausdruckstänzen." tanzdrama, Magazin. Köln, H. 11, 2. Quartal 1990, pages 4-6. Page 6 is noted here.


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  • Nr. 7: Die Calé und Flamenco: Altindische Tanzeinflüsse

    TANZWISSENSCHAFT 7
     

    Iris Brikey
    Die Calé und Flamenco: Altindische Tanzeinflüsse

    Abstracts:

    Eine mögliche Verwandtschaft des Flamenco mit dem nordindischen klassischen Kathak-Tanz ist seit langem Diskussionsthema. Nicht nur die Ähnlichkeit beider Tanzstile, auch die ursprünglich nordindische Herkunft der Calé (spanische Zigeuner) spricht dafür. In einer ausführlicheren Untersuchung fand Iris Brikey, Tänzerin, in beiden Tanzstilen Übereinstimmungen spezifischer Elemente, die u.a. der indischen Klassik zuzuordnen sind. Zugleich scheint es Hinweise dafür zu geben, daß sich der Flamenco möglicherweise als eine Art Dokument zeigt, das Rückschlüsse auf den frühen, teilweise noch ungeklärten Entwicklungsverlauf des Kathak geben kann. 

    A possible relationship between Flamenco and the classical northern Indian Kathak dance has been a subject of discussion for quite a long time. Not only the similarities of both styles, but also the original northern Indian heritage of the Calé (Spanish Gypsies) support this view. In a more detailed examination, dancer Iris Brikey found within both dance styles a consistency in specific elements which can be assigned to Indian classical dance. At the same time, there seems to be evidence that Flamenco, as a kind of document, can possibly lead to some conclusions about early and as yet partially unexplained developmental process of Kathak.

    Text:

    Wie Sinti und Roma anderer Länder stammen auch die spanischen Zigeuner, die sich selbst Calé nennen, ursprünglich aus Nordindien. Hauptsächlich im 11. Jahrhundert wanderten sie aus noch nicht näher bestimmten Gebieten aus, die im Sindh, Punjab und Rajasthan vermutet werden (1). Im Jahr 1425 erreichten sie Andalusien, wo sie nach zum Teil grausamen Verfolgungen erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine zögerliche Integration in die Gesellschaft erfuhren (2). Der politische Liberalisierungsprozeß scheint auch das kulturelle Leben Andalusiens wieder aufblühen zu lassen: Das 18. Jahrhundert ist geprägt von einer Fülle unterschiedlichster andalusischer Tanzformen sowie dem Erscheinen des Flamenco in seiner Frühphase (3). 

    Obgleich in der Flamenco-Musik ein ethnisch-kultureller Verschmelzungsprozeß nachgewiesen werden konnte (4), ist es nicht gelungen, die ethnischen Einflüsse im Tanz zuzuordnen (5). Auch methodisch aufschlußreiche Standardwerke wie "Eine Weltgeschichte des Tanzes" von Curt Sachs (6) sowie Veröffentlichungen, die die indischen Einflüsse im Flamenco-Tanz thematisieren (7), werden der Komplexität der Fragestellungen nicht gerecht.

    Einzige Dokumentation der Tänze dieser Zeit sind Reisebeschreibungen, die sich "unpräzise" und "widersprüchlich" zeigen (8). Sie wurden m.E. bisher jedoch nicht differenziert genug interpretiert. Bestimmte Elemente des Flamenco, wie das rhythmische Händeklatschen und die Fußtechnik, werden oft schon als Anzeichen des Flamenco-Tanzes gedeutet, dabei zeigen sich hier - wie auch in den Hüftbewegungen - lediglich verschiedene gemeinsame Nenner der andalusischen, arabischen und indischen Tanzkultur. Diese sind zwar flamencotypisch, spiegeln aber nur aus der Frühstufe der Stammestänze erhaltene globale Tanzformen wider (9), die eine Annäherung verschiedener ethnischer Tanzkulturen Andalusiens mühelos erwirkte. Die Entstehung des Flamenco kann durch diese Tanzphänomene nicht erklärt werden.

    Insbesondere auch durch meine persönliche Tanzerfahrung im Flamenco-Tanz und dem nordindischen klassischen Kathak-Tanz merke ich, daß außereuropäische, außerarabische Phänomene des Tanzes im Flamenco eine wichtige Rolle spielen. Der Kathak-Tanz Nordindiens, der von Männern und Frauen in gleicher Weise getanzt wird, hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Flamenco-Tanz. Zur Zeit der Auswanderung der Calé aus Nordindien war Kathak in seiner erzählerischen, der Klassik angelehnten Tanzform voll entwickelt. In seiner abstrakten Tanzsprache, die heute dominiert, muß er hingegen in einem Entwicklungsprozeß begriffen gewesen sein, dessen wesentliche Faktoren im Flamenco sichtbar werden. 

    Die Calé: Gesang und Ritus Indiens?

    Der Flamenco-Gesang wird als ein Phänomen Andalusiens angesehen (10), obgleich die Etappe seiner Entstehung und Ausformung eng mit den Calé verbunden ist (11). Es gibt Hinweise dafür, daß sich bei den Calé indische Gesangstraditionen erhalten haben, die sich präzisieren lassen. Die Siguiriya, eine der wichtigsten ernsten Gesangsgattungen im Flamenco, die erst seit dem 18. Jahrhundert dokumentiert ist (12), hat beispielsweise eine starke Ähnlichkeit mit den langsamen Formen indischer Tappa-Gesänge. Diese stammen - laut mündlicher Überlieferung - aus dem Punjab, Rajasthan und Sindh und wurden später am Hofe mit arabisch-persischen Gesangselementen angereichert (13). Von den "sansis", indischen Zigeunern des Punjab, werden sie auch heute meisterhaft interpretiert (14). Interessant ist auch, daß die älteste Form der oft sakral genannten archaischen Flamenco-Gesänge - die "toná" - mit dem Hindibegriff "tona" für "Zauber(spruch)" in Zusammenhang stehen könnte. Der Hindibegriff weist auf die religiösen Veden hin, deren Versdichtung und teilweise gesangliche Vorgaben einerseits zum Herzstück des späteren Hinduismus wurden, andererseits zum maßgeblichen Faktor der Entwicklung der klassischen Musik in Indien wurden (15). Im Mittelpunkt der Veden steht der Priesterdichter. Seine rituelle, gesellschaftliche, aber auch dichterische Rolle (16) kann mit der des Flamencosängers (17) durchaus in Beziehung gesetzt werden und auch das Phänomen "duende" (18) im Flamenco beleuchten. Auch wenn es keine äußerlichen Zusammenhänge zum Tanz gibt - sowohl Gesänge der indischen Veden (19) als auch die archaischen Gesänge des Flamenco werden nur durch Gestikulation unterstrichen - scheint sich hier eine Stabilität von Rituspflege anzudeuten, die auch die Konservierung der indischen Tanzphänomene, die im folgenden sichtbar wird, erst möglich machte.

    Die indische Klassik: Entstehungsimpuls für Flamenco-Tanz?

    Der gefühlszentrierte Charakter des Flamenco wurde schon von Curt Sachs hervorgehoben. Die Tänze wirken introvertiert, sehr persönlich, sind Solotänze und individuelle Improvisationen, vom inneren Gefühl geleitet. Sie wirken rituell sowie ekstatisch im Sinne eines inneren Spannungszustandes (20). 

    Auch in der religiösen erzählerischen Tanzform Indiens, der im klassischen Tanzstil eine abstrakte Tanzform gegenübergestellt ist, sind Gefühle zentral. Hier geht es jedoch nie, wie im Flamenco, um die unmittelbaren Gefühle und das Erleben des Tänzers, sondern um eine gesangstextlich gebundene, auch theoretisch komplex gestaltete Darstellung von Gefühlen und psychischen Phänomenen, in deren Zustand sich der Tänzer hineinversetzt (21). Die wesentlichen Merkmale dieser Tanzform, die im Natya Shastra, einer Tanz- und Theaterabhandlung des 2. Jahrhunderts n. Chr. unter dem Begriff "Abhinaya" - im Sinne der Kunst der Repräsentation von Gefühlen und psychischen Zuständen - zusammengefaßt werden (22), tauchen im Flamenco wieder auf. Die Merkmale zeigen sich hier in einer der Definition von "Abhinaya" entsprechenden Gesamtheit der Phänomene Gesang, Mimik, Hand- und Körpergestik sowie mentaler Prozesse, mit denen Schmerz, Trauer, Einsamkeit, aber auch Ausgelassenheit und Ekstase des Flamenco zum Ausdruck kommen.

    In den Tänzen der Calé fällt das besondere Phänomen der Mimik schon früh auf (23), auch kommt im Flamenco der Zustand der Ekstase durch Körpergestik zum Ausdruck. Die Handgesten des Flamenco aber haben wohl den augenscheinlichsten Bezug zur indischen Tanzsprache. Sie weisen starke Ähnlichkeit mit indischen Handalphabeten auf, auch wenn im Flamenco nur vergleichsweise wenig Gesten erhalten sind. Die enge Anbindung von Gefühl und Handgestik, die wohl im wesentlichen dafür verantwortlich ist, daß die Kastagnetten der andalusischen Folklore lange Zeit - teilweise bis heute - aus dem Flamenco strikt ausgeschlossen blieben, aber auch die Erhaltung der Handgesten über Jahrhunderte hinweg, scheint ein Hinweis dafür, daß sie bis zu einem gewissen Zeitpunkt noch symbolhafte Bedeutung im Tanz hatten. Die filigranen Handgesten der Frauen beispielsweise erinnern an Blumengesten (Abbildung 1) und im Zusammenhang mit den Handgelenksdrehungen auch an das Pflücken von Blumen. Beides sind wichtige tänzerische Darstellungsmittel für rituelle Opferhandlungen, die immer am Beginn der klassischen indischen Tanzvorführung stehen. Typische Tanzelemente, die der indischen Klassik zuzuordnen sind, werden damit im Flamenco sichtbar. Das persönliche, auch rituelle Erleben des Tänzers, das im Flamenco im Mittelpunkt steht, weist jedoch eher die Nähe zu archaischeren Tanzformen Indiens auf.

    Wie weit Fachbegriffe der altindischen Klassik unter den Sinti und Roma anderer Länder bekannt waren, zeigt sich in den Bezeichnungen der Lieder ungarischer Roma ("loki d'ili" und "khelimaske d'ili" (24) ), die m.E. Sanskrit Wortstämme bzw. Hindimodifikationen enthalten, die auf eine begriffliche Gegenüberstellung des Natya Shastra zurückzuführen sind, in denen "lokadharmi" (unmittelbarer Volksbrauch) von "natyadharmi" (inszenierte Darstellungsform) unterschieden wird. Dabei ist "khel" eine Hindimodifikation für den Sanskritbegriff "natya" und das "d'ili" möglicherweise vom Persischen (dilli: "von Herzen") abzuleiten. Für den Kathak ist die tänzerische Gesangsinterpretation, die von Improvisation lebt und im Vergleich zu anderen klassischen indischen Stilen auffällig natürlich gehalten ist, schon seit der Antike belegt (25). Sie geht u.a. auf das Wirken nordindischer, teilweise männlicher Tänzer- und Musikergemeinschaften (wie den Kathakas (26) ) zurück. In Tempelbezirken trugen sie religiöse Epen in der für Indien bis vor wenigen Jahrhunderten noch charakteristischen Einheit von Tanz, Gesang und Musik vor. Ihr Wissen gaben sie innerhalb der eigenen Familie weiter. Obwohl noch in der Namensgebung (Kathak: " jmd. der eine Geschichte erzählt") das besondere Gewicht dieser Tanzform deutlich wird, überwiegt heute der abstrakte Tanz, der durch hohe rhythmische Virtuosität beeindruckt und sich in einem noch nicht geklärten Entstehungsprozeß Seite an Seite mit der erzählerischen Tanzform entwickelte (27). 

    Indische Rhythmusauffassung im Flamenco

    Kathak wie Flamenco sind nicht nur von der Spontanität und teilweise hohen Geschwindigkeit im Umgang mit Rhythmus geprägt, sondern auch von der der Improvisation breiten Spielraum bietenden Dynamik im Zusammentreffen von Tanz, Gesang und Musik. Im Flamenco zeigen insbesondere die langen, über 12 Zählzeiten gehenden Rhythmuszyklen (compás) indischen Ursprung und erhalten durch unterschiedliche Akzentuierung und Additionsanordnung - hier 3er und 2er Rhythmen - verschiedene Ausformungen; sie folgen damit dem Aufbau der indischen Rhythmuszyklen (talas) (28).

    Während im Kathak jedoch der erste Schlag des Zyklus dominiert und auch die Abschlüsse in der Regel auf diesem "sam" genannten Punkt erfolgen müssen, befinden sich die Abschlüsse in den langen Zyklen des Flamenco auf dem letzten akzentuierten Schlag. Selbst das rhythmische Händeklatschen ist im Kathak zwar nicht tanzbegleitend, aber die metrische Struktur markierend wichtiger Bestandteil der rhythmischen Systematik des Kathak. Damit steht der Flamenco der indischen Rhythmustheorie, den zehn Elementen von tal, die insbesondere im Kathak Tanz zur Geltung kommen (29), sehr nahe.

    Im späten Mittelalter wurden die im Kathak getanzten Gesänge nach Versanzahl und musikalischer Grundstimmung (30) unterschieden und favorisierten verschiedene Ausformungen des 14er talas (31). Ähnliches trifft auf den Flamenco zu. Auch hier zeigen sich in den langen Rhythmuszyklen unterschiedliche Ausformungen des 12er compás, die jedoch auch im Rhythmusteil beibehalten werden. Die abstrakte Tanzform des Kathak dagegen bildet heute in der Regel einen rhythmisch eigenständigen Teil, in dem in Folge der hohen Stilisierung der letzten Jahrhunderte nicht nur der 16er, sondern auch 15er, 14er, 12er, 10er, sogar 11,5er talas getanzt werden. Hierauf bauen im Kathak-Tanz mathematisch genau strukturierte, teilweise höchst komplizierte und schnelle Kompositionen auf, die im Kathak durch kombinierte Fußarbeit und Körperbewegungen akustisch-visuell, aber auch sprachlich umgesetzt werden. Zunächst zeigt sich hier ein grundsätzlicher Unterschied in der Tanzgestaltung zum Flamenco. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich diese Kombinationen als spätere Weiterentwicklung eines archaischen Tanzprinzips, das im Flamenco wie Kathak sichtbar wird und auf einen weiteren gemeinsamen Nenner beider Tanzstile hinweist: einem schamanistischen Prinzip der vorarischen Urgesellschaft (32). 

    Archaische indische Tanzelemente im Flamenco und Kathak

    Neben der eingangs behandelten Nähe des Flamenco zur indischen Klassik zeigen sich im Tanz archaische Prinzipien indischer Tanzkultur.

    Die ekstatische Fußarbeit

    Sowohl im Flamenco als auch im Kathak hat die schnelle und variationsreiche Fußarbeit einen derartigen Stellenwert eingenommen, daß sich hieraus eigenständige Teile im Tanz gebildet haben. Die Fußarbeit hat in Indiens Tanzkultur alte Tradition und zeigt sich in Stammes- und Folkloretänzen, vor allem aber in klassischen Tanzstilen. Es ist m.E. sehr auffällig, daß die nordindische klassische Tanzform Kathak dem Flamenco in der Ausgestaltung der Fußarbeit wesentlich näher steht als den fünf klassischen Tanzstilen, die sich in anderen Regionen Indiens herausgebildet haben. Möglicherweise entwickelte sich diese besondere Art der Fußarbeit Seite an Seite mit den erzählerischen Tanzformen einzelner Tänzer-und Musikergemeinschaften, die die Gesangspoesie mit rhythmischen Teilen der Fußarbeit versahen.

    Auffällig ist, daß dieses ausgeprägte Phänomen ekstatischer Fußarbeit (33) in beiden Tanzstilen gemeinsam mit einem geschlossenen schamanistischen Bewegungsprinzip (s.u.) auftritt, das sich beispielsweise im Flamenco in den llamadas, rhythmisch-tänzerischen Zeichen, befindet. Zwar wird der Fachbegriff "Zapateado" für Fußarbeit im Flamenco vom spanischen Wort "zapata" für Schuh hergeleitet (34), interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch das Sanskrit Wort "sapata", das ebenfalls als Sprachwurzel in Frage kommen könnte und für Geschwindigkeit, Schnelligkeit und Rennen steht. Es beschreibt nicht nur das ekstatische Wesen der Fußarbeit besser, sondern deutet scheinbar schamanistische Übung (s.u.) an.

    Das geschlossene schamanistische Prinzip im Kathak und Flamenco

    Charakteristisch sind im Flamenco die Verwindungen / Verdrehungen insbesondere des Oberkörpers (35). In der Betrachtung des zentralasiatischen Kulturraumes wird deutlich, daß sie eine spezifische Ausformung schamanistischen Bewegungsmusters darstellen und im Flamenco in einem auffälligen Verbund spezifischer Bewegungen (Drehungen, Verwindungen, imaginär durch die Luft gezogenen Armlinien und z.T. plötzlichem Innehalten) in den llamadas und remates, rhythmisch-tänzerischen Zeichen des Flamenco-Tanzes, aufteten. Erst aus den Beschreibungen auf noch archaischer Stufe stehender schamanistischer Séancen Zentralasiens lassen sich noch reine Elemente des Schamanismus klar erkennen, die für Flamenco, aber auch für die Betrachtung der tanzgeschichtlichen Entwicklung der abstrakten Tanzform des Kathak wichtig sein werden. In dieser archaischen, besonders im asiatischen Raum vorkommenden Religionsform setzt sich der Schamane mit Hilfe spezifischer Übungen (Rennen, Drehungen, Verwindungen des Körpers; die für Indien charakteristische Fußarbeit taucht nicht auf) in Trance, um dann in einem Moment des Stillstehens seine Visionen zu erhalten bzw. mit seiner Geister- bzw. Götterwelt in Kontakt zu treten (36). Inwieweit diese Bewegungsmuster als geschlossenes schamanistisches Prinzip zu Tanzkultur wurden, zeigt sich zunächst in den um 1000 entstandenen Derwischtänzen alttürkischen Kulturraumes, in denen, wie in den nordindischen Folkloretänzen u.a. des Punjab und Rajasthans, das Phänomen der kontinuierlichen Drehungen auftritt. Teilweise zeigt sich auch hier ein plötzliches Innehalten, in dem im Derwischtanz Bekenntnisse ausgesprochen werden (37), in Tänzen des Punjab für einige Sekunden verharrt wird (38). Drehungen werden auch für die "wirbelnden Zauberinnen" Zentralchinas (um 2. Jahrhundert n. Chr.) sowie die "wirbelnden Mädchen" zentralasiatischer Handelsstädte vermutet (39). Auch im nordindischen Kathak taucht dieses auffällige Phänomen der kontinuierlichen Drehungen auf und steht oft am Ende der rhythmisch-tänzerischen Kompositionen. In typischen Abschlußfiguren des Kathak hält der Tänzer dabei ebenfalls für einige Sekunden inne (Abbildung 2)

    Im Flamenco gibt es diese kontinuierlichen Drehungen nicht, hingegen tauchen die Verwindungen / Verdrehungen des Oberkörpers auf, die in den schamanistischen Séancen auffielen. Sie zeigen sich in der nordindischen Folklore in Uttar Pradesh, wo kontinuierliche Drehungen mit einer fast gewaltsamen Oberkörperdrehung (40) ausgeführt werden. Sie erinnern stark an die tiefen Drehungen des Flamenco. Erst bei näherer Betrachtung taucht ein Rudiment dieser archaischen Verwindung des Oberkörpers auch im Kathak-Tanz auf und zeigt sich in einleitenden Sequenzen der "gats" (s.u.) ebenfalls in einem Verbund der schon für den Flamenco erschienenen spezifischen Bewegungen und stellt auch hier ein geschlossenes, schamanistisches Prinzip dar. Die Bewegungen des Kathak erinnern dabei nicht nur an die Art der Bewegungen der llamadas und remates des Flamenco und haben - so mein persönliches Empfinden - eine ähnliche Wirkung auf den Tänzer, sondern auch ihre Funktion stimmt in beiden Tanzstilen überein: sie deuten Wechsel bzw. Abschlüsse im Tanzablauf an. 

    Die "Gats" des Kathak

    "Gats" sind Tanzstücke im Kathak, deren Besonderheit darin besteht, daß hier Geschichten bzw. Gefühle, aber auch Szenen des alltäglichen Lebens ohne Gesang bzw. Textanlehnung getanzt werden. Wichtiges Merkmal sind spezielle Drehungen ("paltas"), nach denen der Tänzer kurz in einer inhaltlichen Tanzfigur, z.B. Krishna darstellend oder ein Gefühl andeutend, innehält. Hier zeigt sich ein geschlossenes, schamanistisches Prinzip, das möglicherweise eine sehr ursprüngliche Art der Übung des Einswerdens mit dem darzustellenden Charakter bzw. Göttern darstellt, die sich von dem komplexen Darstellungsmodus der indischen klassischen Tänze zunächst noch unterschied. 

    Interessant ist auch, daß es im Kathak eine Form der "gats" gibt, in der der Tänzer aus den "paltas" heraus in einer Tanzfigur innehält, die für die abstrakte Tanzform charakteristisch ist (Abbildung 3), und in der möglicherweise der erste Schritt der Abstraktion von Tanz im Kathak überhaupt vollzogen wurde. Von Kapila Vatsayan wird diese kathaktypische Haltung als Abstraktion einer Tanzfigur, die Krishna kennzeichnet, interpretiert (41). Aus dem hier auftauchenden geschlossenen, schamanistischen Prinzip haben sich möglicherweise auch Armbewegungen, vor allem aber das für den abstrakten Tanz des Kathak so charakteristische Phänomen der Kulmination von Bewegungskombinationen im "sam" entwickelt. 

    "Gats" des Kathak und Tangos: Ein Zusammenhang?

    In den Tangos des Flamenco gibt es Anzeichen, daß die "gats" unter den Calé bekannt waren. So ergibt die vergleichsweise einfache, aber spezifische Struktur der Schrittfolgen der "gats" nicht nur den besonderen Rhythmus der Tangos, sondern ihre "chal" genannten Schrittfolgen haben auch verblüffende Ähnlichkeit mit Basisschritten der Tangos. Insbesondere in den remates der Tangos, wie beispielsweise Manolo Marin sie zeigt, und in einleitenden Sequenzen der "gats", wie Birju Maharaj sie lehrt, gibt es darüber hinaus eine erstaunliche Übereinstimmung in den Bewegungskombinationen aus Drehung, Oberkörperverdrehung und imaginär duch die Luft gezogener Armführung.

    Übereinstimmungen der Armbewegungen und Tanzfiguren im Kathak und Flamenco

    Sowohl im Flamenco als auch im Kathak muß möglicherweise unterschieden werden zwischen den heftigeren Verdrehungen des Oberkörpers und der eleganten Seitwärtsbeugung des Oberkörpers, die m.E. wie die halbrunde Armführung (Abbildung 4) / (Abbildung 2) in beiden Tanzstilen auf den Einfluß von Kastagnetten- bzw. Klapperntänzen zurückzuführen ist. Diese haben ihren Ursprung in der ägyptischen Kultur. Sie gelangten nach Andalusien, wo sie seit der Antike bestimmende Tanzform wurden (42); über Griechenland kamen sie nach Persien (43) sowie an die nordindischen Mogul-Höfe, deren islamische, ursprünglich mongolische Herrscher persische Hofkultur pflegten. Zwar ist die halbrunde Armführung auch eine indische Tanzerscheinung, es ist jedoch auffällig, daß sie nur in einer der beiden Hauptschulen des Kathak, der Lucknow-Schule, deutlich hervortritt. Nicht nur die Abschlußfiguren des Lucknow-Stils erinnern an jene andalusischen Tänze, auch die im persischen Hofmilieu entstandenen "amads" (persisch: "Ankunft") des Kathak sind in der Lucknow-Schule von dieser Armführung und eleganten Oberkörperneigung geprägt.

    Auch die im Kathak häufig erscheinende Technik des Umeinanderwickelns der Handgelenke, die möglicherweise eine Abstrahierung einer Begrüßungsgeste darstellt, taucht im Flamenco wieder auf, auch hier häufig im Zusammenhang mit den llamadas und remates.

    Die für Kathak charakteristische Körperhaltung, in der ein Arm leicht angerundet bzw. abgewinkelt über dem Kopf, der andere horizontal gehalten wird (Abbildung 3) , taucht bereits in alten Illustrationen (44), die mit Kathak in Zusammenhang stehen, in derart abgewandelter Form auf, daß sie die typische Flamenco-Haltung ergibt, die meist am Schluß der llamadas steht. Insbesondere die Geste der "Nautch-Tänzerin" (Abbildung 5) ist interessant, da sich hier eine Vereinfachung dieser abstrakten Tanzhaltung zu zeigen scheint. Diese Tänzerinnen waren in Folge der fatalen Kolonialisierungspolitik der Engländer ins gesellschaftliche Abseits gedrängt worden und pflegten Kathak nicht mehr in reiner Form (45). Möglicherweise zeigt sich hier eine modifizierte Geste der Kathakfigur, die sich auch in einer alten Illustration der Musiker-und Tänzergemeinschaft der "bhands" (Abbildung 6) andeutet.

    Schlußbetrachtung

    Es scheint deutlich geworden zu sein, daß Phänomene indischer Tanztradition im Flamenco sehr viel näher präzisiert werden können, als bisher vermutet. Dabei ist interessant, daß sich insbesondere Phänomene zeigen, die auch an der Entstehung und Ausformung der klassischen Tanzform Nordindiens - dem Kathak - beteiligt waren. So finden sich im Flamenco Tanzelemente der indischen Klassik, die eng mit dem frühen Ursprung des Kathak - eine erzählerische Tanzform - in Zusammenhang stehen. Diesen klassischen Elementen stehen archaische, spezifische Bewegungskombinationen gegenüber, die auf den Schamanismus im asiatischen Raum verweisen. Sie wurden im Kathak zu klassischer Form stilisiert. Im Flamenco behielten sie dagegen ihre archaischere Form. 

    Iris Brikey, Tänzerin, Schule für Flamenco und Kathak in Braunschweig, begann ihr Studium im indischen klassischen Tanz 1981 in Indien, später u.a. ausgebildet am Bhatkhande College for Music and Dance in Lucknow/ Indien bei Prof. Purnima Pande, seit 1988 tänzerische Weiterbildung im Flamenco. Workshops u.a. bei Amparo de Triana und Manolo Marin. Kontakt: www.Flamenco-Kathak.de

    Anmerkungen / weiterführende Literatur:

    1) siehe auch Rezensionen MICHAEL D. REINHARD (Hrsg.), "Mitteilungen zur Zigeunerkunde", Mainz 1975, Heft 1

    2) A.M.DAUER, "Südwest Europa - Andalusien-Flamenco gitano", Begleitheft zum gleichnamigen Film, Göttingen 1971, Institut für wissenschaftlichen Film

    3) JOSÉ BLAS VEGA/ MANUEL RIOS RUIZ (Hrsg.), "Diccionario Enciclopedico Ilustrado del Flamenco", Madrid 1988, Band 1, S.273ff.

    4) Ebenda, Band 2, S.552

    5) Ebenda, Band 1, S. 71

    6) CURT SACHS, "Eine Weltgeschichte des Tanzes", Berlin 1933

    7) ALAIN GOBIN, "Le flamenco", Paris 1975, S.61ff. / FRANCOISE GRÜND, "Des danses de l`Inde du Nord au flamenco- Un surprenant cousinage", in "Danser", Paris 1991 / NIGEL ALLENBY JAFFÉ, "Folk Dance of Europe", S. 314 ff. / MIRIAM S: PHILLIPS, „A Shared Technique / Shared Roots? A Comparison of Kathak and Flamenco Dance History“, U.S.A. 1991. Miriam S. Phillips gibt einen relaiv komplexen Überblick über den Kontext beider Tanzstile und die Thesen zu deren Beziehung.. An ihrem eigenen Ansatz scheitert sie u.a. daran, daß sie von einer Verwandtschaft der europäischen mit den indischen „gypsies“ ausgeht. Von Sprachwissenschaftlern wird dies als unwahrscheinlich eingestuft (W.R.RISHI, „Multilingual Romani Dictionary“, New Delhi 1974, S. III). 

    8) FUNDACIÓN ANDALUZA de FLAMENCO (Hrsg.), "Dos Siglos de Flamenco- Actas de la Conferencia Internacional Jerez 21-25 Junio 88", Jerez 1989,S.313

    9) CURT SACHS, a.a.O., S.123ff.

    10) JOSÉ BLAS VEGA / MANUEL RIOS RUIZ (Hrsg.), a.a.O., Band 2, S..709. Häufig wird darauf hingewiesen, daß indisch-persische Elemente schon vor Ankunft der Calé Teil der andalusischen Musikkultur waren. Die arabische Besetzung Andalusiens hatte im 9. Jahrhundert zu einer zweiten Hochblüte arabischer Klassik in der Musik geführt. Zyriab, ein berühmter Hofmusiker und Theoretiker, wird in diesem Zusammenhang oft als Übermittler persisch-indischen Musikeinflusses aufgeführt (ebenda, Band 2, S. 552). Als Schüler des Ishaq al -Mausili, war er jedoch ein Vertreter der altarabischen Schule, der es immer um die Ausgrenzung persischer Elemente und um die Reinerhaltung der arabischen Musik ging (HABIB HASSAN TOUMA, " Die Musik der Araber", Wilhelmshaven, 1975, S. 20-23, S. 86 ff.). 

    11) FUNDACIÓN ANDALUZA de FLAMENCO (Hrsg.), a.a.O., S.254

    12) JOSÉ BLAS VEGA/ MANUEL RIOS RUIZ (Hrsg.), a.a.O., Band 2, S. 702

    13) PROJESH BANERJI, "Dance in Thumri", New Delhi 1986, S.3ff.

    14) SHER SINGH SHER, "The Sansis of Punjab- A Gypsy and denotified tribe of Rajput Origin", Delhi 1965, S. 177. Sher Singh Sher vertritt die These, daß die „sansis“ Nachfahren der Rajputen, einer hohen Kriegerkaste, sind. In diesem Zusammenhang ist auf W.R.Rishi hinzuweisen, der heraushebt, daß sich der Begriff „gypsy“ in Indien ausschließlich auf ein Wanderdasein bezieht und zunächst keine sprachliche oder kulturelle Beziehung zu den europäischen Roma andeutet (W.R..RISHI, „Dances of the Roma“, in „Roma“,.Chandigarh 1987, Nr. 27, S.6). 

    15) HELMUT von GLASENAPP, "Indische Geisteswelt", Wiesbaden, Band 1, S. 22 / ALEC ROBERTSON/ DENIS STEVENS (Hrsg.), "Geschichte der Musik- Hochkulturen des Ostens- Altertum -Mittelalter", München 1990

    16) PAUL THIEME,"Gedichte aus dem Rig-Veda", Stuttgart 1977, S.3-12

    17) JOSÉ BLAS VEGA/ MANUEL RIOS RUIZ (Hrsg.), a.a.O., Band 1, S.143f., S.16 

    18) "duende"- vielleicht am ehesten als urwüchsige Transzendenz-Erfahrung zu umschreiben

    19) MANMOHAN GOSH, "Abhinaya Darpana of Abhinavagupta", Calcutta 1957, S. 18

    20) JOSÉ BLAS VEGA/ MANUEL RIOS RUIZ (Hrsg.), a.a.O., Band 1, S.70

    21) zur Komplexität des Themas siehe auch PROJESH BANERJI, "Basic Concepts of Indian Dance", Varanasi/Delhi 1984, S.83-100

    22) zum Begriff "Abhinaya" siehe SUNIL KOTHARI," Kathak - Indian Classical Dance Art", New Delhi 1989, S.7 / EBERHARD REBLING, "Die Tanzkunst Indiens", Berlin 1981, S.37

    23) JOSÉ BLAS VEGA/ MANUEL RIOS RUIZ (Hrsg.), a.a.O., Band 1, S. 334/ Band 2, S.812

    24) BALINT SÁROSI, "Zigeunermusik", Budapest 1977, S.24

    25) SUSHEELA MISHRA; "Musical Heritage of Lucknow", New Delhi 1991, S.1ff.

    26) SUNIL KOTHARI, a.a.O., S.1,14f.

    27) SUNIL KOTHARI, a.a.O.

    28) FUNDACIÓN ANDALUZA de FLAMENCO (Hrsg.), a.a.O., S.268

    29) "Technical Terms pertaining to Dance in general and used in Kathak", NIRMALA JOSHI in "Classical and Folk Dances of India", Marg Publications, Bombay 1963, Teil 3, S.8

    30) FABRIZIA BALDISSERA/ AXEL MICHAELS, "Der Indische Tanz", Köln 1988, S.145

    31) SUNIL KOTHARI, a.a.O., S.171

    32) Über die Rolle des Schamanismus in der vorarischen, indischen Urgesellschaft und seine Bedeutung für den indischen Tanz siehe EBERHARD REBLING, a.a.O., S. 57 

    33) Ebenda, S.57

    34) JOSÉ BLAS VEGA/ MANUEL RIOS RUIZ (Hrsg.), a.a.O., Band 2, S.814

    35) JOSÉ BLAS VEGA/ MANUEL RIOS RUIZ (Hrsg.), a.a.O., Band 2, S.765

    36) JEAN CAZENEUVE," Les Dances Sacrées", Paris 1963, S.290ff

    37) Ebenda 

    38) FRANCOISE GRÜND, a.a.O.

    39) GLORIA B STRAUSS, "The Art of the Sleeve in Chinese Dance" in "Dance Perspectives", New York 1975, No 63

    40) FRANCOISE GRÜND, a.a.O.

    41) KAPILA VATSAYAN, "Indian Classical Dance", New Delhi 1992, S.89

    42) FRITZ WEEGE, "Der Tanz in der Antike", Halle/ Saale 1926; Tübingen 1976

    43) Siehe auch M.REZVANI, "Le Théatre et la Dance en Iran", Paris 1962, S.150-153

    44) Zeichnungen nach Abbildungen aus SUNIL KOTHARI, a.a.O.

    45) Siehe auch "Nautch-Girls" von BAIJNATH in "Classical and Folk Dances of India", Marg. Publications, Bombay 1963, Teil 3, S.19f.

    Update: 26.03.2001


    © SK Stiftung Kultur - Deutsches Tanzarchiv Köln

  • Nr. 8: Buchrezension / Book review

    TANZWISSENSCHAFT 8

    Frank-Manuel Peter:
    Buchrezension / Book review

    Abstracts
    A thousand pages of letters from the dancer Edith von Schrenck (1891-1971) to the poet Waldemar Bonsels, renowned as the author of "Biene Maja" (Bee Maya), recently have been made available for research and, at long last, allow an insight into the life and work of this assuredly famous modern dancer in the Germany of the 1920s.

    Rund 1000 Blatt Briefe der Tänzerin Edith von Schrenck (1891-1971) an den als Autor der "Biene Maja" bekannten Dichter Waldemar Bonsels wurden kürzlich der Forschung zugänglich und geben endlich Einblick in Leben und Werk der in den 20er Jahren in Deutschland durchaus namhaften modernen Tänzerin. 

    Waldemar Bonsels und die Tänzerin Edith von Schrenck

    "Eine Künstlerin höchsten Ranges, die zu den Auserwählten des modernen Tanzes zählt, künstlerisch vornehm, von eigenartiger Ausdruckskraft und einer vollendeten Technik", hat John Schikowski einst im "Vorwärts" Edith von Schrenck beschrieben. "Es gibt in Deutschland nur ganz wenig Tänzerinnen, die den höchsten Anspruch des in Dingen des Stils und der Bedeutung geschulten Beschauers zu befriedigen vermögen, an erster Stelle steht heute zweifellos Edith von Schrenck", befand Waldemar Bonsels, der Autor der "Biene Maja". Heute ist der Name der so Hervorgehobenen allenfalls den über den künstlerischen Tanz der 20er Jahre Forschenden bekannt, und auch für diese waren bisher viel zu wenige Informationen zugänglich, als daß über Edith von Schrenck in den letzten Jahrzehnten auch nur ein Aufsatz erschienen wäre.

     Dieser Mißstand ist nun erfolgreich beendet. Etwa tausend Blatt Briefe und einige Postkarten von Edith von Schrenck sind aus dem Nachlaß von Waldemar Bonsels (bzw. dem seiner letzten Frau) der Monacensia-Abteilung der Münchner Stadtbibliothek übergeben worden, und Lini Hübsch-Pfleger hat sich für ihre Publikation der Mühe der Auswertung und weiterer Recherchen unterzogen. Edith von Schrenck (geb. 10.7.1891 in St. Petersburg, gest. 30.7.1971 in München) wurde nach ihrer Ausbildung zur Pianistin durch eine Schüleraufführung von Jaques-Dalcroze zu einem zweijährigen Studium in Hellerau angeregt und unterrichtete anschließend nach seiner Methode in St. Petersburg. Während der russischen Revolution emigrierte sie nach Deutschland, um nach etwa einem Jahr eigener Studien in den Münchener Kammerspielen als Tänzerin zu debütieren. Bereits am Anfang ihrer Karriere und Gastspieltätigkeit begegnete sie im Mai 1919 in Frankfurt am Main Waldemar Bonsels, und eine lebenslange enge Bindung nahm ihren Anfang.

    Lini Hübsch-Pfleger, promovierte Musikwissenschaftlerin und immerhin Jahrgang 1911, hat sich der verdienstvollen Aufgabe gewidmet, für das Buch alles zum Thema "Waldemar Bonsels und die Tänzerin Edith von Schrenck" zusammenzutragen und ihre Ergebnisse mit etlichen Dokumenten auf 165 Seiten vorzustellen. Wenn auch der neugierige, an die üblichen Biographien gewöhnte Leser allzu intime Einblicke in die Liebesbeziehung der beiden Künstler (beide hatten einen gemeinsamen Sohn, der im Zweiten Weltkrieg fiel) vermissen wird, so ist doch dieser das klar definierte Thema beinahe erschöpfenden Publikation nur wenig hinzuzufügen. Eine Kleinigkeit vielleicht: Sind in den Dokumenten zwar Tag und Monat genannt, fehlen jedoch die Jahreszahlen, so können diese zumindest bei Vorhandensein des Wochentages gut eingegrenzt werden: Der Programmzettel vom Montag, den 29.10. wird von 1928 (oder 1934) sein, der vom Sonntag, den 15.10. muß aus den Jahren 1922 oder 1933 stammen, und für den Zettel vom Sonntag, den 19.10. bieten sich die Jahre 1924 und 1930 an. Im Computerzeitalter sind solche Kalenderüberblicke in Taschenrechnern, Videogeräten usw. leichter recherchierbar als in früheren, gedruckten "immerwährenden Kalendern".

    Dann wäre da noch der "dänische Sänger und Komponist Bergh", von welchem die Verfasserin keinen Vornamen angibt, aber zu berichten weiß, daß Edith von Schrenck einen Titel "Erde" von ihm vertanzte und gemeinsam mit ihm Anfang der 30er Jahre ein Opern- und Tanzstudio gründen wollte. Vermutlich handelt es sich hier um zwei verschiedene Personen (evtl. Vater und Sohn?). Der dänische Komponist Rudolph Bergh, 1859 in Kopenhagen geboren, seit 1903 in Berlin lebend, verstarb bereits 1924. Neben einem Schauspieler Georg Bergh nennen die Bühnenjahrbücher für 1932/33 aber auch einen Erwin Bergh als Gesangsberater der Deutschen Musikbühne (Wanderoper) in Berlin. Vielleicht ist es dieser, den Edith von Schrenck persönlich kannte.

    Und noch eine - tanzgeschichtlich wesentlich bedeutsamere - Kleinigkeit: Das Register gibt hinter Delsarte den Zusatz "(Delsarte-Issatschenko)", was darauf hinweist, daß die Verfasserin die Zusammenführung dieser beiden Namen nicht verstanden hat. Der Doppelname taucht nur in einem Prospektblatt der Berliner Tanzschule von Edith von Schrenck (um 1930) auf: "Meine Erziehung des Berufsschülers zum Tanz stützt sich zunächst auf die beiden grundlegenden Richtungen von Delsarte und Dalcroze. Beide Systeme haben zur Basis den Rhythmus, erstere den rein körperlichen, jedem Menschen innewohnenden, das zweite den Rhythmus in der Musik. Um das System von Delsarte-Issatschenko kurz zu charakterisieren ist vor allem die alte, und doch heute vergessene Erkenntnis zu nennen (Delsarte war Franzose und lebte um die Mitte des vorigen Jahrhunderts): Der menschliche Körper trägt dieselben Bewegungsgesetze in sich wie alle lebendigen Gebilde der Natur." (S. 19f.) Schon dieses Zitat macht deutlich, daß Edith von Schrenck einerseits von Delsarte als Person spricht, andererseits vom System Delsarte-Issatschenko, also offensichtlich von einer Weiterbearbeitung der Delsarte'schen Ideen. Wer war nun Issatschenko?

    Auch die Antwort darauf findet sich eigentlich im Buch (S. 146), in einem kurzen Lebenslauf der Tänzerin vom März 1922. Dort heißt es: "[...] um mich dann in Petersburg als Pianistin ausbilden zu lassen. Doch, durch eine Schüleraufführung von Jaques-Dalcroze angeregt, ging ich nach Hellerau, wo ich in zwei Jahren den Kursus beendete und dann die Methode eine Zeitlang in Petersburg unterrichtete. Hier lernte ich eine Schauspielerin kennen, die durch die Unzulänglichkeit der heutigen Schauspielkunst auf den Gedanken gekommen war, den Körper ganz anders als bisher zu einem Ausdrucksmittel machen zu wollen. Mir, der gerade an dieser Seite der Hellerauer Methode am meisten lag, kam diese Begegnung sehr gelegen, und wir arbeiteten zusammen, jede das Problem von ihrer Seite anfassend." Jene Schauspielerin war Claudia Issatschenko, 1883 als Tochter des Barons von Ekhofen in Moskau geboren, die bei Stanislawski gelernt und gespielt hatte, 1907 nach Petersburg wechselte und mit Meyerhold arbeitete, um ab 1910 dort in eigener Schule moderne Bewegungslehren zu unterrichten. 1922 war sie in Deutschland eine Unbekannte und wurde von Edith von Schrenck im Lebenslauf namentlich nicht genannt; 1930 war sie nach Berlin gezogen, wo ihre späterhin berühmte Tochter Tatjana Gsovsky lebte und unterrichtete, und machte mit ihrem "Claudia-Issatschenko-Ballett" Tourneen, weswegen Edith von Schrenck den Delsarte-Anteil ihrer eigenen Berliner Schule als "System Delsarte-Issatschenko" auswies. Inwieweit nicht nur Claudia Issatschenko (mit Delsarte-Stanislawski-Meyerhold), sondern vielleicht auch Edith von Schrenck (mit Dalcroze) die Ausbildung und den künstlerischen Weg Tatjana Issatschenkos beeinflußt hat, wird die Tanzforschung gewiß in Kürze in der Dissertation von Michael Heuermann über Tatjana Gsovsky herausfinden.

    Das Buch von Lini Hübsch-Pfleger ist als Band 9 der noch von Rose-Marie Bonsels (auch sie eine Tänzerin) begründeten Ambacher Schriften erschienen. Der hohe Verkaufspreis von 98,- DM läßt eine sehr kleine Auflage vermuten; Edith von Schrenck ist für heutige Buchkäufer eine Unbekannte, muß ersteinmal wiederentdeckt werden. Es gibt gar keinen Zweifel daran, daß ohne das persönliche Engagement der Autorin für diese Tänzerin keine derartige Publikation entstanden wäre, und man kann den Band nur dringlichst der Aufmerksamkeit der zuständigen Bibliotheken empfehlen, um für ihn die ihm zustehende weite Verbreitung zu erhoffen.

    Lini Hübsch-Pfleger: Waldemar Bonsels und die Tänzerin Edith von Schrenck. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 1997 VI, 165 Seiten, Abbildungen, ISBN 3-447-03983-3, br., DM 98,00


    © SK Stiftung Kultur 1997 - 2018 Deutsches Tanzarchiv Köln

  • Nr. 9: Das Jahrbuch Tanzforschung, Band 11

    TANZWISSENSCHAFT 9

    Frank-Manuel Peter:
    Keine Buchrezension / No book review

    Das Jahrbuch Tanzforschung, Band 11

    „Tanzen im eigenen Saft“ haben die Herausgeberinnen ihre Einleitung überschrieben, und damit ist nicht die Gesellschaft für Tanzforschung e.V. gemeint. Worum es dem jährlichen Sammelband diesmal geht, wird vielleicht am besten aus den Titeln der einzelnen Beiträge deutlich:

    Identität – Bewegung – Tanz. Theoretische Reflexionen zum Begriff der Identität (Katharina Liebsch). 

    Körper und Identität. Vorüberlegungen zu einer Phänomenologie des eigensinnigen Körpers (Annette Barkhaus).

    Mimesis des Tanzes. Ekstase und mythische Identifikation (Regine Mattheis).

    Tanz im Kontext (Martin Rudolf Vogel).

    Plädoyer für die Tanzgeschichte. Identitätsproblematiken einer Wissenschaftsdisziplin (Marion Kant).

    Rudolf von Laban. Tänzerische Identität im Spannungsfeld von Kunst, Wissenschaft und Politik (Evelyn Dörr).

    Palucca. Künstlerische Identität in politischen Systemen (Katja Erdmann-Rajski).

    Tanz der Geschlechter? Zur De/Konstruktion von Androgynie im Ballett (Annette Runte).

    Zeitgenössische Choreografinnen. Biografische Analysen (Martina Peter-Bolaender).

    Blind date – Der Tanz und sein Publikum (Christina-Maria Purkert).

    Fremde Tanzformen und vertraute Bewegungen. Identitätsfindung in der interkulturellen Bewegungserziehung (Carmen Cabrera-Rivas).

    Der Körper als Zugang subjektorientierten Lernens (Antje Klinge).
     

    Jeder der Texte hätte eine eigene Rezension verdient, und da dies hier nicht zu leisten ist (und auch deshalb, weil das Deutsche Tanzarchiv Köln ja Mitveranstalter des zugrundeliegenden Symposiums auf der Essener Tanzmesse war), soll an dieser Stelle nur auf das Erscheinen des preiswerten neuen Bandes in der für die letztlich doch junge Disziplin so wichtigen Reihe hingewiesen werden. Auf dem Einbanddeckel grüßt symptomatisch Valeska Gert in ihrer japanischen Groteske von 1917, mit wissenschaftlicher Akribie in ihre Einzelteile zerlegt, in sauberen Rechtecken gestapelt, gespiegelt, verdoppelt, vergrößert und in neuer Sichtweise zusammengesetzt mit genügend Freiräumen für eigene Interpretationen, aber auch nicht ganz vollständig. Man erfährt auf der Rückseite des Titelblattes, daß das Cover von AnnA Stein stammt und die Bildbearbeitung Dirk Dennhoven bewältigte. Hinter dem Wort „Fotonachweis“ steht der Name der Tänzerin, der Titel ihres Tanzes und das Jahr. Aus welchem Buch oder Archiv die Vorlage des Fotos stammt, ist ja vielleicht auch nicht so wichtig.
     

    Sabine Karoß / Leonore Welzin (Hg.):
    Tanz Politik Identität
    Jahrbuch Tanzforschung Bd. 11
    Münster, Hamburg, London 2001
    272 S., br., 39,80 DM
    ISBN 3-8258-5119-2


    © SK Stiftung Kultur 2001 - 2018 Deutsches Tanzarchiv Köln

  • Nr. 10: 100 Jahre Tanzpädagogik an der Odenwaldschule

  • Nr. 11: Die Frau im Licht: Valeska Gert.

  • Nr. 12: Das tanzpädagogische Konzept von Sigurd Leeder

  • Nr. 13: Labans Bewegungschöre im Zeichen der Nationalsozialisten

  • Nr. 14: Die Tanzgastspiele in Oldenburg (Vereinigung für junge Kunst)

    Hier geht es zum Text (zuerst erschienen im Oldenburger Jahrbuch 117.2017).

  • Nr. 15: Puck, Punk oder Pausenclown?