Der Kurator Thomas Thorausch über die Ausstellung 

Ein Ausstellungtitel soll in erster Linie neugierig machen.  Ja, und irritieren darf er durchaus auch schon mal… Es lag auf der Hand, eine Zuschreibung aufzugreifen, die ein jeder schon einmal gehört hat: den Kritikerpapst. Aber – und das ist, wenn Sie so wollen, der erste Stolperstein für den Leser resp. Besucher - nun handelt es sich dabei ja um eine ausgestorbene Spezies, die es heute nicht mehr gibt. Über das Warum wird zu reden sein…

Thomas Thorausch, Stellv. Leiter des Deutschen Tanzarchiv Köln, Foto: Bettina Stöß

Auf der anderen Seite – und auch das wissen wir im Grunde doch alle – schreibt und urteilt ja keiner berufsmäßig über Tanz, wenn er diese Kunstform nicht im Grunde seines Herzens über alles liebt. Und mehr denn je sind heute Liebe und Leidenschaft gefragt, wenn man sich als Journalist der kritischen Betrachtung von Tanz verschreibt. Und vielleicht auch eine gewisse Leidensfähigkeit – wenn man auf die geringe Bezahlung von Tanzjournalisten blickt. Auch darüber wird zu reden sein…

Keine Ausstellung entsteht über Nacht, ebenso wenig die Idee dazu… Den Gedanken, eine Ausstellung im Tanzmuseum des Deutschen Tanzarchivs Köln einmal dem Thema „Tanzkritik“ zu widmen, trage ich schon seit langem mit mir herum. 

Das Tanzmuseum, also der Ausstellungsbereich des Deutschen Tanzarchivs Köln, ist ja als „Schaufenster des Archivs“ konzipiert. Angesichts des Umstands, dass sich in fast jedem der inzwischen über 500 Nachlässe des Archivs ein sorgsam gepflegtes Kritikenalbum findet, werden Sie als Tanzarchivar ja sozusagen „mit der Nase darauf gestoßen“, welche Bedeutung Kritiken für Tanzkünstler haben. Selbst noch in der Erinnerung…

Über 20 Nachlässe und Sammlungsbestände von Vertretern der „kritischen Zunft“ finden sich im Archiv. Dazu zählen „Kritikerpäpste“ wie Horst Koegler ebenso wie „Publizisten“ wie Max Niehaus, „Tanzwissenschaftler“ wie Fritz Böhme ebenso wie die „Feuilletonistin“ Leonie Dotzler, eine der wenigen weiblichen Vertreterinnen der Kritikerzunft in den 1920er Jahren. Nicht vergessen sei in dieser Reihe Kurt Peters, der Herausgeber des Fachmagazins „Das Tanzarchiv“ und Begründer des Deutschen Tanzarchivs Köln…  

Und dann ist da natürlich meine Begeisterung für die Medien Zeitung und Rundfunk. Wenn wir heute bedauernd konstatieren, dass die Tanzkritik immer mehr an Bedeutung verliert, dann hat dieser Niedergang natürlich auch mit den massiven Veränderungen in der Presse- und Medienlandschaft zu tun. In dieser Situation die Tanzkritik zum Thema einer Ausstellung zu machen, bedeutet für mich auch, Partei  für ein aus meiner Sicht unverzichtbares journalistisches Genre zu ergreifen.
 

Rolf Hiller und Mitglieder der Tanzgruppe „Hiller-Girls“ bei Studium der neuesten Tanzkritiken, Courtesy: Deutsches Tanzarchiv Köln

Wir sind es gewöhnt, den Wert einer Ausstellung an den Dingen zu messen, die man noch nie gesehen hat. Bei dieser Ausstellung, die eine Zeitspanne vom 18. Jahrhundert bis in die 1990er Jahre umfasst, ist es anders… hier ist es die Montage gegensätzlicher Perspektiven aus der sich für den Besucher der Wert dieser Ausstellung ergibt. Und aus den „Trouvaillen“ am Rande: der Definition des „Kunstrichters“  aus der „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste“ von Johann George Sulzer aus dem Jahr 1775, den Zeugnissen des „Kölner Kritikerkriegs“ um die Person und das Werk des Choreographen Aurel von Milloss in den 1960er Jahren oder den wunderbar reflektierten Aussagen zeitgenössischer Theater- und Tanzkritiker zur Funktion der Kritik in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift „Der Scheinwerfer“ des Jahres 1928. 

Können sich Kritiker überhaupt irren? Ich denke nein! Eine kritische Betrachtung erfolgt doch immer aus der Persönlichkeit und aus der Zeit heraus. Beides lässt sich in Kritiken erkennen, aus Kritiken herauslesen. Gerade dies macht ja Tanzkritiken zu wichtigen Quellen der Tanz- und Zeitgeschichte. Der Philosoph Ludwig Marcuse hat einmal davon gesprochen, dass es soviele Arten der Kritik gibt, wie es Arten der Welterfassung gibt.

Vielleicht ist „irren“ in diesem Zusammenhang einfach das falsche Wort. Denn es impliziert ja die Forderung nach hellseherischen Fähigkeiten. Ein Tanzkritiker, eine Tanzkritikerin ist aber qua Aufgabe weder Hellseher noch Scharfrichter, weder Prophet noch Trüffelschwein. Sondern in erster Linie Journalist/Journalistin. Schreiben über das, was man sieht! Ich habe bislang noch keinen Kritiker, keine Kritikerin getroffen, die eine einmal gemachte und in Folge verfasste Beobachtung in Abrede gestellt hat. Das bedeutet aber nicht, dass aus anfänglicher Ablehnung nicht Anerkennung und Respekt erwachsen können. Nicht umsonst hat zum Beispiel der Kritiker Horst Koegler den Fotografen Gert Weigelt Mitte der 1970er Jahre ausdrücklich auf die junge Choreographin Pina Bausch hingewiesen und ihm empfohlen, sich ihre Arbeiten unbedingt anzusehen. 

Heißt de fakto erstmal: Welche Bedeutung hat eine Tanzkritik für den Tanzkünstler…? Das müsste man eigentlich einen Künstler fragen. Wird man ein Antwort bekommen? Wahrscheinlich eine Vielzahl, ganz unterschiedlicher Art: von der kategorischen Ablehnung („Kritiken lese ich nie!“) bis hin zum entschieden „Ja, natürlich!“ und der werbewirksamen Publikation von Zitaten von Kritikern im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit. Ich bin aber auch schon von einem Choreographen gefragt worden, warum wir diesen „Mist“ überhaupt archivieren.

Ich glaube ja, dass eine veröffentlichte Kritik sich als Medium in erster Linie an den Leser, den Hörer, also das Publikum richtet. Sie ist immer auch eine Art offene Einladung zum „Gespräch“ über den Gegenstand ihrer kritischen Betrachtung. Im Idealfall ist es so wie es Fritz Engel, Theaterkritiker des Berliner Tageblatts 1928 formuliert hat: „Kritik ist kein Selbstportrait. Kritik ist keine Guillotine. Kritik ist kein Reklame-Scheinwerfer. Kritik ist eine Waage.“ Und ich erlaube mir aus Sicht eines leidenschaftlichen Kritikenlesers hinzuzufügen: Kritik kann durchaus auch eine Brücke sein.    
 

Aber natürlich! Wenn Sie überlegen, dass die Zeitungsdichte in Deutschland nie größer war als in den 1920er Jahren, dann können Sie sich vorstellen, wie vielfältig die veröffentlichte Tanzkritik in dieser Zeit war. Aber natürlich müssen Sie auch berücksichtigen, dass dies damals ja kaum ein Zeitungsleser in ganzer Fülle genießen konnte. Denn wer konnte es sich schon leisten, mehr als eine Tageszeitung zu halten. Und wer sah schon einen Nutzen darin? 

Foto: Janet Sinica, 2019

Die Vielzahl der Redaktionen, die Fülle der Publikationsmöglichkeiten bot aber natürlich den Journalisten die Möglichkeit Ihren eigenen Stil in der kritischen Betrachtung von Tanz zu entwickeln. Anders als heute! Über die Jahre hinweg ist die Zahl der Tanzkritiken, die zu einer Aufführung erscheinen, immer kleiner geworden. Ebenso die Zahl der Kritiker, die über diese Aufführung schreiben. Was heute die Pressespiegel der Compagnien füllt, sind eine Vielzahl von Kurzmeldungen, Vorankündigungen etc. etc., wobei ein Großteil inzwischen aus Internet-Portalen stammt. Und wenn Sie in den Texten nur allzuoft  die Pressetexte der Compagnien wiedererkennen, dann haben Sie durchaus richtig gelesen.
Das Deutsche Tanzarchiv Köln ist das einzige Tanzarchiv, dass mittels eines Zeitungsausschnitts-dienstes seit den 1950er Jahren die Presseberichterstattung über Tanz in Deutschland dokumentiert. An unserem Archivbestand mit 600.000 Ausschnitten lässt sich eine Entwicklung nur leider allzu deutlich ablesen: der Tanzjournalismus ist ebenso wie die Printmedien auf dem Rückzug.
 

Nichts wäre nun einfacher als wortreich das Ende der Tanzkritik zu beklagen. Das hieße aber hoffnungsvolle Entwicklungen, wie zum Beispiel Internet-Initiativen wie tanznetz.de – Das Tanzmagazin im Internet und tanzweb.org – Tanzfilme und Tanzkritiken aus NRW oder den Verein „tanz.media“ nicht zur Kenntnis zu nehmen. Daher haben wir uns entschlossen, im Rahmenprogramm zur Ausstellung alle zwei Monate unter dem Titel „Sprechen wir über…“ Aspekte der aktuellen journalistischen Berichterstattung über Tanz zu thematisieren und zu diskutieren. Zur Finissage der Ausstellung am 26. Januar 2020 wollen wir dann über das Ende der Tanzkritik sprechen. Und natürlich hoffe ich auf vehementen Widerspruch!