von Hellmut Gottschild 2002

Til Thiele ist gestorben. Sie hatte den Tod herbeigesehnt, sich auf ihn vorbereitet. Nicht weil sie unglücklich oder leidend war – sie war einfach fertig mit dieser Welt, hatte alles erledigt, was hier für sie zu tun war. Seit zwei Jahrzehnten hatte sie in dem bescheidenen Holzhaus in einer Feriensiedlung am Südufer des Ontariosees in Waterport im Staat New York gelebt. Der Kreis von Menschen, mit denen sie in Kontakt war, hatte sich von Jahr zu Jahr verkleinert und beschränkte sich während der letzten Jahre auf die Sufi-Gemeinde, der sie angehörte sowie einige ehemalige Schüler, die gelegentlich von irgendwo in der Welt angereist kamen, um sie zu sehen.

Für mich markierte die Begegnung mit Til einen Wendepunkt meines Lebens. Es war 1956, im Berliner Mary Wigman Studio lief ein Abendkurs für Studenten der Hochschule für Bildende Künste, wo ich seinerzeit studierte. Eine Freundin nahm mich dorthin mit. Tils Stunde hatte das Thema ‚Motorik‘ – noch heute erinnere ich mich der Bewegungen und Rhythmen, die sie uns damals gab – und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Erlebnis des Sich-in-den-Tanz-Verlierens. Sie hatte mir eine neue Welt gezeigt, fremd und atemberaubend schön, anders als alles bisher Erlebte, eine Welt, der einmal anzugehören von nun an mein Traum war.

Til Thiele tanzend in den 1930er Jahren, als Mitglied der Palucca-Schule. Til Thiele tanzend in den 1930er Jahren, als Mitglied der Palucca-Schule. Foto mit rückseitiger Widmung an die Mitschülerin Hilde Baumann: „arbeite immer fleissig und denke an uns. Til“
Foto © Deutsches Tanzarchiv Köln
Zweimal Til Thiele. Fotomontage Zweimal Til Thiele. Fotomontage
Foto © Werner Eckelt / Deutsches Tanzarchiv Köln

Sie war der Engel an der Pforte dieses Reiches. Sie entschied, wer eintreten durfte und wer nicht hineingehörte. Gleichzeitig sah ich sie als die Verkörperung des Tanzes, überlebensgroß. Vor ihr wurde ich, damals zwanzigjährig und bereits ziemlich überzeugt von mir selbst, noch einmal zum Kind, bereit alles anzunehmen, alles zu glauben, alles heilig zu halten, was von ihr kam. Ihre Strenge, Disziplin und eine – scheinbare – Unnahbarkeit verstärkten dieses Bild. Ich glaube, dass Til für viele junge Tanzbegeisterte dieser Engel am Tor und Führerin durch das Reich des Tanzes war. (Auch für ältere: meine Mutter z.B.. Sie war in ihren Sechzigern, als sie bei Til zu studieren begann. Sehr schnell kam auch sie dazu, Til zu  vergöttern.) Natürlich leuchtete der Heiligenschein, den ich ihr verliehen hatte, nur zu Beginn so hell und manchmal, besonders als ich Mary Wigmans Assistent und damit Tils Kollege wurde, gab es auch Meinungsverschiedenheiten zwischen uns. Was jedoch geblieben ist, sind Bewunderung, Achtung und Dankbarkeit. Ich habe gern und viel von ihr gelernt.

Til war Mary Wigmans Vertraute und Hauptlehrkraft. Sie war verantwortlich für einen großen Teil der Berufsausbildung und für den gesamten Laienbetrieb. 1949 waren die beiden einander auf der Straße begegnet (sie kannten sich aus der Dresdner Zeit, wo Til eine enge Mitarbeiterin von Palucca gewesen war). Mary, einer Berufung des Senats von Berlin folgend, war im Begriff, in der Stadt eine Wigmanschule zu eröffnen und fragte Til, ob sie mit ihr arbeiten wolle. Als diese zögerte, versprach sie ihr: „Du machst deine Arbeit und ich mache meine.“ Til nahm gerne an, denn „Bei Palucca durfte ich nur Palucca machen, nichts als Palucca.”

Zusammen bauten sie das Studio in einer alten halbzerstörten Villa in Dahlem auf, in welcher beide sogar eine Zeit lang wohnten, Til unterm Dach, direkt über Marys Zimmer. „Morgens früh klopfte sie mit dem Besenstiel an die Decke und ich wusste, dass ein gutes Frühstück bereitet war, denn Mary erhielt Care-Pakete aus Amerika. Nach dem Frühstück machten wir das Studio sauber und dann begann der Unterricht.”

Noch in ihrer Dresdner Zeit war Til regelmäßig während der Sommerferien nach Paris gereist, um dort bei Etienne Decroux und Marcel Marceau Pantomime zu studieren. Das Gelernte war Teil ihres Unterrichts, aber auch ihrer Ästhetik geworden, und eine interessante Spannung zwischen der gefühlsbetonten Dramatik des Tanzes, den sie bei Palucca studiert hatte und der Formenstrenge der Pantomimentechnik war entstanden. Es war, als ob in ihr emotionelle Vulkane zum Ausbruch drängten aber von der Kruste eines strengen Willens zurückgehalten wurden. Erst später lernte ich, dass sich hinter der Kruste tiefe Verwundbarkeit verbarg – und manchmal sogar Schwäche. Vielleicht liegt eine gewisse Tragik darin, dass sie sich damit beschieden hat, immer im Schatten dominanter Persönlichkeiten zu arbeiten: Mary Wigman, Gret Palucca, Dore Hoyer ..., dass sie immer Zweite war. Abgesehen von kurzen Studien in der Schule habe ich nie eine Choreografie von ihr gesehen und weiß nur aus ihren Erzählungen, dass sie selbst einmal getanzt hat. Sie hat sich mit der Rolle der Assistentin und Pädagogin begnügt. Doch was sage ich? Begnügt? In dieser Funktion hat sie Vielen mehr gegeben als mancher Bühnenstar.

Til Thiele (vorn) und Ursula Kosinsky als Mitglieder der Dore-Hoyer-Gruppe im Tanz ‚In Memoriam‘ aus dem Zyklus ‚Tänze für Käthe Kollwitz‘, Dresden 1946. Til Thiele (vorn) und Ursula Kosinsky als Mitglieder der Dore-Hoyer-Gruppe im Tanz „In Memoriam“ aus dem Zyklus „Tänze für Käthe Kollwitz“, Dresden 1946.
Foto © Lenka v. Koerber / Deutsches Tanzarchiv Köln
Til Thiele hinter Mary Wigman bei einer Probe. Til Thiele hinter Mary Wigman bei einer Probe.
Foto © Deutsches Tanzarchiv Köln
Til Thiele tanzt. Skizze von Erich Seidel. Berlin 1953. Til Thiele tanzt. Skizze von Erich Seidel. Berlin 1953.
© Deutsches Tanzarchiv Köln
Mary Wigman, Ulrich Kessler und Til Thiele bei einer Besprechung musikalischer Belange. Mary Wigman, Ulrich Kessler und Til Thiele bei einer Besprechung musikalischer Belange.
Foto © Siegfried Enkelmann / VG BildKunst, Bonn

1965, als es klar wurde, dass Mary ihre Lehrtätigkeit bald beenden würde, eröffnete Til eine eigene Schule, unterrichtete jedoch weiter bei uns bis zur Schließung des Wigman Studios im Sommer 1967. Ich ging 1968 in die USA, und wir verloren einander für Jahre aus den Augen. Til betrieb ihre Schule bis 1971, begann jedoch schon 1968, Einladungen aus Kanada zu Sommerkursen an verschiedenen Colleges zu folgen. 1973 dann siedelte sie endgültig nach Toronto über und begann ein neues Leben – im Alter von sechsundsechzig Jahren. Es war in Toronto, dass wir uns zum ersten Mal wiedersahen und fanden, dass unser Verhältnis von der Lehrer/Schüler- über die Lehrer/Kollege-Beziehung schließlich zur Freundschaft gewachsen war. Oft noch unternahm ich danach die Pilgerfahrt von Philadelphia nach Toronto und später, Mitte der 1980er und durch die neunziger Jahre hindurch, nach Waterport.

Ich habe hier von der Til Thiele gesprochen, die mir vertraut war. Doch war sie, als ich ihr begegnete, schon beinahe fünfzig. Von der Zeit davor weiß ich nur aus ihren Erzählungen: wie sie als Kind im Hause Paul Klees verkehrte, diesem zusah wie er auf dem Cello improvisierte und dann die Improvisation zum Bild verwandelte; wie sie mit fünf Mark in der Tasche aus dem Elternhaus fortlief, um sich bei Gertrud Loeser, der Ballettmeisterin am Düsseldorfer Opernhaus vorzustellen; wie diese sie mit einem Laib Brot und einer Fahrkarte nach Dresden zu Palucca schickte; wie sie jahrelang an Paluccas Schule bei anderen Lehrkräften studierte aber nie Paluccas eigene Klassen besuchte („ich hasste sie.”), dann mit Palucca eine Art Waffenstillstand schloss, um schließlich jahrelang mit ihr zu arbeiten; wie sie sich mit einem Bildhauer namens Thiele verheiratete, um diesen bald darauf im Krieg zu verlieren, wie sie – ihrem Hund zuliebe – bei dem Großangriff auf Dresden in den Park ging anstatt in den Keller des Hauses, welches in derselben Nacht total zerstört wurde; wie sie nach Kriegsende mit Dore Hoyer, ihrer guten Freundin bis zu deren tragischem Ende, an den Käthe-Kollwitz-Tänzen arbeitete und vieles mehr. Vielleicht gibt es noch Menschen, die Til aus jener Zeit oder von einer anderen Seite kennen und mehr von ihr erzählen können.

Neulich wählte ich ihre Nummer. Ich wollte meinen nächsten Besuch verabreden. Keine Antwort. Ich rief eine Nachbarin an, eine gute Bekannte Tils: Til war am 14. Juni gestorben. In ihrem Haus. Ganz schnell, undramatisch und ohne langes Leiden. Sie war fünfundneunzig.