Was kann, was soll ein Archiv der Tanzkunst bewahren?

Immer schon waren die Antworten von Archivaren und Historikern auf diese Fragen bei aller Leidenschaftlichkeit auch von einer gewissen Ratlosigkeit geprägt. Und dies, obwohl die Antworten seit Anbeginn der Geschichte der Darstellenden Künste, zu denen ja auch der Tanz zählt, immer gleich lauten. Ist doch für Zuschauer wie für Darsteller die dem Körper eigene Empfindung und die dem Denken eigene Reflektion der Träger jeglicher Erinnerung an ein theatrales Ereignis - einer Erinnerung, die sich im Übrigen der Dokumentation, Wiedergabe und kritischen Betrachtung zu entziehen scheint.

Mit dem Wissen um dieses Dilemma haben sich Archive der darstellenden Künste seit jeher auf die Aufbewahrung von Relikten vergangener Theaterereignisse zum Zweck der Bewahrung und Weitergabe eines möglichst „objektiven“ Wissens konzentriert. Regie- und Rollenbücher, Inspizientenbücher, Beleuchtungspläne, Bauzeichnungen, Kostümentwürfe umfassen diese Gruppe von Archivalien „erster Klasse“. Ergänzt werden sie durch Materialien, die dazu geeignet sind, sich ein subjektiv geprägtes Bild von den Entstehungsbedingungen einer Schauspiel-, Musiktheater- oder Tanzinszenierung zu machen: persönliche Tagebücher, Erinnerungen und sonstige eher persönlich-private Aufzeichnungen, Briefe, Notizbücher. Und natürlich darf auch der „fremde Blick“ nicht fehlen, also die Perspektive nicht unmittelbar an der Produktion Beteiligter, wie Malern, Fotografen und Filmemachern. 

Die stärkste Antriebskraft zum Aufbau von Archiven der Tanzkunst war und ist die Sammellust, mithin die Liebhaberei und die damit verbundene Leidenschaft. Aber eben auch der Wunsch, dem Tanz eine den anerkannten Kunstformen wie Literatur, Musik und Bildende Kunst vergleichbare gesellschaftliche respektive politische Relevanz zu sichern. Von der Liebhaberei zum politischen Bewusstsein von Sammlern und Archivaren des Tanzes – ein Riesenschritt, der gerade mal die Zeitspanne zweier Jahrhunderte umfasst und beim Aufbau eines Archivs wie auch im Archivalltag immer wieder aufs Neue durchmessen wird.

Dass mein Denken ein Anschauen sei…

Kein geringerer als Johann Wolfgang Goethe legte mit seinem 1799 erschienenen Werk Der Sammler und die Seinigen eine erste Theorie des Sammelns vor und machte darin die (Privat-)Sammlung zum kommunikativen Mittelpunkt im Bildungsprozess der bürgerlichen Gesellschaft.

Folgerichtig besaßen auch die frühen Sammlungen zur Geschichte und Gegenwart der Tanzkunst im 18. und 19. Jahrhundert eine streng pädagogische Ausrichtung. Als Lehrbibliotheken setzten sie sich – im Verbund mit praxisorientierten Akademien – die Bildung von Tanzmeistern und Tanzpädagogen sowie die Weitergabe von Methoden und Formen der Vermittlung von Tanzkunst zum Ziel.


Verweile doch, Du bist so schön!
Mit dem Aufkommen der modernen Verehrung von Tanz-künstler*innen in der Epoche des Romantischen Balletts im 19. Jahrhundert wandelte sich die Ausrichtung der Tanzlehrbibliotheken.

Immer mehr Bildende Künstler hielten in einer ihrer Kunst oder ihrem persönlichen Erleben eigenen Form und Überhöhung die Persönlichkeit oder den magischen Moment des Auftretens einer Tanzkünstlerin wie Marie Taglioni oder Lucile Grahn fest. Zwischen das persönliche Erleben des Zuschauers und die Wirklichkeit des Tanzes schob sich die Perspektive des Künstlers. Sein Bild prägte die Erwartung wie auch die spätere Erinnerung an das Gesehene. Bilder wurden zum Vermittler zwischen der Welt des Tanzes bzw. des Theaters und dem Publikum. Der fremde Blick wurde zur bestimmenden Instanz bei der Rezeption der Tanzkunst durch die Öffentlichkeit. Sammlungen und Archive wurden zunehmend zur Heimat dieses fremden Blicks von Malern, Graphikern, Fotografen und Schriftstellern.


Und da wo die Bilder zu verblassen drohten, schrieben die Archive dank passionierter Sammelwut die Erinnerung an den Tanz vergangener Zeiten in eigener Autorenschaft weiter. Ein signierter Ballettschuh, ein Autograph, ein persönliches Erinnerungsstück wurden zum Ausgangspunkt eines romantisierenden Geschichtsbildes, das mit der historischen Gegenwart wohl nur wenig, mit der Wirkungsabsicht des Archivars und Sammlers dagegen umso mehr gemein hatte.

In dem Maße wie die Tanzarchive sich durch das Sammeln von Memorabilien zu wahren Wunderkammern der Tanzgeschichte entwickelten, verlor sich mehr und mehr ihre Verankerung im Alltag der Tanzkunst, in der Ausbildung von Tänzerinnen und Tänzern. Folgerichtig waren es nun weniger Tanzschaffende als vielmehr Wissenschaftler, Kritiker und Publizisten, die im Archiv nach Ausgangspunkten, Belegen oder Inspirationen für ihre ganz persönliche Geschichte vom Tanz suchten und sie – welch Wunder – auch fanden.

Voll sehnsuchtsvoller Erwartung an eine Wiederkehr des Vergangenen. Eher unbeabsichtigt entwickelten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die persönlichen Sammlungen von Tanzschaffenden zum Gegenmodell institutioneller Tanzgeschichtsschreibung und -bewahrung.

Die rasante Entwicklung der Fotografie (und später auch des Films und seiner Speichermedien) machte die bildgestützte Dokumentation von Lebens- und Schaffensperioden auch für Tanz-schaffende erschwinglich. Der individuellen Erinnerung jenseits jeglicher Öffentlichkeit verschrieben, bewahrten diese Sammlungen ihren privaten Charakter.


Ein Umstand, der es z. B. einer ganzen Generation von jungen Tanzforscher*innen in den 1980er Jahren – sofern sie Zugang zu diesen Quellen der Geschichte des Tanzes der 1920er, 1930er und 1940er Jahre erhielten (oder sich erarbeiteten) – ermöglichte, über die Rekonstruktion von Leben und Werk hinaus, Rückschlüsse auf Motive tanzkünstlerischen Handelns und Wirkens zu ziehen. Nicht selten leisteten ordnende Arbeiten des Besitzers oder der Besitzerin im Vorfeld eines Besuchs allerdings einer idealisierten Geschichtsdarstellung Vorschub.

Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Der Umstand, dass die institutionellen Tanzarchive im Laufe ihrer Entwicklung mehr und mehr die Wirklichkeit des Tanzes vernachlässigt hatten, führte nicht nur zur Herausbildung ergänzender Sammlungen und Archive. Es veränderte auch die Tanzarchiv-Landschaft nachhaltig. Bildete sich die Geschichte des Tanzes im Deutschland des 20. Jahrhunderts bislang zersplittert in große und kleine Bestände in Staats-, Stadt- und Spezialarchiven sowie Privatsammlungen ab, so nahm diese Entwicklung im 21. Jahrhundert rasant zu. Forschungs- und Lehrvorhaben schufen sich – mangels entsprechender Bestände in institutionellen Archiven oder aus Bequemlichkeit - zunehmend ihren eigenen Quellenapparat. Im World Wide Web entstanden kleine und große Archive zur Geschichte und Gegenwart der Tanzkunst. Und verschwanden manchmal genauso schnell wie sie entstanden.

All diesen Initiativen war zu eigen, dass sie im Kleinen - wenn auch in wesentlich kürzerer Zeit - eine der Geschichte der konventionellen Tanzarchive verblüffend ähnliche Entwicklung durchmachten. Ausgehend vom Ziel zu informieren, entwickelten sich Dokumenten- und Materialienbestände, die zunehmend aus Sammlungsstücken bestanden – ein Kontext, in dem auch die Datei mit Text-, Ton- und Bildinhalten oder das Digitalisat eines Originals nach kurzer Zeit ihre Funktion als verlässliche Basis tanzwissenschaftlicher Dokumentation und Forschung verlor.

Die ewig junge Suche nach der idealen Dokumentation von Tanz führte im Verbund mit der Entwicklung moderner Kommunikations- und Speichermedien Ende der 1990er Jahre zu z.T. hochartifiziellen Künstler- und Produktionsarchiven. Immer öfter nahmen Künstlerinnen und Künstler nun den Prozess der Dokumentation und Archivierung wie auch der Publikation ausgewählter Quellen selbst in die Hand. Nicht selten stand dahinter auch die Absicht, Denk- und Arbeitsweisen dergestalt zugänglich zu machen, auf dass Interessierte sie sich aneignen und nutzen können. Nicht von ungefähr erinnert dies an den Entstehungsprozess der Tanzlehrbibliotheken im 18. Jahrhundert.