von Frank-Manuel Peter

Bei Mary Wigman in Dresden konnte sie nichts mehr lernen: „Was soll das Ganze?!“ Sie nahm Anlauf, sprang in demonstrativer Langeweile durch das offene Fenster aus dem Tanzsaal in den Garten und verschwand. Ihre Mitschülerin Aenne Grünert kam nach dem Ende der Stunde verzweifelt aus der Garderobe: „Man hat mir mein Kleid gestohlen!“ Yvonne Georgi, die sich mit Vera Skoronel das möblierte Zimmer teilte, fand diese in Aenne Grünerts braunem Samtkleid auf der Chaiselongue liegend: „Wieso denn nicht, es steht mir doch so gut!“

Vera Skoronel

Niemand gelang es, sie zu zähmen. Ihr Großvater mütterlicherseits war ein prominenter russischer Revolutionär und führender Ideologe der Menschewiken. Ihr Vater, einst Mitstudent von Albert Einstein, leitete eigene Privatschulen und schrieb etliche Bücher, darunter eines über den modernen Tanz. Vera Skoronel war auch „mittels Sicherheitsnadeln und der Schulflagge des väterlichen Gymnasiums bekleidet“ und mußte sich angeblich in Dresden eine Zeitlang – nach Verlust des väterlichen Vermögens – von den in der Garderobe liegengelassenen Brotrinden ihrer Mitschülerinnen ernähren. Wenn sie sich keinen Alkohol mehr leisten konnte, trank sie das Eau de Cologne von Yvonne Georgi. Im Alter von 18 Jahren wurde Vera Skoronel Tanzregisseurin einer vom Opernbetrieb quasi unabhängigen Tanzgruppe an den Vereinigten Bühnen in Oberhausen, Hamborn und Gladbeck und hatte mit eigenen Werken wie „Das böse Quadrat“ großen Erfolg. „Ich brauche furchtbar viel Geld, weil ich mir mein Zimmer malen lasse, 80 M. […] aber ich mache dem Theater einfach eine Rechnung. Man kann da fein mogeln“, schrieb sie an ihre Stiefmutter. Die Tanzgruppe wurde wegen finanzieller Schwierigkeiten vor Ende der Spielzeit wieder abgebaut.

Nach kurzer Tätigkeit am Darmstädter Theater leitete sie mit ihrer Freundin Berthe Trümpy in Berlin eine Schule für modernen Tanz, vom Gebäude und der Tanztechnik her die modernste ihrer Art, hatte mit ihrem Auftritt beim Magdeburger Tänzerkongreß 1927 bahnbrechenden Erfolg als Solistin und leitete mehrmals eine eigene freie Tanzgruppe, deren Aufführungen Aufsehen erregten. Das bekannte Gruppenfoto vom Essener Tänzerkongreß 1928 zeigt sie in einem eleganten, knielangen weißen Kleid und geöffnetem Mantel, verschmitzt zum Fotografen lächelnd, einen Arm lässig über die Schulter des Pianisten Alfred Schlee gelegt, mit dem Rücken an den Kritiker Fritz Böhme gelehnt und dabei als einzige der 23 Personen ein Bein mit gestrecktem Fuß tänzerisch leicht angehoben vorstreckend. Mary Wigman und Yvonne Georgi waren sich noch 1973 einig, daß Vera Skoronel „entzückend, wahnsinnig begabt, genial, aber krank, unzurechnungsfähig, in einer Gemeinschaft nicht unterzubringen“ war, „weil sie jeden Gemeinschaftsgedanken störte.“ Am 24. März 1932 verstarb das wahrscheinlich größte Talent aus der Wigman-Nachfolgegeneration des modernen deutschen Tanzes der Weimarer Republik im Alter von nur 25 Jahren in Berlin, wohl an einer Blutkrankheit.

Kinderjahre

Vera Skoronel wurde am 28. Mai 1906 als Vera Lämmel in Zürich geboren. Ihr späterer Künstlername - wie mir ihr älterer Bruder Boris 1989 erklärte - war zunächst ein Kindername; ihre Mutter Sonja stammte aus Rußland, und deren Vater (der erwähnte Marxistenführer) oder ein anderer russischer Verwandter sagte zu der flink in der Wohnung umhertobenden kleinen Schwester: „Vera: skoro“, was ihr mit „schnell“ aus dem Russischen übersetzt wurde. Daraus machten die Kinder damals in Zusammenziehung einen zweiten Namen für sie: Vera Skoronel.

Rudolf Lämmel, ihr Vater, war ein aus Wien stammender, 1904 über „Methoden zur Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten“ promovierter Pädagoge, der es nach heutiger Forschungsmeinung eigentlich verdient hätte, „zusammen mit Maria Montessori, Paul Geheeb, Rudolf Steiner oder Ellen Parkhurst in den Olymp der damaligen Reformpädagogik aufgenommen zu werden“ (Martin Näf). Schon früh hatte er sich für den modernen Tanz interessiert, Isadora Duncan hatte - nach seiner Erinnerung bei einem Gastspiel 1902 in Zürich – „einen großen Eindruck“ auf ihn gemacht. Spätestens 1912 war Lämmel mit der Züricher Tanzschule Semmler-Rinke in Verbindung gekommen. Er verpachtete sein gutgehendes Reformgymnasium, um als Partner der Tanzschule ein Erziehungsheim für Mädchen auf der Grundlage rhythmischer Gymnastik in Hertenstein am Vierwaldstätter See aufzubauen. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieben jedoch die ausländischen Schülerinnen aus, und die Schule wurde zahlungsunfähig. Nach einem Intermezzo als Gastlehrer an der Odenwaldschule versuchte Rudolf Lämmel mehrmals, in der Schweiz ein Landerziehungsheim aufzubauen.

1917 starb nach längerer Krankheit die Mutter von Boris und Vera, und die Briefe der elf- und zwölfjährigen Vera an ihren Großvater berichten vom großen Kummer, den dieser Verlust für sie bedeutete. Ostern 1919 wurde sie für zwei Jahre Schülerin an der Züricher Laban-Schule von Suzanne Perrottet und Katja Wulff, an der sie laut Aussage ihres Vaters „mit dreizehn Jahren in einigen Tanzstunden mit Laban“ zusammenkam. 1921 folgte ein dreimonatiger Aufenthalt in Loheland, 1922 bis 1924 eine bisher nicht näher erforschte Zeit an der Dresdner Wigman-Schule und als Mitglied der ersten Wigman-Tanzgruppe.

Vera Skoronel über ihre Arbeit

Wigman und Palucca empfahlen sie ans Theater nach Oberhausen. An ihre Stiefmutter schrieb sie am 11. September 1924 von dort: „Alle hier am Theater sind Sklaven, und darin habe ich es herrlich. Ich bin ganz frei, über meine kleine Welt König – und, um in Theatersprache zu reden, an ‚allerhöchsten Stellen beliebt’. Erst war ich es allerdings nicht, aber als ich begriff, worum es sich dreht und ein ungemein liebenswürdiges, respektvolles Wesen annahm, und als dann die enormen Fortschritte in der Arbeit (drei schwere Gruppentänze in einer Woche) bekannt wurden - nun, seither habe ich Vertrauen und Achtung des Intendanten.

Weisst Du, was diese Aufgabe für Anforderungen an einen stellt, besonders geistig, das lässt man sich vorher nicht träumen. Und dann habe ich eine grosse, grosse Sorge, immer wieder das Alte: Ich halte es nicht aus mit meiner Gesundheit. [...] Eine krankhafte, bleierne Müdigkeit überfällt mich, wie eine dumpfe Betäubung, und das ist das Fürchterliche, ich hätte soviel, so viel Anderes zu tun. Ich muss mich ganz logisch konzentrieren, muss Skizzen, Berechnungen machen (ich baue die Gruppentänze absolut mathematisch auf, ohne intellektuell zu sein, nach gewissen, logisch intuitiven Eingebungen), müsste selber Technik, Solotänze machen, habe dem Theatermeister die Kostüme anzugeben, muss nach Düsseldorf fahren, Noten, Instrumente besorgen, gebe Stunden, sollte Pantomimen erfinden – und im Oktober kommen dann noch die Einstudierungen fürs Theater dazu [...]. Von Privatsachen, Zimmer suchen, Kleider, Wäsche anschaffen und andern Sorgen gar nicht zu reden. – Ich bin stolz, [...] dass ich die Beste aus der [Wigman-]Gruppe habe, und dass die sich bei mir wohlfühlt, ja dass sogar neue, schwere Anforderungen an sie gestellt werden, die ihr trotz der grandiosen Wigmanwerke noch fremd sind. Die Aenne Grünert, die schon bei Mary in den Sieben Tänzen des Lebens mit der Grete [Palucca] und Yvonne [Georgi] mittanzte, das ist sie. Und die andere aus der Gruppe, ein liebes, feines Geschöpf, technisch glänzend, Tina Flade, ist hier meine Assistentin. Carletto [Thieben] und der Bruder der [Ellinor] Tordis erledigen alle ekligen realistischen Dinge, die ich nicht kann. [...] Denke doch, für eine allererste Stellung bei meiner Jugend 500 M. und soviel Achtung, Selbständigkeit, Freiheit, wie sie andere am Theater sich erst erringen, nachdem sie jahrelang geschuftet. Nicht mal Terpis hatte es so, muss mit ollen Ballettratten anfangen. – [...] Ich kriege Blumen geschenkt, man nennt mich ‚die Skoronel’, wenn ich nach Düsseldorf will, kriege ich das Auto (einen fabelhaften Renner). [...] Und schön ist, dass wir von Bühne zu Bühne, von Theater zu Theater tanzen und die ekelhaften Konzertpodien gar nicht berühren.“

Rezension des Gladbecker Anzeigers

Wenn unser Stadttheater unser[en] Stolz bedeutet, so darf unsre Tanzgruppe uns übermütig machen“, heißt es in einer Rezension des Gladbecker Anzeigers von 1924. „Die neue Oberhausener dreiteilige Tanzpantomime, die unsre Tanzmeisterin Vera Skoronel mit Dr. Rosenberg, dem Hauskomponisten der Tanzgruppe, und Heinz Porep, dem Schöpfer von Szene und Figuren, erdacht hat, bedeutet einen völligen Bruch mit dem bisherigen Tanzstil, bedeutet sogar ein Überholen der bisherigen, in den Bahnen der Wigman bewegten Kunstäußerungen unserer Skoronel-Gruppe. Was wir in den bisherigen Tanzabenden dieser Spielzeit auf unserer Bühne gesehen haben, war höchste Ausdruckskunst des motorischen Menschenkörpers, absolute Verwirklichung seelischer Zustände oder Vorgänge in organischer Darstellung durch die Gesamtheit der dem Menschen zur Verfügung stehenden stummen Ausdrucksmittel, - und zwar eine Darstellung, die entweder auf Harmonie idealisiert oder auf Groteske verzerrt oder auf Abstraktion vergeistigt war. Was uns die neue Tanzpantomime bietet, schließt sich zwar in der Vergeistigung zur Abstraktion an das Bisherige an, geht aber insofern darüber hinaus, als es die Abstraktion nicht mehr auf den künstlerischen Gehalt beschränkt, sondern sie auch in die technische Formgebung einführt. Der Fortschritt spiegelt sich anschaulich im Unterschied zwischen dem Gruppentanz ‚Das Quadrat’, der den Besuchern der bisherigen Tanzaufführungen noch in bester Erinnerung sein wird, und der jüngsten Tanzschöpfung, die gestern in Essen aus der Taufe gehoben wurde. War im ‚Quadrat’ die abstrakte Gefühlsstimmung noch in den Bewegungsformen vermittelt, die die anatomische Natur des menschlichen Körpers bedingt, so gibt der neue Tanz die Auflösung dieser Formen in ihre dynamischen Linearkomponenten und die Projizierung der Bewegungskurven in die Ebene planimetrischer Kraftelemente.“ Das Libretto des dreiteiligen „Tanzspiels“ ist in Rudolf Lämmels Buch „Der moderne Tanz“ (1928) veröffentlicht, wo sich auch wertvolle Beobachtungen, namentlich zur Armführung und dem Einsatz von Isolationsbewegungen finden: „Der Arm wird als selbständiges, vom Körper unabhängiges Glied bewegt, braucht nicht dem Körperschwung zu folgen, vermag sogar in klaren Gegenrhythmen sich zu behaupten.“

Auf einem Programmzettel zur Skoronel-Gedenkfeier 1932 heißt es zusammenfassend:

„Vera Skoronel [...] bedeutet einen entscheidenden Schritt in der Richtung auf den neuen Tanz als objektivierte, übermittelbare, von strengen Formgesetzen beherrschte Kunst. Auf reine Formen und gesetzmäßige Komposition war ihr künstlerisches Wollen so sehr gerichtet, daß sie mit Notwendigkeit über das enge Gebiet der hergebrachten typisch-menschlichen Gefühle und Bewegungsabläufe hinausstoßen mußte, um neue, reinere Gebilde in den Bereich des Tänzers zu ziehen: die Welt der sogenannten abstrakten, geometrischen, maschinellen Formen. Seelisch, in der erlebten Spannung diesen vielfach mißdeuteten Formen gewachsen, ja völlig adäquat zu sein, - das unterscheidet diese ‚abstrakten Tänze’ fundamental von bloß intellektuellen Konstruktionen und vom spielerischen Mißbrauch eines ornamental verharmlosten ‚Maschinenwesens’.“ 

Dieser Text wurde, geringfügig verändert, zuerst veröffentlicht im „Tanzjournal“ Nr. 3 vom Juni 2006, S. 16-20.

Das Deutsche Tanzarchiv Köln hat einen Teilnachlaß Vera Skoronels archiviert, dessen Provenienzen vor allem ihr älterer Bruder Boris Lämmel und der Nachlaß ihrer Freundin und Co-Schulleiterin Berthe Trümpy sind, angereichert durch weitere Sammlungsbestände und Schenkungen. Im privat aufbewahrten Nachlaß von Rudolf Lämmel befindet sich weiterer Bestand zu ihr, welcher als Teilnachlaß von Vera Skoronel angesehen werden kann und leider der Forschung bisher nicht zugänglich ist.