von Frank-Manuel Peter

Wenn man in der heimlichen Bundeshauptstadt Berlin in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren an den kulturellen Ereignissen Interesse hatte, insbesondere an denen der Bühnen und Konzertpodien, dann hing man geflissentlich am literarischen Tropf der großen Kritiker dieser Zeit. In Westberlin gab es damals neben der älteren Generation vor allem drei, die Rang und Namen hatten und permanent berichteten: Friedrich Luft (1911 – 1990), Karena Niehoff (1920 – 1992) und Klaus Geitel (1924 – 2016). Der rote Faden Ariadnes, der diese drei so verschiedenen Persönlichkeiten im Presse-Labyrinth miteinander verknüpfte und sie im Folgenden als eine Art gemischtes Triumvirat erscheinen lässt, hat einen prominenten Namen: Valeska Gert.

Hans Werner Henze und Klaus Geitel, vermutlich im Gästehaus der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg. Hans Werner Henze und Klaus Geitel, vermutlich im Gästehaus der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg.
© Roger Fritz
Hans Werner Henze und Klaus Geitel, vermutlich im Gästehaus der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg.

Am populärsten unter jenen Drei war die „Stimme der Kritik“, der Theaterkritiker Friedrich Luft, dessen jahrzehntelange rasante sonntägliche Sammelbesprechungen weder dem Autor und Sprecher, noch seiner großen Zuhörerschaft im RIAS viel Zeit zum Atmen ließen und stets mit dem Hinweis auf die Fortsetzung in einer Woche endeten: "gleiche Stelle, gleiche Welle". Wurde einem die Ehre zuteil, ihn im Häuschen seiner Gattin (wie er betonte) in der Schöneberger Maienstraße 4 besuchen zu dürfen, so traf man ihn im ersten Stock zwischen einem von Studenten ausgegrabenen großen Marmorkopf aus der kaiserlichen "Puppenallee" und einer Reihe von Aktenordnern: "Meine Gesammelten Werke

Klaus Geitel im Gespräch mit Maurice Béjart. Klaus Geitel im Gespräch mit Maurice Béjart.
Foto © N.N. / Deutsches Tanzarchiv Köln
Klaus Geitel im Gespräch mit Maurice Béjart.

sind bei Leitz erschienen", scherzte er dann. In ihnen findet sich auch sein Nachruf auf Valeska Gert, etwas reißerisch "Der Tod der Tänzerin G." betitelt und gar nicht vom Tod, sondern vom Leben berichtend.[1] Natürlich konnte in der WELT nur ein Nachruf auf die Tänzerin erscheinen, und hier schrieb ihn der Theaterkritiker (Luft) und nicht der Musik- und Ballettkritiker (Geitel). Die Einleitung, dass Friedrich Luft sie "wie kein zweiter Journalist kannte", war jedenfalls nicht ganz richtig, wie auch so manche Feinheiten im Text. Aber für rasende Reporter sind schließlich nicht die Feinheiten, sondern das geschaute Gesamtbild wichtig, und das war treffend im typischen Stakkato-Stil skizziert: "eine verwunderliche, explosiv expressive, eine ganz unwiederholbare Erscheinung, eine zauberische Unruhestifterin, nur ihrem eigenen Dämon gehorchend."

Von einer ganz anderen Perspektive schaute Karena Niehoff beim Schreiben auf die Berliner Theaterpremieren und auf die Filmfestspiele. Sie lebte im ersten Stock der Zähringer Straße 13 in Wilmersdorf, dem Haus, in welchem einst auch die Tänzerin Anita Berber gewohnt hatte. Karena Niehoff verstand es, ihre Leser sprachlich in theatrale Zauberwelten mitzunehmen. Ihr Gegenpol war aber nicht Friedrich Luft, sondern der damalige Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegels, dessen Theaterkritiken so trocken aufgetischt und mit ihren chemischen Inhaltsstoffen und Kalorienwerten erläutert wurden, dass der schauspielhungrige Leser, dem Verdursten nahe, die Tafel vielleicht vorzeitig verließ und es nicht mehr für erstrebenswert hielt, das Ende des Textes oder gar die Aufführung im Theater zu erreichen. Karena Niehoff

Klaus Geitel im zweiten Teil („Die Spitze“) seiner Sendereihe „Ballett – Die ruhelose Kunst“ im WDR-Fernsehen (Sendung: 5. Juni 1970). Klaus Geitel im zweiten Teil („Die Spitze“) seiner Sendereihe „Ballett – Die ruhelose Kunst“ im WDR-Fernsehen (Sendung: 5. Juni 1970).
Foto © WDR
Klaus Geitel im zweiten Teil („Die Spitze“) seiner Sendereihe „Ballett – Die ruhelose Kunst“ im WDR-Fernsehen (Sendung: 5. Juni 1970).

dagegen servierte ein kulinarisches Festmahl an Sprache, Bildern und Informationen, die auch auf eine weniger spektakuläre Inszenierung großen Appetit machen konnten. Zu den Premieren kam sie regelmäßig zu spät, und Generalintendant Boy Gobert ließ den Vorhang des Schillertheaters erst aufgehen, wenn ihm die letzte am Eingang verweilende Kartenprüferin endlich das Eintreffen von Frau Niehoff gemeldet hatte. Vom gesamten Premierenpublikum be(tr)achtet strebte diese inzwischen ihrem Sitzplatz in der Mitte der vorderen, sehr langen Parkettsitzreihen zu. Sowie sie sich gesetzt hatte, ging das Licht aus und das hinter der Niehoff sitzende Publikum begann, sich halblaut über ihre Hutkreationen zu mokieren, da sie diese aufbehielt. Nach dem Schlussapplaus (sie klatschte als Kritikerin nicht) eilte sie heim, um noch lange mit ihrer jeweiligen Begleitung über das Theaterereignis zu telefonieren, anstatt rasch ihre Rezension zu verfassen. Namentlich in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung wartete derweil eine auf sie spezialisierte Dame in der Nachrichtenaufnahme müde auf das telefonische Diktat. Auf ihre (eigenen) Überschriften war Karena Niehoff zu Recht stolz. Ihr Nachruf auf Valeska Gert liest sich gänzlich anders als der von Friedrich Luft.[2] Schon ihre Mutter Rose Niehoff war mit Valeska Gert befreundet gewesen, und ihre Tochter Ariane hätte als Wahl-Enkelin beinahe das Reetdachhaus der Gert in Kampen auf Sylt geerbt. In ihrer Jugend hatte Karena Niehoff über die Nürnberger Prozesse berichtet. Sozusagen als Ausgleich für die Freundschaft prominentester bundesrepublikanischer Theater-Persönlichkeiten ihrer Zeit (wie beispielsweise George Tabori) hatte ihr das Schicksal seit damals außerdem eine treue antisemitische Fangemeinde beigesellt: Meist mit bayerischen Poststempeln versehen erhielt Karena Niehoff jahrzehntelang immer wieder mal anonyme Schmähbriefe und Morddrohungen.

Von wiederum einer ganz anderen Perspektive ließ Klaus Geitel seine Leser und Hörer an seinem eigenen Staunen über die Schönheiten und Glanzleistungen der Künste teilnehmen. Er lebte hochparterre in der Livländischen Straße 10 in Wilmersdorf in einer Wohnung, die früher Ufa-Schauspielern gedient hatte, und arbeitete in der Nr. 8 in einem zu Büro und Bibliothek umfunktionierten ehemaligen Laden, an dessen immer wieder neu dekoriertem Schaufenster viele Kinder staunend stehen blieben. Eine große Zahl seiner Kritiken schrieb er jedoch auf Reisen in Hotels.

Klaus Geitel zwischen zwei Rauchern im Verlag (19.3.1964): Friedrich Luft (links) und Dr. Georg „Ramses“ Ramseger (rechts), der WELT-Feuilletonchef (von 1953–1965). Klaus Geitel zwischen zwei Rauchern im Verlag (19.3.1964): Friedrich Luft (links) und Dr. Georg „Ramses“ Ramseger (rechts), der WELT-Feuilletonchef (von 1953–1965).
Foto © N.N. / Deutsches Tanzarchiv Köln

Klaus Geitel stammte aus einem großbürgerlichen, kulturinteressierten Elternhaus und liebte Musik und Theater seit der Kindheit, hatte sogar – noch Schüler – in der Berliner Krolloper und im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt als Statist mitgewirkt. Nach dem Krieg studierte er in Halle aus kulturellem Wissensdurst Musikwissenschaften, Archäologie, Germanistik, Romanistik – sowie Kunstgeschichte beim berühmten Wilhelm Worringer, und diese dann weiter bei Edwin Redslob in Berlin. Klaus Geitel wollte über Jean Fouquet

Klaus Geitel (rechts) im Gespräch mit Günter Grass im ersten Teil seiner Sendereihe „Ballett – Die ruhelose Kunst“ im WDR-Fernsehen (Sendung: 22. Mai 1970). Klaus Geitel (rechts) im Gespräch mit Günter Grass im ersten Teil seiner Sendereihe „Ballett – Die ruhelose Kunst“ im WDR-Fernsehen (Sendung: 22. Mai 1970).
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promovieren, den wohl bedeutendsten französischen Maler des 15. Jahrhunderts. Ein dreimonatiges Forschungsstipendium für Paris brachte ihm jedoch die offizielle Erkenntnis, dass das Forschungswissen der deutschen Kunsthistoriker über Fouquet leider auf dem Stand von vor 1933 war und es inzwischen nicht mehr viel über ihn zu erforschen gab. Und die private Erkenntnis, dass das internationale kulturelle Leben in Paris noch forscher und aufregender war als das im Nachkriegsberlin. Aus den drei Monaten wurden rund anderthalb Jahre. Hatte sich Klaus Geitel schon zuvor in Berlin durch Tatjana Gsovsky für Tanz begeistern können, so verfiel er nun in Paris regelrecht dem Ballett. In seinen Memoiren schreibt er: "Ich besuchte allein im ersten Jahr meines Paris-Aufenthalts 178 Ballett-Vorstellungen. Ballett erschien mir mit einem Schlag als Europas höchst entwickelte Kunst." [3] Er widmete sich aber auch mit Genuss einer Vielzahl von Theater-, Opern-, Film- und Musikereignissen, lernte bildende Künstler wie Alberto Giacometti, Hans Bellmer, Wols oder Lou Albert-Lasard persönlich kennen und freundete sich in Paris beispielsweise mit Hans Werner Henze und Jean-Pierre Ponnelle an. Henze konstatierte in seinen Memoiren über Klaus Geitels Pariser Zeit: "Er hatte gerade begonnen, sich zu einem Ballett-freak zu entwickeln, und kannte sich in dieser Materie schon recht gut aus. Auch er interessierte sich damals noch nicht besonders für Opern."[4]

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An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die Fotografen Cordula Groth und Roger Fritz (s.o.)!

[1] Welt am Sonntag vom 26. März 1978.
[2] Karena Niehoff: Rede zum wirklichen, zum endlichen Tod der Valeska Gert... (vor dem Sarge: den Brettern, die fortan ihre Welt bedeuten; dem Orte ihres letzten Auftritts vor der vermutlichen Höllenfahrt. Wer da lacht, wer lacht, wie keiner lacht, lacht, wie sie lacht). In: Frank-Manuel Peter: Valeska Gert. Tänzerin, Schauspielerin, Kabarettistin. Berlin 1985, S. 122–124.
[3] Zum Staunen geboren, Berlin (Henschel Verlag) 2005, Zitat S. 60; so betitelt in Anspielung auf die Memoiren seines eine Generation älteren Kollegen Hans Heinz Stuckenschmidt: Zum Hören geboren.
[4] Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926 – 1995. Frankfurt am Main 1996, S. 121.

Frank-Manuel Peter, Thomas Thorausch (Hg.)
Man ist kühn genug, um unmodern zu sein.
Klaus Geitels Tanzkritiken 1959–1979.
Leipzig 2019
335 S.
Buchhandelspreis 18,- Euro