Eisfabrik Hannover, 8.10.2006
von Irene Sieben
Verehrte Damen und Herren, liebe Freunde und Verehrerinnen von Manja Chmièl – liebe Manja, wo Du auch immer sein magst.
Als der Literaturwissenschaftler und Dichter Walter Höllerer Manja Chmièl 1962 fürs noch junge Fernsehen interviewte, war das eine große Ehre, aber auch eine gewaltige Unverschämtheit, denn – wie Sie eben im Film gesehen haben: er stand und sie saß. Sie musste also zu ihm aufblicken, als sie ihr Manifest formulierte. Etwas, was der Emanzipierten nicht leicht fiel – und dazu noch total unhöflich war. Dennoch zeigt es deutlich, wo der Tanz stand: noch unter dem Pantoffel aller anderen Künste. Zu dieser Zeit regierte wieder das Ballett, freilich entrümpelt, modernisiert. Der Ausdruckstanz war vorbei – der Neue Tanz hatte sein Publikum noch nicht gefunden.
Ich fühle mich heute hier wie eine Art Filter – meine Erinnerungen aus den sechziger Jahren mischen sich mit Manjas Leben, ihrem Höhepunkt als Tänzerin, Choreographin, Lehrerin oder mit dem, was in meinen eigenen Zellen, aber auch Archiven darüber gespeichert ist. Es ist eine persönliche Betrachtung ihrer Kunst und ihres Werdeganges aus einer Zeit, in der ich ihre Schülerin, ihre Assistentin und Tänzerin in der Gruppe Neuer Tanz war. Das hat mich nachhaltig geprägt.
Meine erste Begegnung mit ihr. Das war 1961. Manja unterrichtete im Mary Wigman Studio Tanztechnik. Ich begann dort 17jährig, bereits Tänzerin, meine Pädagogenausbildung. Und während in den Übungsstunden der alternden Mary Wigman immer ein Hauch von Pathos, Demut und Hingabe an etwas Hohes, Edles, Unerreichbares mitschwang, kam Manja ganz konkret zur Sache.
Sie lockte uns in komplizierten Mäandern auf eine lange Diagonale. Sie schlingerte, federte, tänzelte durch den Raum wie ein edles Pferd vor dem Sprung. Gebrochene dynamische Linien im Brustkorb, Synkopen im Beckenschwung gaben der Kombination raumgreifend und rhythmisch Spannung. Dabei saugten sich ihre Füße wie kleine Raupen an den Boden und schnellten weg wie von Katapulten abgeschossen. Sie tasteten und suchten Widerstand. Später nannte sie es „Milchtritt“ (wie bei kleinen Kätzchen) oder „Honigfäden aus dem Boden ziehen“. Die Füße wurden so bereit zum Spiel mit der Schwerkraft: pulsierend oder in furiosem Stakkato. Ullrich Kessler improvisierte am Klavier. Und ich wusste: Das war‘s. So wollte ich tanzen und nicht anders.
Fraglos: Manja war ein Naturereignis. Wild und erdgebunden. Geballte Energie in einem athletischen Körper, der zugleich fraulich weich, aber auch kraftvoll männlich war. Es schien ihr Schicksal, dieses ungestüme, sinnliche, ja animalische Temperament in sich selbst bändigen zu wollen. Wie ihre ersten Kreationen aussahen, man kann es anhand von Fotos und eigenen Beschreibungen nur ahnen. Sie hießen „Trommeltanz“, „Gesichte der Nacht“, „Tango macabre“. Eine schöne Frau mit langen Haaren. Sie hatte die Tänze während und nach ihrer Ausbildung bei Mary Wigman in Leipzig entwickelt und parallel zu ihrem kurzen Engagement als 13. Tänzerin in der Kompanie von Kurt Jooss und danach während ihrer zehnjährigen Arbeit als Lehrerin und persönliche Assistentin im Wigman-Studio Berlin vervollkommnet.
Während Dore Hoyer, „ihr Leitstern“, erschreckend düster und in gezügelter Panik menschlichen Affekten Gestalt gab, tanzte Manja auf der helleren Seite des Lebens, bis in die letzte Faser versucht, den „Ausdruck“ der expressionistischen Ära hinter sich und die Bewegung selbst sprechen zu lassen. In den Soloabenden der fünfziger Jahre überwogen noch die stark rhythmusgeprägten Tänze zu oft außereuropäischer Musik. Sie faszinierten durch ihren rituellen Charakter oder entfalteten ein Thema, nutzten Kostüme und Requisiten wie Bänder, Reifen, Hölzer. Wie etwa der „Lockruf“. Während sie mit flachen Füßen weich den Boden klopfte, schlug sie in aufbäumend spanischer Körperhaltung zwei Holzstäbe aneinander. Die strengen, abstrakten Tänze ihrer „Farbige Suite“ hatten anfangs noch Namen und durchaus Bedeutungen: „Hahn im Sonnenzeichen“, „Rhythmus und Gesang“, „Bitte um Regen“, „Brauttanz“ und eben „Lockruf“ – mir erscheint es heute, als seien es Arbeitstitel gewesen, um eine Bewegungsidee zu verfolgen. Später ließ sie die Titel weg und numerierte die Tänze strikt durch. Der Inhalt blieb. Gottlob.
Später, auch für die 1962 gegründete Gruppe Neuer Tanz verwendete sie fast nur noch elektronische Musik, Geräuschmontagen. Ausnahmen bestätigten die Regel: Dave Brubecks „Take five“, ihr heiß swingendes Zugabenstück, stand als leicht konsumierbarer Wurf neben strengen, bizarren Soli und Gruppentänzen, in denen die pure Form zählte, meist in aphoristischer Kürze, „Graphisch konzipiert“, „Strukturell“, „Quasi diffus“. Adäquat zur abstrakten Malerei etwa Walter Stöhrers, der zur Eröffnung ihres/ unseres ersten eigenen Studios in der Fasanenstraße 23 (dem heutigen Literaturhaus in Berlin) seine virtuosen kalligraphischen Kritzeleien ausgestellt hatte. Das war1962 und just die Zeit, in der Manja Chmièl ihr Manifest formuliert und öffentlich gemacht hatte. Die intellektuelle Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst, Musik, Politik, die Einflüsse des Living Theatre und die von John Cage und Merce Cunningham, die im Hebbel-Theater erstmals in Berlin gastiert hatten, hinterließen sichtbare Spuren auch in der Radikalität ihres Denkens. Was schließlich auch zu ihrem Rausschmiss aus dem Wigman-Studio geführt hatte. Mary Wigman muss maßlos verletzt gewesen sein durch Manjas Pamphlet. Querelen im Studio um die Verteilung von Probenraum waren nur noch äußerer Anlass ihres Weggangs.
Meine Lieblingstänze blieben auch in Zeiten größerer Strenge und Kargheit „Von außen bewegt“ und „Unter den Sternen“. In ersterem benutzte Manja ein straff gespanntes Band, das sie um die zweite Zehe des rechten Fußes geschlungen hatte und deren Enden sie in den Händen hielt als lineares Bewegungselement. In extremer Langsamkeit schreitend verkörperte sie Marionettenspieler und Marionette in Einem – passiv und aktiv zugleich – das Band vermittelte den Eindruck zweier Stäbe in steten Kippungen. „Unter den Sternen“ war das lyrische Äquivalent zu Dore Hoyers Drehtanz „Bolero“ von Ravel. Ein riesiger Reifen (1 Meter 40 im Durchmesser) war dabei ihr Partner, in dem sie und um den herum sie sich kreiselte. Die Amerikaner, die bei Manjas Tanzabend in Knoxville, Tennessee, 1961 fasziniert waren von ihren Tänzen, nennen es „spinning“. Kurt Peters, Herausgeber des „Tanzarchivs“, der Manja überaus schätzte, schwärmte kurz zuvor bei den Frankfurter Tanzwochen vom „herrlich apollinische(n) Reifentanz um Krishna, der Weltentanz“, zweifelte aber mit Recht an seiner blumigen Interpretation.
Die Tanzkritik beteiligte sich fachlich meist auf hohem Niveau am Diskurs über Abstraktion und lobte die „körperliche Materialtreue“ – „eine Tänzerin, die erfahren hat und erfahren lässt, was Bewegung ist.“ (Raimund Le Viseur 1961). Walter Kaul schrieb im „Kurier“ 1962: „Manja Chmièl tanzt Spannung und Funktionen. Sie analysiert Bewegungen. Ihre Figur könnte von Maillol modelliert sein und ihre Körperbeherrschung wetteifert mit der russischer Bodenturnerinnen. Sie pointiert die Gesten und steigert sie zu vehementer Plastik.“ 1965 bekannte er: „Der Ausdruckstanz ist aus seiner Stagnation herausgetreten. – Frappant in Tanz I der „Farbigen Suite“ die hämmernden, sichelnden, die Luft blitzhaft durchschneidenden Armhiebe (das war einst „Rhythmus und Gesang“) . . . zauberhaft wieder die ‚Tänze in Blau‘. Sie tanzte hier nicht ‚nach‘ Musik . . . eher schienen hier ihre suggestiven Hände die Töne zu dirigieren, ja sie förmlich aus der Luft zu holen.“
Ein weiterer Kenner der Materie, Georg Zivier vom „Tagesspiegel“, und Buchautor, bezweifelte 1965, dass die Abkehr vom Ausdruckstanz überhaupt möglich sei: „Das wird immer nur von ungefähr gelingen, denn der New German Dance Wigmanscher Richtung ist kein ‚Stil‘, ist nicht die Mode unserer Zeit, die von einer anderen Mode abgelöst werden kann. Ähnlich dem Ballett beruht der Deutsche Ausdruckstanz auf einer klaren Bewegungsidee, entspringt er Form- und Raumvisionen, die einmal materialisiert, nicht mehr wegzudenken sind, die vielmehr überall in der Welt weiterwirken. Man darf also Manja Chmièl als Choreographin und Tänzerin im Sinne Wigmanscher Disziplin werten, was sie auch dagegen einwenden mag. Und das gereicht ihr durchaus nicht zum Schaden.“
1962 hatte ihn noch geschmerzt, dass Manja sich „zu sehr am Zügel hält“, aber man müsse sie eben so nehmen wie sie ist und habe seinen hohen Genuss, wenn man sich am Absoluten ergötzen könne: „Manja Chmièl ist eine spröde und konzessionslose Tänzerin . . . (sie) gibt sich nicht preis, wie etwa Salome vor König Herodes. Auf geradezu asketische Weise sperrt sie ihre Intimsphäre ab, lässt sie nichts von brückenschlagenden Gefühlen aufkeimen. Sie tanzt als Reinste der Reinen und muss auf Menschen steril wirken, die keinen Sinn für Harmonien, Dissonanzen und Melodien absoluter Bewegungskunst mitbringen. Dabei hätte sie das Zeug hinzureißen. Ihre Tänze sind souverän im Technischen. Zu aparten, oft bizarren Ornamenten formt sich das Gliederspiel und löst sich rasch, um neue abstrakte Scharaden zu stellen. Ihre Drehtänze haben den großen wirbelnden Schwung. Jede ihrer kleinen Gesten mit den Händen und auch mit den Füßen ist ein wichtiger, wohlgesetzter Akzent. Oft haben ihre Bewegungsspiele odaliskenhafte Nuancen und bleiben dennoch eiskalt – eine Eskimo-Odaliske.“
Dieses Bekenntnis zur Form und die Absage an einen narrativen Gehalt wurde von Jahr zu Jahr deutlicher. „Es dürfte“, so Beda Prilipp 1964 im „Telegraf“, „ d a s leidenschaftliche Moment in dieser quellenden Fülle der Raumfiguren sein, die nunmehr auch keine charakterisierenden Namen mehr tragen, auf dass jede Möglichkeit des Missverstehens eines ‚Ausdruckstanzes’ mit dem Aufklingen von Gefühlen oder Gestalten entfalle. . . Der stärker eindringende Einfluss der gegenstandslosen Malerei ist offensichtlich. Aber er kann niemals absolut sein, weil der Werkstoff eben nicht Stoffe ohne eigenes Leben sind, sondern atmende, von Blut durchpulste Körper.“
1968 wurde Manja der Kritikerpreis für Tanz verliehen. „Durch diese Auszeichnung soll mit Nachdruck auf eine tänzerische Arbeit aufmerksam gemacht werden, der es bisher nicht vergönnt war, sich kontinuierlich der öffentlichen Diskussion zu stellen. Denn Manja Chmièls Kammerkunst . . . entzieht sich konventionellen Maßstäben durch ästhetische Konsequenz.“ Dieses Schicksal teilte durchaus auch die bekanntere Dore Hoyer. Ein Jahr zuvor hätte sie diesen Preis entgegen nehmen können, wenn sie sich nicht Tage zuvor das Leben genommen hätte. Die Ehrung kam viel zu spät. Dieses Ereignis, dazu wachsende Existenzschwierigkeiten in einer nun blühenden Ballettstadt und eine Verletzung führten dazu, dass Manja Berlin den Rücken kehrte und sich 1971 in Hannover niederließ – eine Stadt, die sie gut kannte. Hier war ihr Ehemann, der Flame Gustaaf Francis van der Loo, genannt Staf, Bratscher im Rundfunkorchester. Von ihm hatte sie meist freundlich getrennt gelebt. Nach der Scheidung und der Eröffnung des Studios in der Theaterstraße, wandte sie sich nun einem einst heftig ungeliebten Element zu: dem Unterricht von Laien.
Dass daraus durchaus eine Liebe wurde, darüber erfahren Sie später von Tom Ziehe mehr.
Wenn es einen Katalysator gab zwischen dem Expressionismus und dem Boom des zeitgenössischen Tanzes in den Achtzigern, dann war sie es. Manjas Schicksal: Ihre Kunst kam zu früh.
1984 wird sie – neben anderen noch lebenden Größen der Ausdruckstanzära – von der Akademie der Künste Berlin eingeladen, ein Seminar zu leiten im Rahmen des Projektes „Ausdruckstanz - Erinnerung mit Zukunft“. Das japanische Tänzerpaar Eiko & Koma – heute in New York lebend mit höchsten Preisen ausgezeichnet – sucht und findet sie auf der Suche nach einem Lehrer deutscher Tanztradition. Ein Glücksfall für alle drei. Dass Hans Fredeweß bei ihr zu lernen begann, bevor er zur Folkwang-Hochschule wechselte, verschweigt er nicht.
Als wir uns erst in den neunziger Jahren wieder trafen, war mir nicht mehr bewusst, was uns getrennt hatte. Ich war längst Journalistin und als Feldenkrais-Lehrerin zurück zur Bewegung gekommen. Ich hatte zuweilen Stoff über ihre Qualitäten zu schreiben, auf dass sie nicht vergessen werde. Kürzlich erst fragte ich sie, was es denn gewesen sei, was uns auseinander gebracht habe. Sie sagte: „Weil du zu ‚Motion’ gegangen bist“. Konnte ich so vergesslich gewesen sein? Tatsächlich kam es zum Bruch, als die erste freie Gruppe in Berlin, von Meisterschülern des Wigman-Studios gegründet, die übrigens alle glühende Verehrer von Manja gewesen waren, mich abwarben für das Projekt „Countdown für Orpheus“ in der Akademie der Künste, ein Multimediastück, in dem auch erstmals Susanne Linke tanzte. Es wurde in Berlin heftig verrissen, kurz darauf in Philadelphia aber gefeiert, als Group „Motion“ in die USA ausgewandert waren. Es gibt sie übrigens dort noch heute.
Ich konnte ihr und mir selbst wieder begegnen, als Manja vor fünf Jahren in der Reihe „Tanz und Text“ der Tanzfabrik Berlin geladen war. Sie las aus ihrer Autobiographie (für die sich bisher kein Verleger fand) und zeigte Filme (in leider ziemlich schlechter Qualität). Das junge Publikum war erstaunt, wie wenig Patina die Tänze der Gruppe Neuer Tanz und ihre Soli angesetzt hatten. Übrigens staunte man darüber auch in dem Labor von Experten, in dem ich soeben Thomas Schallmann getroffen habe. Der hat einige Tänze Manjas in Labanotation festgehalten und ihre Kunst zum Thema gemacht in einem Gremium, das sich um die neue Tanzausbildung des „Hochschulübergreifenden Zentrums für zeitgenössischen Tanz“ in Berlin Gedanken macht.
Manjas Anspruch an sich, ans Leben und an den Tanz ist immer sehr hoch und radikal gewesen – und so ist es geblieben bis in ihre letzten Tage. Ich vermisse ihre ätzende Kritik, ihr ungestümes Temperament sehr.
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