Gesichtet von Angela Kassel und Anna Kempner im Rahmen einer Übung im Masterstudiengang Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, SS 2011.
Waltraud Luley (1915-2011), Wegbegleiterin von Dore Hoyer und anerkannte Tanzpädagogin, organisierte in den Jahren 1969-1974 Reihen mit Tanzabenden in Frankfurt am Main unter dem Namen SPECTRUM. Der Ausdruck „Spectrum“ wird in der Physik und Mathematik verwendet und bezeichnet die Bandbreite oder Vielfalt eines Phänomens. Mit diesem Namen verweist Luley unmittelbar auf ihr primäres Ziel, mit den Tanzabenden eine Bestandsaufnahme des freien Tanzes vorzunehmen, wobei sie den Begriff der Bestandsaufnahme selbst verwendete (z.B. in ihren Korrespondenzen). Ihr war es wichtig, zu zeigen wie sich der Tanz in Deutschland entwickelte, und sie wollte den Aktivitäten der freien Choreograph/innen eine Plattform geben.
SPECTRUM I fand im April 1969 unter Mitwirkung von Gerhard Bohner und Susanne Linke sowie acht weiteren Choreographinnen statt. Bei SPECTRUM II im Oktober des gleichen Jahres zeigte unter anderem Pina Bausch ein Tanzstück.
1970 organisierte Waltraud Luley zusätzlich zu dem im April stattfindenden Tanzabend SPECTRUM III einen Sommerkurs, bei dem eine Woche lang Manja Chmièl und Pina Bausch „Moderne Tanztechnik“ und Peggy Lane „Jazz-Tanz“ unterrichteten. Nach 1970 fand die SPECTRUM-Reihe nicht mehr so häufig statt und auch das Profil der Reihe veränderte sich: Boten SPECTRUM I, II und III jeweils eine Zusammenstellung mehrerer kurzer Tanzstücke von verschiedenen Choreograph/innen, stellten SPECTRUM IV und V hingegen reine Gastspiele jeweils nur eines Künstlers bzw. Duos dar: von Iris Scaccheri (1972) und von Eiko und Koma (1974).
Trotz fehlender finanzieller Unterstützung und unausgewogener, oft sogar negativer Kritik der Tanzabende blieb Luleys Engagement bei der Organisation der SPECTRUM-Reihe bis zum Ende 1974 ungebrochen. Dennoch war sie sich der Qualitätsdifferenzen zwischen den präsentierten Stücken bewusst. Ihr Konzept war es nicht, eine von ihr für gut befundene Auswahl zu präsentieren, sondern sie wollte im Sinne der Bestandsaufnahme allen „freien Tänzern“ die Möglichkeit geben, ihre Arbeiten zu zeigen. Die Kombination aus ihrem eigenen, teilweise nicht erfüllten Qualitätsanspruch und den Reaktionen der Presse, sowie die desolate finanzielle Situation waren für Waltraud Luley äußerst ernüchternd: „Ich bin z.Zt., wie nach jeder SPECTRUM Aufführung bisher, etwas deprimiert.“ (aus einem Brief vom 7.5.1970, nach der dritten SPECTRUM-Aufführung). Seitens der beteiligten Künstler sowie von anderen befreundeten Choreographinnen erhielt sie jedoch stets Zuspruch und Lob für ihren Einsatz für den Tanz. Der Bestand an Unterlagen zur SPECTRUM-Reihe, den Waltraud Luley dem Deutschen Tanzarchiv Köln übereignete, enthält einen regen Briefwechsel, unter anderem mit Friedel Deharde, Gundula von Woyna, Corrie Hartong, Til Tiele, Iris Scaccheri und Christiane Meyer-Rogge sowie weniger umfangreiche Korrespondenzen mit Mary Wigman, Pina Bausch und Gerhard Bohner (ausführliche Liste der Korrespondenten siehe unten). Desweiteren umfasst der Bestand Ankündigungen, Programme, Kritiken und Veranstaltungsmaterialien zu den jeweiligen SPECTRUM-Veranstaltungen, sowie einige wenige Fotos (Bohner, Linke, Müller-Kutschera, Sehnert, von Woyna).
Systematik des SPECTRUM-Bestandes
1969 Spectrum I - Ankündigungen, Programme - Kritiken - Veranstaltungsmaterial - Korrespondenzen - Fotos Spectrum II - Ankündigungen, Programme - Kritiken - Veranstaltungsmaterial - Korrespondenzen1970 Sommerkurs Spectrum III - Ankündigungen, Programme - Kritiken - Veranstaltungsmaterial - Korrespondenzen 1972 Spectrum IV Gastspiel Iris Scaccheri (- Ankündigungen, Programme - Kritiken - Veranstaltungsmaterial - Korrespondenzen) 1974 Spectrum V Gastspiel Eiko und Koma (- Ankündigungen, Programme - Kritiken - Veranstaltungsmaterial - Korrespondenzen) nach 1970 Korrespondenzen (teils zum Ende der Spektrum-Reihe)
Restmaterial nach 1970 und undatiert
An Spectrum beteiligte Künstler: (* = Fotos vorhanden)
1969 I: Gerhard Bohner * Friedel Deharde Brigitte Garski Silvia Kesselheim Johanna Knorr Susanne Linke * Gudrun Müller-Kutschera * Iris Scaccheri Inge Sehnert * Gundula von Woyna *
1969 II: Pina Bausch Jean Cébron Rose Marie Paillet Fred Traguth Helga Kimpel und Gruppe André Doutreval und Gruppe Kenneth Rinker und Gruppe Ineke Sluiter und Gruppe
1970 III: Helmut Baumann Gruppe Judy Jarvis Folkwang tanzstudio Iris Scaccheri Gruppe ZNAT (Rogge)
1970 Sommerkurs 5.-12. Juli: Pina Bausch Manja Chmièl Peggy Lane
Korrespondenten Gelistet sind nur Korrespondenten, zu denen mehr als ein Brief oder Briefdurchschlag vorhanden ist (die römischen Zahlen in Klammern geben an, in welcher Mappe diese Korrespondenzen zu finden sind)
Yvonne Aikens (nach 1970) Ulrike Baehr (III) Helmut Baumann (II, III) Pina Bausch (III) Giancarlo Bellini (nach 1970) Alain Bernard (III) Ursula Bischoff-Musshake (II) Gerhard Bohner (I) René Caron Manja Chmièl (III) Barbara Dech (III) Friedel Deharde (I, II, III) Rotraut Dick (nach 1970) Eiko und Koma (V, nach 1970) Geneviève Fallet (nach 1970) Amt für Wissenschaft und Kunst, Frankfurt a. M. (nach 1970) Städtische Bühnen, Frankfurt a. M. Friedrich Verlag (III) Ursula Fuss-Schwarz (II) Brigitte Garski (I) Gisela Gascard-Reich (nach 1970) Klaus Geitel (I, II) GEMA Corrie Hartong (I, II, III, nach 1970) Maja Heinemann (II) Margit Heskett (nach 1970) Druckerei Imbescheid (III) Martina Jacobi (III) Walter Jacobs (II) Judy Jarvis (III) Antje Johannes (nach 1970) Birgit Kenyeressy (nach 1970) Regula Kern (nach 1970) Ulrich Kersten (I) Annemarie Kirchen-Leopolder (nach 1970) Helga Kimpel (II) Peggy Lane (nach 1970) Friederike Langelott (II) Suzanne Last (III) Heinz Laurenzen (II) Josiane Linot (nach 1970) Bonislaw Machalski (nach 1970) Herr Maitre (nach 1970) Ingrid Metzing (nach 1970) Christiane Meyer-Rogge (III) Gudrun Müller-Kutschera (I) Frau Pendler (II) Hedd Perll-Zaugg (III) Kurt Peters (III) Dr. von Rath (II) Dr. Rolf von Rauschenbach (II, III) Hartmut Regitz (I, III) Kenneth Rinker (II) Lola Rogge (II) Ilse Saalfrank-Homilius (III) Iris Scaccheri (I, III, IV) Friedhelm Schmulling (II) Katharine Sehnert (III) Ineke Sluiter (II) Frau Steen (nach 1970) Gisela von Stosch (III, nach 1970) Herr Tetzner (nach 1970) Til Tiele (II, III) Fred Traguth (II, III) Erika Valters (II) Eva Weigand (nach 1970) Jens Wendland (I, II) Vera Whistler (III) Mary Wigman (I, II, III) Gundula von Woyna (I, II) Gerda Zimmermann (nach 1970)
SPECTRUM, Gastspiel moderner Tänzer im Kammerspiel der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main, 20. April 1969: Gerhard Bohner und Gundula von Woyna (wahrscheinlich in: Und die Erde war wüst und leer). © Deutsches Tanzarchiv Köln
SPECTRUM, Gastspiel moderner Tänzer im Kammerspiel der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main, 20. April 1969: Susanne Linke in ihrem Drehtanz. © Deutsches Tanzarchiv Köln
"Um dem freien modernen Tanz eine neue Plattform zu verschaffen, hat die Tanzpädagogin Waltraud Luley zehn Tänzer nach Frankfurt eingeladen - Meister und Nachwuchs - , die zunächst einmal an einem Abend, dem 20. April, auf der Bühne der Kammerspiele einen Querschnitt ihres Könnens zeigen. Diese Veranstaltung, 'Spektrum' genannt, soll in jedem Jahr stattfinden und allmählich zum Forum für die Neubelebung des modernen Tanzes werden und die Ausbildung junger Tänzer fördern." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.4.1969). Es tanzten beim SPECTRUM: Gerhard Bohner, Friedel Deharde, Brigitte Garski, Silvia Kesselheim, Johanna Knorr, Susanne Linke, Gudrun Müller-Kutschera, Iris Scaccheri, Inge Sehnert, Gundula von Woyna. © Deutsches Tanzarchiv Köln
SPECTRUM, Freier Tanz, Solisten und Gruppen, 19. Oktober 1969 im Schauspiel der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main. Es tanzen: Pina Bausch (Essen), Jean Cébron (Paris), Rose Marie Paillet (Paris), Fred Traguth (Bonn), Helga Kimpel u. Gruppe (Paris), André Doutreval, Gruppe (Frankfurt am Main), Kenneth Rinker u. Gruppe (Washington D.C.), Ineke Sluiter, Gruppe (Rotterdam). "[...] Jean Cébron, der mit 'Recueil' die Siegespalme errang. [...] Freilich, Cébron hat es nicht allzu schwer, zu beeindrucken, denn seine Interpretin zählt zu den großen Gestalterinnen, die Deutschland besitzt: Pina Bausch. Selbst eine überragende Choreographin, verfügt die Künstlerin über einen ungewöhnlichen Phrasierungsatem und eine im lyrischen Genre beispiellose Farbenskala tänzerischer Ausdrucksmittel. Die poesiereiche Beredsamkeit der Arme erinnert beständig an die vergleichbare Magie Marcia Haydées. Selbst bei einem so unerheblichen Werk wie Cébrons 'Unindentified' [sic] gelingt es ihrer geheimnisumwitterten Ausstrahlung, zu beglücken. Ihre Deutung gleicht einem Veredelungsprozeß." (Hartmut Regitz: Spectrum 69. Freier Tanz in Frankfurt mit Pina Bausch. In: Stuttgarter Zeitung, 27. Oktober 1969). © Deutsches Tanzarchiv Köln
Judy Jarvis: Programmentwurf vom 3. Februar 1970 für den Tanzabend der SPECTRUM-Reihe in Frankfurt am Main, 20. April 1970. "Dear Frau Luley, [...] I just received a letter from Frau Til [Thiele], and she had a good idea for my dances at Frankfurt, April 20. She spoke with Mary Wigman, and Mary also felt this was better than what I suggested and sent to you a week ago." - Vor der ersten SPECTRUM-Veranstaltung 1969 hatte Mary Wigman am 19. Februar 1969 geschrieben: "Liebe Waltraud! [...] Die Einzige, die ich mit ganz gutem Gewissen empfehlen könnte, ist nicht erreichbar. Die letzte, begabte Wigman-Schülerin, Judy Jarvis. Sie ist Canadierin und arbeitet in ihrem Heimatland." © Deutsches Tanzarchiv Köln
SPECTRUM 70, Freier Tanz, Solisten und Gruppen: Helmut Baumann Gruppe (Köln), Judy Jarvis (Toronto), Folkwang Tanzstudio (Essen-Werden), Iris Scaccheri (Buenes Aires), Gruppe ZNAT (Hamburg). "Den weitaus grössten Beitrag [...] bot das Folkwang Tanzstudio Essen-Werden. Mit fünf Tanzwerken vermittelten diese Tänzer einen ziemlich übersichtlichen Einblick in ihre Arbeit, die mir etwas eintönig und steril vorkam. Man merkt deutlich, dass hier eine Gruppe arbeitet, die sich selber genügt, die den Kontakt zu der Aussenwelt noch nicht gefunden hat oder vielleicht nicht finden will. Alle Choreographien, seien sie nun von Pina Bausch, Ulrike Baehr oder Jean Cébron haben den selben Charakter, den gleichen unverkennbaren Firmenstempel. [...] Wenn man [...] bei drei verschiedenen Choreographen immer wieder die selben Bewegungsabläufe, die selben metrischen Intervalle sieht, wirkt das eben dann auf die Dauer steril und fast etwas langweilig. Die Folkwang Leute arbeiten miteinander, inspirieren sich untereinander, sind sich offebar selber Masstab genug. [...] Tänzerisch sind die Mitglieder der Gruppe auf einem unerhört hohen technischen Niveau, das auf eine ganz hervorragende Ausbildung schliessen lässt." (Alain Bernard: Spectrum 70 in Frankfurt. In: Tanz und Gymnastik, Mai 1970). © Deutsches Tanzarchiv Köln
1972 wurde die SPECTRUM-Reihe mit einem Gastspiel von Iris Scaccheri unter dem Titel "anti-dance" fortgesetzt. "Die argentinische Tänzerin (...), eine der bedeutendsten Schülerinnen der von vielen unvergessenen Dore Hoyer, kam anläßlich ihrer diesjährigen Europa-Tournee, die sie nach Paris, Brüssel, London und Warschau führt, zu einem Solotanzabend im Rahmen einer SPECTRUM-Veranstaltung 'anti-dance' in das Frankfurter Kammerspiel. Die eigenwillige Künstlerin, deren Tanz äusserste Präzision beweist und die bei aller Ausdrucksgeladenheit stets gebändigte Bewegung zeigt, integriert in ihren Stil nicht nur Akrobatisches. [...] Das Publikum dankte mit Begeisterung." (M.M.: Vogelflug und Erdenschwere. Die Tänzerin Iris Scaccheri im Kammerspiel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. November 1972). © Deutsches Tanzarchiv Köln
Als letzte Aufführung zeigte SPECTRUM 1974 ein Gastspiel von Eiko und Koma. "What we want to make through our dance and our lives is a complete crystal consisting of spontaneity. We strive for compressive, strict, correct and shining dance internally and externally. We dream that when our life, our house and our dance are seen from far away, they will appear as cubes of rock salt." (Programmheft). © Deutsches Tanzarchiv Köln
Mangels öffentlicher Förderung und letztlich doch begrenzter Zuschauerzahlen erzielte SPECTRUM, die Plattform des modernen Tanzes in Frankfurt am Main, erhebliche finanzielle Defizite, die von Waltraud Luley als Veranstalterin privat getragen wurden. © Deutsches Tanzarchiv Köln