Prolog: Der Tanz der Zukunft

Den Startschuss zur Revolution des Tanzes in Deutschland gibt eine Amerikanerin – Isadora Duncan. Doch im Jahr 1903 hätte wohl niemand gedacht, dass diese Tänzerin und das von ihr verfasste schmale Bändchen mit dem Titel „Der Tanz der Zukunft“ die Tanzkunst derart verändern und die Welt des Balletts und der Tutus und Spitzenschuhe mit einem Mal nahezu vergessen machen würden. Der tanzkünstlerische Aufbruch kam indes nicht ganz unerwartet, war er doch Teil eines gesamtgesellschaftlichen Umwälzungsprozesses des beginnenden 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund einer rasenden Industrialisierung und dem raschen Wachsen der Städte und ihrer Bevölkerungszahl wuchs auch der Wunsch der Menschen nach gesellschaftlich-künstlerischen Utopien.
 


Isadora Duncan: Der Tanz der Zukunft 1903, Titelblatt

Der moderne Tanz der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts war von Choreographen und Tänzern geprägt, die jenseits des klassischen Balletts neue Ausdrucksformen suchten. Sie wussten sich einig mit Bildenden Künstlern, Schriftstellern, Regisseuren und Komponisten, die den ästhetischen wie gesellschaftlichen Reglementierungen des Obrigkeitsstaats entkommen wollten. Die neue Kunst suchte sich Refugien, in denen sie sich ungestört entwickeln konnte: Die Gartenstadt Hellerau bei Dresden und die Künstlerkolonie Monte Verità bei Ascona wurden Anziehungspunkte für Lebens-, Welt- und Kunstreformer aus aller Welt. Für sie war der Tanz auch Schlüssel zu einem neuen Menschenbild und damit zu einer neuen Gesellschaft. Und aus den Laboratorien des neuen Tanzes drang die Botschaft „Jeder Mensch ist ein Tänzer!“.
 

Der freie Tanz der 10er und 20er Jahre des neuen Jahrhunderts irritierte und faszinierte die Zeitgenossen gleichermaßen. Maler, Bildhauer und Literaten wurden zu seinen leidenschaftlichen Fürsprechern und Propagandisten. Der Bildhauer Auguste Rodin verteidigte gegen Anwürfe der Kritik den Tänzer Waslaw Nijinsky und eine nie zuvor erlebte männliche Erotik auf der Tanzbühne. Maler wie Ernst Ludwig Kirchner und Emil Nolde ließen sich inspirieren von der Tanzkunst einer Mary Wigman oder Gret Palucca. Rainer Maria Rilke und andere Dichter setzten dem neuen Tanz literarische Denkmäler. Der Tanz entfachte einen vielstimmigen Chor der Künste, getragen von dem Gefühl einer Wesensverwandtschaft seiner Protagonisten.


Mary Wigman tanzt "Spukhafte Gestalt (Vision III)" gezeichnet von Max Lacher, um 1925

Eingebunden in die kulturelle Vielfalt der 1920er Jahre erreichte der Tanz eine nie zuvor gekannte Popularität. Dabei gab der Tanz alles andere als ein einheitliches Bild ab. Eine Vielzahl von Tänzerpersönlichkeiten und Tanzstilen konzentrierte sich in den großen Städten - Berlin, Dresden, Hamburg und Essen – und buhlte Abend für Abend erfolgreich um die Aufmerksamkeit von Zuschauern und Kritikern. Und die Suche nach neuen Formen und Definitionen des Tanzes ging weiter – auf der Bühne wie auch jenseits davon: in Diskussionen, Tanz-Kongressen, Tagungen und Vorträgen. Mal sollte der Tanz – wie bei Mary Wigman – Ausdruck des subjektiven Weltverständnisses jedes Einzelnen und darin Ausdruck der Zeit sein, mal – wie bei Kurt Jooss Kunstwerk, frei von jeglichem ideologischen Ballast oder – wie bei Rudolf von Laban – Magie der Bewegung, die das Reich der Schönheit und Harmonie erschließt. Doch welcher stilistischen und weltanschaulichen Richtung man als Tänzer und Choreograph in jener Zeit auch angehörte: Tanz war immer „gelebte Utopie“.

Die in Folge der wirtschaftlichen Krise wachsenden gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen fanden nur vereinzelt – wie bei der Tanzgruppe Hans Weidt oder der Tänzerin Jo Mihaly – ihren Widerhall auf der Tanzbühne. Die ausschließliche Konzentration auf das eigene künstlerische Schaffen und der enge Blick auf das individuelle Erleben im Tanz verstellte Tänzern und Choreographen oft den Blick auf die Realität der Gegenwart. Ausgerechnet einer der wenigen politisch bewussten Choreographen führte den neuen deutschen Tanz zu seinem größten Erfolg. 1932 kreierte Kurt Jooss mit „Der Grüne Tisch“ einen gesellschaftskritischen, modernen Totentanz, in dem er Ursachen und Auswirkungen des Krieges zum Thema machte. Kurt Jooss gewann damit den ersten internationalen Choreographiewettbewerb in Paris. Die bereitwillige Vereinnahmung des überwiegenden Teils der deutschen Tänzerschaft nach 1933 in das gesellschaftspolitische System des Nationalsozialismus konnte auch diese internationale Anerkennung nicht verhindern. 
 


Rhythmische Demonstration in Hellerau 1912

Nach dem 2. Weltkrieg erinnert man sich in Deutschland nur ungern an diese frühe Ära des modernen Tanzes. Die Strahlkraft der Utopien der 1920er Jahre ist nach der Zeit des Nationalsozialismus und dem 2. Weltkrieg verblasst, die Ästhetik dieser Form des modernen Tanzes erscheint nicht mehr zeitgemäß. Noch konnte und wollte man sich nicht vorstellen, dass rund 35 Jahre später eine junge Generation von Tänzern, Choreographen und Wissenschaftlern dieses Kapitel der Tanzmoderne wieder neu entdecken sollte.

Die Ausstellung von Thomas Thorausch und Klaus-Jürgen Sembach, die sich aus den reichhaltigen Beständen des Deutschen Tanzarchivs Köln speist, thematisiert in montageartiger Zusammenstellung von Dokumenten und Texten, Film- und Klangbeispielen das innovative Wirken der Tanzkünstler dieser Zeit und verdeutlicht damit auch den Zusammenhang von Utopie und Moderne sowie die Faszination, die von dieser Epoche des Tanzes auch noch auf Tanzkünstler von heute ausgeht.