Vortrag zur Ausstellungseröffnung „Irgendwas fehlt immer – Vom Sammeln und Bewahren“
von Frau Dr. Martina Wiech, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilungsleitung - Abteilung Rheinland

                                                                            
Sehr geehrter Herr Charles, sehr geehrter Herr Minwegen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Tanzarchiv,

„Irgendwas fehlt immer.“ Den Titel dieser Ausstellung finde ich ganz großartig. Er fasst in drei kurzen Worten ein Grundgefühl archivarischer Tätigkeit zusammen. Man könnte dieser Aussage mit Resignation begegnen, tatsächlich werden viele Archivarinnen und Archivare den Satz aber fortsetzen mit „und das ist gut so“. 

Ausgangspunkt aller archivischen Aufgaben ist die Überlieferungsbildung, sie ist unsere wichtigste und vornehmste Aufgabe. Das gilt für öffentliche Archive von Bund, Land und Kommunen mit ihren fest umrissenen Zuständigkeiten, aber auch für Spezialarchive wie das Deutsche Tanzarchiv, das als Institution seit 1985/ 86 sehr aktiv und erfolgreich Quellen zum Tanz in Deutschland sammelt. Mit der Überlieferungsbildung ist untrennbar die Bewertung verbunden. Mit der Entscheidung über die Archivwürdigkeit des Materials formen Archivarinnen und Archivare die Quellen, mit denen ihre Nutzerinnen und Nutzer anschließend arbeiten können. Ziel der Bewertung ist dabei durchaus ein Abbild der Lebenswelt, aber eben nicht die allumfassende Erhaltung aller Dokumente und Materialien. Bewertung kondensiert vielmehr aus der Totalität des Erhaltenen die archivische Überlieferung. Alles zu erhalten, würde die Gesellschaft, wie auch den einzelnen Menschen hoffnungslos überfordern. In der analogen Welt setzten begrenzte Magazinkapazitäten die Grenzen. Aber auch in Zeiten digitaler Speichertechnik ist die Reduktion der Informationen zwingend erforderlich, auch wenn KI uns zukünftig dabei helfen wird, Schneisen in die Informationsflut zu schlagen.

„Irgendwas fehlt immer“ ist also aus archivischer Sicht eine vollkommen normale und auch wünschenswerte Zustandsbeschreibung. Es kommt vielmehr darauf an, warum etwas fehlt. Sammlung darf nicht willkürlich sein und dem Zufallsprinzip folgen, sondern muss auf bewusst getroffenen Bewertungskriterien aufsetzen, die transparent und für die Nachwelt dokumentiert sind. Das kann auch damit verbunden sein, dass einmal erkannte Überlieferungslücken durch eine gezielte Sammlungsergänzung geschlossen werden. 

Das einzelne Archiv ist dabei als Teil einer komplexen Archivlandschaft zu sehen. Auch in den Beständen des Landesarchivs werden Sie Material zur Geschichte des Tanzes finden, z.B. zur staatlichen Tanzförderung in den Beständen des Kultusministeriums oder – sogar noch etwas näher am eigentlich Phänomen Tanz – in den Unterlagen der Hochschule für Musik und Tanz, die vom Landesarchiv NRW archivisch betreut wird. Für das historische Bild vom Tanz als der flüchtigsten performativen Kunstform sind aber Spezialarchive wie das Deutsche Tanzarchiv unverzichtbar. Sie sichern mit der Vielfalt ihrer Bestände – Nachlässe, Kostüme, Requisiten, Programmhefte, Plakate, Fotografien, Filme, Kritiken und Literatur – das komplette kulturelle Erbe des Tanzes. Diese Archivalien passen sicherlich nicht immer in den klassischen Archivkarton. Aber gerade in dieser Vielfalt bieten sie ganz wunderbare Möglichkeiten, die Geschichte des Tanzes für eine breite Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Ausstellung, die wir heute hier eröffnen, ist das beste Beispiel dafür.

Damit komme ich zum Untertitel der Ausstellung: „Vom Sammeln und Bewahren“. Damit sind die grundlegenden Aufgaben eines Spezialarchivs angesprochen. Die Aufgabe des Archivierens erschöpft sich aber nicht darin. Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Blick auf mein Terrain, die öffentlichen Archive. Das nordrhein-westfälische Archivgesetz gibt in § 2 Abs. 7 eine umfassende Definition: „Archivierung umfasst die Aufgaben Unterlagen zu erfassen, zu bewerten, zu übernehmen und das übernommene Archivgut sachgemäß zu verwahren, zu ergänzen, zu sichern, zu erhalten, instand zu setzen, zu erschließen, zu erforschen, für die Nutzung bereitzustellen sowie zu veröffentlichen.“ Ein breites Spektrum an Aufgaben, und es ist durchaus eine Herausforderung, ihnen allen in gleicher Weise gerecht zu werden.

„Sammeln und Bewahren“ ist auch für das Tanzarchiv kein Selbstzweck. Es versteht sich vielmehr als weltweit vernetztes Informations-, Dokumentations- und Forschungszentrum für Tanz. Die Nutzung der Bestände durch die tanzwissenschaftliche Forschung und ganz konkret im Rahmen der Tanzausbildung ist ein konstituierendes Merkmal dieses Archivs. Die im letzten Jahr eingeleitete Entwicklung zum „Kompetenzzentrum Tanz NRW“ ist eine konsequente Fortführung dieser Vermittlungsaufgabe.

Diese Entwicklung steht ganz im Zeichen des Digitalen. Für alle Archive ist die Digitalisierung Herausforderung und Chance zugleich. Chance, weil Archivalien – ob retrodigitalisiert oder born digital –  in größerer Menge leichter zugänglich werden, Herausforderung, weil die digitalen Archivalien neue Konzepte zur Bewertung, Erschließung, Bestandserhaltung und Bereitstellung benötigen. Das Tanzarchiv begibt sich auf diese Reise in die digitale Welt. Und ich freue mich, es im Rahmen meiner Beiratstätigkeit dabei begleiten zu dürfen.

Ich begreife die Ausstellung, die wir heute hier eröffnen, somit als eine Art Zwischenbilanz: Sie zeigt das breite Spektrum und die Vielfalt der bisher vom Tanzarchiv gesammelten Überlieferung, weist Lücken auf und skizziert zukünftige Entwicklungen. 
Ich komme damit zurück auf den Ausstellungstitel als meinen Ausgangspunkt: Irgendwas fehlt immer. Das Archivieren ist also in gewissem Sinne eine Sisyphosaufgabe. Allerdings eine, die sehr erfüllend und beglückend sein kann. Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen des Tanzarchivs daher, dass sie weiter so unermüdlich und mit so viel Freude und Engagement für das kulturelle Erbe des Tanzes arbeiten. Auch wenn immer etwas fehlt, das Sammeln und Bewahren geht weiter!