Von Frank-Manuel Peter

"Mein Vater wollte gern, ich sollte Ärztin werden, aber das war nicht so meine Mache, ich wollte zeichnen, und mein Vater sagte damals: 'Entweder du studierst, oder du kriegst die Ausbildung, aber du kriegst dann keine Mitgift!', – Und Mitgift war mir ja wurscht, nicht?" (1) Am liebsten wäre Marta Vietz 'zur Bühne gegangen', aber das schickte sich ja nicht, wenn man aus gutbürgerlichen Verhältnissen kam. So lief sie im Berlin der Novemberrevolution jeden Tag über eine Stunde zu Fuß zur "Höheren Fachschule für Textil- und Bekleidungsindustrie". Dort ist es insbesondere der Unterricht bei Walter Kampmann, der sie voranbringt. Durch ihn kommt sie auch in den Kreis der Novembergruppe und lernt Cesar Klein, Gropius, Mies van der Rohe und andere Prominente kennen. In den folgenden Jahren setzt sie ihre Ausbildung an der Kunstgewerbeschule fort und kommt durch ihren Vater, der in seinen Verlagsräumen eine ehemalige Telefonkabine zur Dunkelkammer umfunktioniert hat, zur Fotografie.

1925 folgt eine Fachausbildung im Fotoatelier von Lutz Kloss, und ab 1926 arbeitet Marta Vietz selbständig als Photographin sowie Werbe- und Gebrauchsgraphikerin. 1927 "beginnt die Zeit intensivster und künstlerisch ergiebigster Zusammenarbeit mit Heinz Hajek-Halke. Es entstehen die mit ,Combi-Phot' bezeichneten experimentellen Aufnahmen, deren Urheberschaft kaum jemals scharf zu trennen ist: Bildidee und -konzeption sowie photographische Realisierung erfolgen gemeinsam." (2) Heute das photographische Werk von Marta Astfalck-Vietz zu beurteilen, heißt, Einschränkungen machen zu müssen. Ihr gesamtes Archiv mit allen Negativen und Positiven fiel 1943 den Luftangriffen auf Berlin zum Opfer.  "Überlebt" haben neben ihren gedruckten, kommerziellen Arbeiten nur wenige Auftragsarbeiten bei den Bestellern und Modellen (bzw. in deren Nachlässen) sowie etwa 500 Arbeiten, die Marta Vietz im Laufe der Jahre ihrem Vater geschenkt hatte.


Rudolf Kölling in "Der Kuli", 1926. © Marta Astfalck-Vietz/Deutsches Tanzarchiv Köln

Dieses Konvolut, das sie 1989/90 der Berlinischen Galerie übereignete, umfasst glücklicherweise ihre wichtigsten Arbeiten, die inszenierten Bilder. Janos Frecot beschreibt: „Marta Astfalck-Vietz' Werk stellt nicht nur eine großartige Bereicherung der Sammlung im Bereich der Avantgarde der 20er Jahre dar, sondern eine bislang in dieser Art und Konsequenz neue Facette künstlerisch gestalteter Photographie überhaupt: vielleicht die eigenwilligste und dichteste inszenierte Photographie etwa in der Mitte zwischen dem Werk der englischen Lady Hawarden und der amerikanischen Cindy Sherman." Und im Vergleich zu ihrem Lehrer Lutz Kloss: "Die Differenz zwischen dem Traditionellen seiner Bildgestaltungen gegenüber ihren beginnenden eigenen Inszenierungen ist die zwischen kultivierter und gekonnter Atelier- und Magazinphotographie zur Avantgarde einer photographischen Konzeption, die auf der Entgrenzung der erotisch-narzistischen Selbstdarstellung aufbaut."(3)

Die inszenierten Photos sind überwiegend im Studio entstanden, ebenso die meisten Tanzphotos. Marta Vietz lernt früh durch eine Mitschülerin Mensendieck-Gymnastik kennen und ist seitdem von weichen, fließenden, tänzerischen Bewegungen fasziniert: "Bewegung ist eigentlich für mich das Lebende".(4)  Das klassische Ballett steht ihr näher als der in dieser Zeit so verbreitete Ausdruckstanz. Zu den Ausnahmen gehört beispielsweise eine erhalten gebliebene Serie mit einem farbigen Kabarett-Tänzer, oder Aufnahmen der Ausdruckstänzerin


Selbstbildnis. © Marta Astfalck-Vietz/Deutsches Tanzarchiv Köln

May Carlstedt, einer Jutta-Klamt-Schülerin: "Die war eine gebürtige Schwedin. Und da habe ich Bewegungsstudien gemacht im Atelier, nur mit meinen armseligen Scheinwerfern. Und aus der Bewegung heraus. Da haben wir dann eine Visitenkarte, eine Werbungskarte für sie gemacht, da existieren drei Aufnahmen in der Drehbewegung von ihr."(5)

Nur im Ausnahmefall fotografiert sie den Tanz auf der Bühne "Da mich Tanz nun schon vom Darstellenden immer begeistert hat, habe ich die Sabine Ress kennengelernt, und Sabine Ress [ ... ] war ja schon Assistentin von der Eduardowa. Und die Eduardowa bekam einen Auftrag, im Wintergarten die Gruppe tanzen zu lassen. [ ... ] Das muss 31/32 gewesen sein, [ ... ] könnte 1933 auch noch gewesen sein. Da habe ich dann die Photos im Theater, im Wintergarten gemacht bei den Proben. [ ... ] Was mich interessierte damals: [Da] bin ich bis auf den Schnürboden gekrochen mit der Kamera und habe von oben 'runter fotografiert, denn die machten ja dann zum Tanzen auch den Scheinwerfer an. Dies Photo muss noch existieren." (ebd.)


Die Tänzerin Lene Ludwig. © Marta Astfalck-Vietz/Deutsches Tanzarchiv Köln

Der Ehemann von Eugenie Eduardowa, Joseph Lewitan, ist bis 1933 Herausgeber der Zeitschrift Der Tanz. Von ihm kommen einige der Aufträge zu den aus heutiger Sicht "kommerziellen", unbedeutenderen Arbeiten. Ein Titelblatt der Zeitschrift zeigt im Dezember 1930 Marianne Winkelstern mit Grammophon und Ballettschuhen am Weihnachtsbaum. Ebenso zu bewerten sind Aufnahmen vom Oktober 1930 vom Kinderballett oder dessen Tütüs oder Ballettschuhe zeigend.


Exlibris, Holzschnitt. © Marta Astfalck-Vietz/Deutsches Tanzarchiv Köln

Auch andere, meist wohl auf der Probebühne entstandene Ballettaufnahmen aus dem Eduardowa-Kreis (6): von Sabine Ress, Alexander von Swaine und Nina Balabanowa mit ihrer Gruppe erscheinen im Vergleich zu Tanzphotographien von Hugo Erfurth, Charlotte Rudolph und Hans Robertson (von Ausdruckstänzern im Atelier) recht durchschnittlich. Auffallend dagegen sind ihre Fotomontagen, z.B. als ganzseitige Illustration zu einem Artikel "Der Tanz der Traumbühne''.(7)


Angesprochen auf eine von ihr am Vortag erwähnte Serie von Märchenthemen, äußert sie in einem Gespräch: "Ja, die machte ich auch auf eigene Kappe. Ich war immer freiberuflich und versuchte durch Fotoserien Geld zu machen, um leben zu können. Und da hatte ich eine Märchenserie angefangen, dazu habe ich dann die Daisy [Spies] gebeten, mir als Modell zu stehen, und zwar knieend. Wir haben das im Atelier so darzustellen versucht, dass sie auf einem Brunnenrand sitzt oder kniet und auf den Froschkönig wartet. [ ... ] Und den habe ich extra fotografiert und habe von einem Bleistiftende, die es damals gab, so 'ne kleine Krone abmontiert und den Frosch dann extra fotografiert und habe – wieder mit der Trickfotografiererei – die kniende Prinzessin und den Frosch auf eine Fotoplatte gebracht. Bis der Frosch aber nun diese Bleistiftkrone fotografiert auf dem Kopf hatte, waren einige Fotoplatten verbraucht (und zu der Zeit bekamen wir ja auch ganz schwer schon Fotoplatten)."


Selbstbildnis. © Marta Astfalck-Vietz/Deutsches Tanzarchiv Köln

Es entstanden natürlich auch Tanzaufnahmen von Daisy Spies und auch von ihrem späteren Ehemann Rudolf Kölling, der wie sie seit 1924 Solotänzer an der Berliner Staatsoper und ab 1934 Ballettmeister des Deutschen Opernhauses war. Diese Aufnahmen gehören wie wohl alle Fotos des künstlerischen Tanzes im Werk von Marta Astfalck-Vietz nicht zur experimentellen, avantgardistischen Seite ihres Schaffens. Dennoch stellen sie künstlerisch wertvolle und zugleich rare Dokumente aus der Frühzeit dieser dann bald sehr bekannt gewordenen Tänzer und Choreographen dar.


Daisy Spies, um 1926. © Marta Astfalck-Vietz/Deutsches Tanzarchiv Köln

Eine weitere Einschränkung ist zu machen: Das fotografische OEuvre ist ohnehin überwiegend nur in den Jahren von 1922-1935, meist 1926-1932 entstanden. Marta Astfalck-Vietz widmete sich später anderen bildkünstlerischen Arbeiten (sie schuf namentlich Hunderte von Pflanzenaquarellen) und nach dem Krieg pädagogischen Aufgaben. Zu ihrer vielseitigen Persönlichkeit gehörte auch, dass sie während des Dritten Reiches mit Selbstverständlichkeit den Widerstand unterstützte.

Im Februar 1994 verstarb Marta Astfalck-Vietz in Nienhagen bei Celle im Alter von 92 Jahren; die Wiederentdeckung und späte Würdigung ihres fotografischen Werkes hatte sie noch miterleben können.

Erstveröffentlicht in Tanzdrama, H. 26 / 1994, S. 8–10.

1) Aus: "Marta Astfalck-Vietz. Standorte sind zum Verlassen da." Filmporträt von Inken Dohrmann und Gerit von Leitner, 1992.
2) Janos Frecot, in: Marta Astfalck-Vietz. Photographien 1922–1935. Katalog der Berlinischen Galerie, Berlin 1991, S. 88.
3) ebd., Ss. 4, 6, 88.
4) Marta Astfalck-Vietz im Gespräch mit Frank-Manuel Peter; Tonband, Nienhagen, 25. Februar 1993.
5) wie Fußnote 2).
6) Originalabzüge im Deutschen Tanzarchiv Köln: Nachlass Alexander von Swaine, Nachlass Sabine Ress, Nachlass Hede Mehrmann.
7) Der Tanz, November 1930, S. 5 (Text von Kurt Freytag).
8) s. Fußnote 4). – Sie arbeitete vor allem mit Techniken der "Trickphotographiererei": Einmal durch Abdecken eines Photopapier-Bereichs beim Belichten und Abdecken des belichteten Teils beim Neubelichten mit dem zweiten Negativ. Zum anderen mit einem Flußsäure-Bad, in welchem die Gelatineschicht vom fertigen Glasplattennegativ gelöst und auf ein zweites fertiges Negativ übertragen wird.