Die tanzideologischen Schlachten der 1920er und 30er Jahren schienen längst geschlagen zu sein, als sich vor 67 Jahren am 12. und 13. Juli 1951 Tanzschaffende zum ersten Tänzerkongress nach dem 2. Weltkrieg in Recklinghausen trafen. Die Stadt Recklinghausen, die Ruhrfestspiele und der Deutsche Gewerkschaftsbund hatten geladen und ca. 100 Tanzschaffende kamen. Initiiert und organisiert hatten das zweitägige Treffen im Stadtgarten-Restaurant die Berufsgruppe Tanz in der Gewerkschaft der Bühnenangehörigen (GDBA), der in Köln ansässige Tänzerbund sowie die Fachzeitschrift Tanz Prisma. Pragmatische Ziele hatte man sich gesetzt: ein Gedankenaustausch zur augenblicklichen Lage der Tanzkunst in Deutschland sowie zur Verbesserung der sozialen Lage von Tänzern und Tänzerinnen sollten im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen stehen und die Schaffung einer umfassenden berufsständischen Interessenvertretung aller Theatertänzer, freien Tänzer und Lehrer des künstlerischen Tanzes befördern.
Es war daher nur allzu verständlich, dass die ehemalige Tänzerin und Pädagogin Olga Brandt-Knack (* 1885) in Vertretung der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger einleitende Worte an die Versammelten richtete. Zeit ihres Lebens hatte sie sich für die sozialen Belange von Tänzern und Tänzerinnen eingesetzt. Im nationalsozialistischen Deutschland war sie von der Hamburgischen Staatsoper entlassen worden, hatte auf politischen Druck ihre Ballettschule aufgeben müssen und war als engagierte Sozialdemokratin und Gewerkschaftlerin von der Geheimen Staatspolizei überwacht worden.
In ihrer Ansprache, die als Typoskript im Deutschen Tanzarchiv Köln unter der Signatur DTK 483 Deutscher Tänzerkongress 1951 TIS 46676 aufbewahrt wird, betonte Olga Brandt-Knack den Symbolcharakter dieses Treffens im Rahmen der Ruhrfestspiele: „Die Not der Zeit ist in der Tat so groß und durch Schlagsahne und übertriebenen Luxus nur notdürftig überdeckt, dass es leichtfertig sein würde, würden wir Tänzer an diesen Dingen achtlos vorübergehen. Der Tänzer lebt in derselben Welt wie der Kumpel und hat dieselbe Aufgabe, am politischen Aufbau unserer jungen Demokratie mitzuhelfen.“ Das Echo der historischen Auseinandersetzung zwischen Ballett und Ausdruckstanz war denn aber doch noch einmal zu vernehmen, als die Rednerin die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Klärung der Frage anmahnte, ob denn an den Theatern klassisches Ballett oder Ausdruckstanz getanzt werden solle - freilich ohne damit die Wichtigkeit der Nutzung beider tanzkünstlerischen Ausdrucksformen im Deutschland nach 1945 in Frage stellen zu wollen.
Insgesamt überwog jedoch der Pragmatismus in der Rede Olga Brandt-Knacks ebenso wie im weiteren Verlauf des Tänzerkongresses, der schließlich einstimmig beschloss, die Berufsgruppe Tanz in der GDBA als einzige Berufsorganisation aller Tanzschaffenden anzuerkennen. Ihre Fortsetzung fanden die engagierten Diskussionen über den Tanz in Deutschland ein Jahr später an gleicher Stelle – beim 2. Deutschen Tänzerkongress nach 1945.
Thomas Thorausch | Deutsches Tanzarchiv Köln
Bestand 483 Deutscher Tänzerkongress 1951 Bestand 409 Deutscher Tänzerkongress 1952 Bestand 74 Olga Brandt-Knack