von Geertje Andresen
Ohne ihn hätte die Tanzwissenschaft in Deutschland eine große Lücke aufzuweisen. Unser Wissen über Tanz im zwanzigsten Jahrhundert, über die modernen Tänzer, die ihn erfanden und die, die ihn einige Jahrzehnte präsentierten, wäre ohne sein Wirken zweifelsohne sehr viel geringer. Der vielseitige Tanzpublizist Fritz Böhme war unumstritten einer der wichtigsten Förderer des Tanzes in Deutschland in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nicht hoch genug zu schätzen ist seine Leidenschaft, mit der er umfassend das Tanzgeschehen in Europa dokumentierte und es vor und während des Zweiten Weltkrieges archivierte.
Heute liegt ein Schatten auf diesem Mann, weil er 1933 der NSDAP beigetreten ist. Diese Mitgliedschaft ermöglichte ihm seinerzeit, sein großes Engagement auf nahezu allen Ebenen des Tanzes auch im Dritten Reich weiter zu führen und Tanz und Tänzer zu fördern. Ob und inwieweit er an der Verfolgung von Menschen aus rassischen oder politischen Gründen mitwirkte, ist bisher nicht bekannt. Eine genauere Untersuchung seines Werkes steht noch aus; der Anteil volkstümelnder Ideologie, der sich in seinen Rezensionen nach 1933 finden lässt, ist jedoch offensichtlich sehr gering. Sie erkennen den individualistischen modernen Tanz und seine experimentellen Weiterentwicklungen - beispielsweise einer Dore Hoyer - auch dann noch an, als dieser bei der “Tanzberichterstattung" seiner Zeit schon lange in Ungnade gefallen war.
Am 10. Mai 1881 wurde Fritz Böhme in Berlin geboren und wuchs in dieser Stadt auf. 1902 begann er an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität u.a. bei dem heute als politischen Chauvinisten zu bezeichnenden Historiker Dietrich Schäfer Geschichte zu studieren, bei dem Deutsch-Nationalisten Kurt Breysig Kunstgeschichte und dazu Pädagogik, wohl mit dem Ziel, Gymnasiallehrer zu werden. Dieses Studium schloss er im März 1905 ab. Er ging jedoch nicht als Lehrer an ein Gymnasium, sondern verdiente sich etwas Geld mit gelegentlichen journalistischen Arbeiten für verschiedene Zeitungen. 1910 nahm er ein weiteres Studium an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität auf: Mediävistik bei Gustav Roethe und Literaturgeschichte bei Erich Schmidt. Über diesen Professor und Freund Theodor Storms erhielt Fritz Böhme eine feste Anstellung als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter und Archivar bei der “Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte". Aus dieser Arbeit sind seine ersten beiden Bücher entstanden, die noch gar nichts mit Tanz zu tun haben: 1913 veröffentlichte er einen Nachtragsband zu Theodor Storms „Sämtlichen Werken" und 1915 eine Biographie über den Philosophen und Freund Theodor Storms Ferdinand Röse.
Wegen eines chronischen Ohrenleidens nahm Fritz Böhme nicht am Ersten Weltkrieg als aktiver Soldat teil. Stattdessen widmete er sich ab 1916 ganz und gar der Tanzpublizistik. Als Feuilletonleiter der „Deutschen Warschauer Zeitung" gewöhnte er die Leser systematisch an die Auseinandersetzung mit modernem Tanz und warb so für diese neue Kunst. Es gelang ihm nach dem Ersten Weltkrieg, systematisch die ernsthafte Tanzkritik in großen Tageszeitungen durchzusetzen. Mit dieser Aufgabe begann er im Berliner Börsen-Courier und auch in der seinerzeit einzigen deutschen Zeitschrift mit eigener Tanz-Rubrik “Die Libelle".
Dass sich Fritz Böhme auch an der Organisation der Tänzerkongresse 1927, 1928 und 1930 beteiligte, war für ihn selbstverständlich. Er engagierte sich eben unermüdlich dafür, die Tänzer zu einem Miteinander zu bewegen, damit sie ihre Belange besser artikulieren, sich organisieren und einen deutlichen Platz in der Gesellschaft verschaffen könnten. Dafür gab er 1929 das Nachrichtenbulletin “Kleine Korrespondenz für Kunst, Gymnastik, Pädagogik und Tanz" heraus.
1930 schien für ihn ein besonders bewegendes und erfolgreiches Jahr gewesen zu sein. Er wurde Mitglied im Ehrenpräsidium des 3. Tanzkongresses in München, gründete die Publikumsorganisation „Gesellschaft der Tanzkunstfreunde e.V." und wurde auch noch 1. Vorsitzender des „Verbandes Deutscher Volkstanzkreise". In dieser Eigenschaft glaubte er, 1933 in die NSDAP und in den „Kampfbund für Deutsche Kultur" eintreten zu müssen. Nach eigener Aussage wollte er mit seinem aktiven Engagement die Zerstörung des Ausdruckstanzes und die ideologische Einvernahme der Volkstanzkreise durch die Nationalsozialisten verhindern. Vermutlich aber war er so stark auf dieses Ziel fixiert, dass sein eigentlich scharfer Verstand die Brutalität und Zumutungen der NS-Politik ausblendete.
Gleichwohl fällt sein allergrößter Verdienst in diese Zeit: Er baute 1936 an den neu eingerichteten „Meisterstätten für Tanz" u.a. aus seinen eigenen Sammlungen das erste zentrale deutsche Tanzarchiv auf. Dieses Archiv trug offiziell sogar die Bezeichnung „Reichsarchiv". Böhme leitete es selbstverständlich selbst, lehrte an den „Meisterstätten" Tanzgeschichte und hielt zahlreiche öffentliche Vorträge zu tanzbezogenen Themen. Weiterhin war er 1940 kurzzeitig Schriftleiter für die Publikationen der „Deutschen Tanzbühne" und gemeinsam mit Gustav Fischer-Klamt ebenso kurz auch Schriftleiter für die Zeitschrift „Der Tanz".
Anfang März 1943 fiel das Gebäude der „Meisterstätten für Tanz", in dem das Tanzarchiv untergebracht war, britischen Fliegerbomben zum Opfer. Die unvergleichliche Sammlung verbrannte vollständig. Mit ganzer Kraft setzte sich Fritz Böhme nach diesem tragischen Ereignis dafür ein, erneut ein Archiv für Tanz aufzubauen. Diese neuen Bestände wurden aus Berlin ausgelagert und gingen nach 1945 verloren; ein vor der Kriegszerstörung zurückgegebener Depositalbestand und einige wenige Bücher der verschollenen zweiten Sammlung befinden sich heute im Deutschen Tanzarchiv Köln.
Fritz Böhme überlebte den Krieg, musste aber vier Jahre lang auf seine Entnazifizierung warten und fühlte sich als gebrochener und missverstandener Mann. Er erhielt ein Publikationsverbot und konnte bis 1949 nur unter dem Namen seiner Frau Elisabeth publizieren, die seit den 1920er Jahren auch selbst etliche Tanzkritiken geschrieben hatte. In der Filmprüfstelle Berlin arbeitete Fritz Böhme jedoch bereits ab 1945 mit. Außerdem unterrichtete er weiterhin Tanzgeschichte, zunächst an der Tanzschule von Marianne Vogelsang und bis zu seinem Tode an der Staatlichen Ballettschule Berlin. Fritz Böhmes sehr umfangreicher persönlicher Nachlass ist heute - ein Symbol des einst geteilten Deutschland - verteilt auf das Deutsche Tanzarchiv Köln und das Tanzarchiv Leipzig e.V.
Text: Geertje Andresen
Brief von Dr. Paul Fechter, Feuilletonleitung der Deutschen Allgemeinen Zeitung, an Fritz Böhme vom 4. November 1939: „Ihr sollt nicht immer tanzen. - Machen Sie mir doch mal Vorschläge über andere Themen als immer bloss über Tanz, damit Sie zu Ihrem Geld kommen.“
© Deutsches Tanzarchiv Köln
Fritz Böhmes Buchführung über seine freie journalistische Tätigkeit 1928-1951, hier April 1931.
Das Tanzarchiv in Berlin galt als „Reichsarchiv“.
Erstes Blatt einer dreiseitigen Verlustliste nach der kriegsbedingten Zerstörung des Tanzarchivs in Berlin, erstellt und unterzeichnet von Fritz Böhme am 4. März 1943. Die Bildersammlung umfasste etwa 2.500 Blatt (ein Jahr später startete die heute weltgrößte Tanzsammlung in der New York Public Library im Bereich der „dance prints“ mit 25 Blatt).
Eines von vielen Manuskripten von Fritz Böhme: „Bauhaus- Tänze. Matinee in der Volksbühne. Ob das eintrifft, was Professor Oskar Schlemmer (Bauhaus Dessau) von seiner ‚bauhausbühne’ erhofft, nämlich ‚beizutragen zur allgemeinen erneuerung der bühnenkunst’, wird abzuwarten sein.“
Fritz „Böhme ist, neben Hans W. Fischer in Hamburg, der einzige mir bekannte weiße Rabe unter den Tanzkritikern unserer großen Tagesblätter“. Hans Brandenburg
Beispiele aus der Sammlung persönlicher Dokumente wie Presseausweisen und Mitgliedskarten von Fritz Böhme, z.B. der Deutschen Gesellschaft für Schrifttanz 1928
Berliner Tanzabende. Beispiel einer typischen Sammelrezension von Fritz Böhme („Deutsche Allgemeine Zeitung“ vom 10. November 1921). Silvia Herzig, Lien Engelen, Ronny Johansson, Sent M’Ahesa, Valeska Gert und Mary Wigman. „Man möchte fast sagen, was andere auf Hunderten von Seiten Sittengeschichte nicht erschöpfend darstellen könnten, stellt sie in zwei Minuten aus der Intuition in genialer Zusammenfassung dar, die jederzeit antisentimental in jeder kleinsten Bewegung das Wesen ganzer Klassen von Menschentypen enthält“ (zu Valeska Gert).
Februar 1943: Die letzte Aufnahme des Deutschen Tanzarchivs in Berlin vor dem Totalverlust bei einem britischen Luftangriff. Gestelltes Foto für eine offizielle Verwendung, Fritz Böhme zeigt den Tanzschülerinnen in der Bibliothek einen javanischen Sarong und eine japanische Maske.
Foto © Heinrich Hoffmann / Deutsches Tanzarchiv Köln