von Frank-Manuel Peter
„’Eine Arbeitsgemeinschaft soll das sein? Das ist ein Sauladen!’ Damit ging ich und erschien nicht wieder. Die Kölner Expressionistische Bühne starb sang- und klanglos dahin.“ [1] So geschehen am 25. März 1920 in Bonn nach der Aufführung von Rabindranath Tagores Chitra als Gastspiel der Jung-Künstlerischen Arbeitsgemeinschaft (J.K.A.). Wolfgang Martin Schede erinnert sich weiter: „Wir hatten kein Geld, wir hatten kaum etwas zu essen; wir malten unsere Dekorationen auf Restrollen von Rotationspapier und waren besessen von unserer Mission, wie das bei jungen Kerlen üblich ist, die glauben, Traditionen seien nur da, um über Bord geworfen zu werden, aber mit ihrer Arbeit begänne eine neue Ära. Wir hatten sogar eine kleine Zeitschrift [2], in der wir unser Programm ankündigten: ‚Wir wollen das neue Theater, das ekstatische Theater, das Theater des Menschen’. Drunter taten wir’s nicht. Dabei hatten wir ganz außer acht gelassen, dass die reifste Zeit des Expressionismus schon vorbei war. Da man uns aber jahrelang [im Ersten Weltkrieg] die Möglichkeit zur Information und zur Konfrontation mit Publikum und Presse genommen hatte, wollten wir mit Toller, Barlach und Kokoschka diese verlorene Zeit aufholen.“
Als erstes Stück stand Tollers Wandlung auf dem Spielplan, mit auf Glasscheiben aufgemalten und auf Bühne und Darsteller projizierten Dekorationen und einer Lichtkugel, die eine Darstellerin über ihrem Kopf hielt. „Die Wandlung bringt es auf drei ausverkaufte Häuser und eine Forderung der Stadt auf Vergnügungssteuer, die sogleich zu entrichten ist. Was tun? In einer solchen Situation geht man an die höchste Stelle – das war der Kölner Oberbürgermeister, ein gewisser Dr. Adenauer. Er empfängt mich, hört sich meine Klagen an und blickt aus kühlen, etwas mongolisch wirkenden Augen. Als ich mit meinem Bericht zu Ende bin, fragt er: ‚Was haben Sie weiter auf Ihrem Programm?’ ‚Barlach und Kokoschka, Herr Oberbürgermeister.’ Er nickt und bittet seinen Kulturreferenten zur Besprechung. ‚Wir müssen den jungen Leuten doch helfen’, sagt er.
‚Subventionieren können wir sie nicht, aber wir wollen ihnen nicht die letzten Groschen aus der Tasche ziehen. Die Vergnügungssteuer ist da fehl am Platz.’ Die Forderung wird gestrichen, und wir bereiten Kokoschka und darauf die Chitra vonTagore vor.“ [3]
Zwischen den Darstellern gab es persönliche Differenzen und Liebeskummer, und sie spielten zum Teil zu unprofessionell. „Als Chitra und der Prinz Ardjuna ihre Verse herunterleierten und Chitra den Satz sprach: ‚Doch siehe, wer bewegt die Türe?’, öffnete sich eine Saaltüre, und prompt aufs Stichwort stolperte eine verspätete Dame ins Publikum. Es gab Gelächter, in dem die nächsten, wichtigsten Sätze untergingen – das Stück war geschmissen. Uns fehlte die Routine, eine solche Panne zu überspielen.“ Wolfgang Martin Schede ging daraufhin mit Lyrik von Trakl, Werfel, Heym und Toller auf Vortragsreisen und begann mehr und mehr, sich für die wortlose Bühnenkunst, für den Tanz, zu interessieren.
„Die Schule Herion […] ist mehr als eine ‚Schule’, sie ist ein Bekenntnis, sie ist das Bekenntnis der unbedingten Vorherrschaft der kindlichen Psyche, des unbedingten Anerkennens kindlichen Trieblebens. […] Vereinigung von tiefstem Wissen um das Wesen des Kindes mit tiefstem Fühlen und Miterleben, scheint den Gedanken dieser unschulmeisterlichen Schule (in einer Stadt, in der Steiner Eurythmie lehrt!!) geweckt zu haben“, schrieb Schede schon 1920 anlässlich eines Gastspiels in den Blättern der J.K.A.. Schede, 1898 in Stuttgart geboren, der seine Jugend- und Studienjahre in Bonn[4], Straßburg und schließlich wieder in Bonn und Köln verbracht hatte, erinnert sich in seinen Memoiren (S. 98ff.) an ein sehr persönliches Erlebnis mit einer Mitarbeiterin der Schule Herion in Stuttgart, „nackt bis
auf einen flammenfarbenen Lendenschurz“ – „sie geht wie auf Wolken“. Er durfte ihrem Tanz zusehen, er durfte ihr vortanzen, und sie fand ihn begabt und wollte ihm helfen, in Bonn eine Schule aufzubauen, doch es kam nicht dazu und blieb bei einer unerfüllten Liebe und Verehrung seinerseits. Nach erfolgreichen Soloabenden mit vor allem kultischen und religiösen Tänzen (Titel wie: Festlicher Tanz, Feierlicher Tanz, Pathetischer Tanz, Ägyptischer Tanz, Groteske, Sklaventanz, Arabeske, Königstanz, Veni creator spiritus) gründete Schede 1923 in Bonn sein „Institut für ästhetische Körpererziehung“ (Untertitel: „im Sinne der Schule Herion“, Stuttgart) und 1924 in Köln seine „W.M.Schede-Schule für Bewegungskunst“. Auf einem Prospekt heißt es: „Sie baut auf den Errungenschaften der Methoden Dalcroce [sic] und Duncan auf, will aber das Psychische des Tanzes, das Erlebnis des Körpers, in den Vordergrund stellen, und diese zum Wegbereiter für eine Erhellung und Befreiung der ganzen kindlichen Psyche machen.“ Beispielsweise gab Schede im renommierten Kölnischen Kunstverein am 24. November 1924 einen Tanzabend, um die Schule zu propagieren.
Auch auf Gastspielen fand Schede sein Publikum [5] , unter anderem mit der Uraufführung der Tanzlegende Hiob im Stadttheater Krefeld. „Als Tänzer ist er das, was Mary Wigman als Tänzerin bedeutet. Eine eigenschöpferische Natur mit dem Weg ins Grosse, Absolute.“[6] „W.M.Schede ist zweifellos ein Berufener, einer, dem uralte Kulturen zum Erlebnis geworden sind, das er durch den Tanz gestaltet […] Gegenstück zur Sent M’ahesa.“[7] Und „R.Cz.“, sicherlich der später im Dritten Reich zum ministerialen Tanz-Fachreferenten aufgestiegene Rolf Cunz, schrieb in einer Essener Tageszeitung: „[…] Wolfgang M. Schede […] verriet mit Intelligenz und Geschmeidigkeit, dass er an Sent M’ahesas und Mary Wigmans Art und Bräuchen zu naschen wusste, ohne zu ihrem blinden Nachbeter zu werden, und strebte frisch und ungebrochen eigenen tänzerischen Zielen
zu, die nur vorläufig noch in etwas nebelhafter Ferne winken. Dass sie uns aber nicht als trügerische Fata morgana vorgegaukelt werden, so wenig gerade in dieser verirrten Zeit der Hang an exotischem Zauber zu billigen ist, das verzeichnet man gern und erwartungsvoll. Schede steckt mitten im Sturm und Drang. Wenn sein Gesundungsprozess eingesetzt hat, soll er beizeiten daran denken, dass es außer säuselnder Nervenmusik fremder Abkunft auch noch eine nicht gerade zu verachtende deutsche Tonwelt gibt, die zum Tanzen lockt.“
Zur Spielzeit 1925/26 löste Schede auf Einladung des Intendanten Georg Hartmann am Dessauer Friedrich-Theater die heute unbekannte Ballettmeisterin Käte Küpper ab, und ihr Ensemble wurde mit einer Ausnahme (Rosa Mehnert) komplett ausgewechselt. Die neuen Tänzer holte Schede zum Teil aus der Hamburger Laban-Schule, und Labans Arbeit hatte Schede schon in Stuttgart kennengelernt. Zu seinen Solisten zählten Elvira Gläser, Carl von Hacht und Lore Jentsch, zu sehen waren in dieser Spielzeit unter anderem Carmen, Die Fledermaus, Die letzte Maske, Zar und Zimmermann, Der holzgeschnitzte Prinz, die Uraufführung der Inka-Legende Ogelala mit Musik von Erwin Schulhoff und immer wieder Kammertanzaufführungen. Schede baute einen Bewegungschor mit 25 Damen, 25 Herren und 30 Kindern auf. Die Gruppe konnte auch reisen, gab unter anderem in Leipzig Gastspiele. „Diesmal war das Theater voll. Das nächste Mal, wenn ‚Kammertänze’ angekündigt sind, muss ein Erweiterungsbau vorgenommen
werden“, schrieb die Dessauer Presse. Oder: „Der gestrige Tag brachte etwas ganz Neues für die Dessauer: Eine Tanzaufführung im Theater am hellichten Tage. […] Alles, was wir sahen, war Ausdruckskunst in höchster Potenz […] Dass diese Art zu tanzen […] ungleich fesselnder und erfreulicher ist, als alles, was bisher unter dem Namen Ballett segelte, ist ohne weiteres klar […] Das Theater war so voll wie selten. In logischer Würdigung dieser Tatsache hatte man – echt Dessau! – die Zahl der Garderobefrauen wie der Theaterzettel auf die Hälfte herabgemindert.“ Oskar Schlemmer machte sich Hoffnungen auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Tanzgruppe des Theaters, und Schedes bildkünstlerische Arbeiten der letzten Jahre in Dessau stehen deutlich unter dem Einfluss des Bauhauses, namentlich von Klee und Schlemmer. [8]
Wolfgang Martin Schede wechselte zur Spielzeit 1926/27 auf Einladung des dortigen Intendanten Francesco Sioli nach Mannheim als „Tanzmeister“, „I. Einzeltänzer“ und Leiter der Tanzschule. Elvira Gläser nahm er mit, sein neuer männlicher Solist hieß Rolf Arco. In Dessau übernahm inzwischen – wieder aus der Hamburger Laban-Schule kommend – Albrecht Knust die Leitung, im Ensemble gefolgt von Karl Heining, Senta Dabelstein und Elsa Lembke. Schlemmer fand hier für die Donaueschinger Musikfestspiele in Carl von Hacht und Karl Heining die Tänzer für sein Triadisches Ballett (zusammen mit Daisy Spies von der Berliner Staatsoper).[9]
Schede führte in Mannheim unter anderem (am 30. Oktober 1926) Strawinskys Petruschka auf, selbst die Titelrolle tanzend, gar nicht „russisch“ und mit der Idee, das zweite und dritte Bild simultan zu realisieren (Puppenbühne mit Mohr, Ballerina und Petruschka auf Rollen, sich langsam zur Rampe hin bewegend, während der Jahrmarktsrummel seitwärts ins Dunkel verschwindet). Weit größeren Erfolg erzielte er jedoch bei den Maifestspielen in Wiesbaden, wo er den Prometheus von Max Terpis mit seinen Mannheimer Solisten und Bewegungschören uraufführte. Schede verließ Mannheim vorzeitig (und Arco ging zu Terpis nach Berlin), um an der Magdeburger Theaterausstellung als Tänzer, Choreograph und Organisator mitzuwirken. Anschließend ging er wieder nach Wiesbaden und nach Mainz, um dort Sprech- und Bewegungschöre aufzubauen.
In den 1930er Jahren war es insbesondere die Fotografie, die den vielseitig begabten Schede interessierte. Schon früh hatte er mit Edeldruckverfahren, Gummidrucken, Fotomontagen, Solarisationen etc. experimentiert [10]. Besonders gelungen ist eines seiner Portraitfotos von Igor Strawinsky [11]. Schede konnte mit Auftragsarbeiten ein Einkommen erzielen und namentlich von 1935 bis 1939 in Stuttgart ein „Werbe-Photo-Atelier“ betreiben, das für Württemberg und Baden eine Vorreiterstellung in der Farbfotografie innehatte. Später führte er mit Fritz Hellweg bis zur Ausbombung eine eigene Puppenbühne am Römerberg in Frankfurt am Main.
Nach dem Krieg verlagerte sich sein beruflicher Schwerpunkt aufs Schreiben und Übersetzen [12]. Eigene Lyrik, Dramen, Romane, Novellen, Essays, Sach- und Bildbände (u.a. mit Rudolf Hagelstange), Fernsehspiele, Hörspiele und Schulfunksendungen (Südwestfunk, Radio Bremen, Radio Zürich, Radio Bern, Radio Salzburg, RAI Italia, Norddeutscher Rundfunk), Puppen- und Märchenspiele (sechs Schallplatten) erschienen [13]. Aufsehen erregte im Bühnenbereich sein Werk Die Liebe und der Tod, 1946 unter dem Titel Goyescas von Helge Peters-Pawlinin in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, und ein Ballett Kokua entstand (Städtische Bühnen Freiburg 1952). Bekannt ist im Tanzbereich auch heute noch Schedes Biographie über Max Terpis [14] . Zu Unrecht kennt man Wolfgang Martin Schede nur noch als Schriftsteller. Die Vielseitigkeit seiner Begabungen als bildender Künstler, Schauspieler und Regisseur, Tänzer und Choreograph, Fotograf, Autor, Vortragskünstler etc. hat ihn leider um den wohlverdienten Nachruhm gebracht.
(zum 100. Geburtstag erstveröffentlicht in: Tanzdrama, Nr. 43, Köln 1998, S. 25-27)
[1] Wolfgang Martin Schede: Weg nach Rosea. Ein Lebensbericht [unveröffentlichte Autobiographie, 1971, Typoskript im Deutschen Tanzarchiv Köln]. Hier S. 86, zweites Zitat S. 81. [2] Heute eine Rarität: die Blätter der J.K.A., unter anderem mit Illustrationen und Aufsätzen von W.M.Schede. [3] Außerdem: „Ich sehe mich nach neuen Stücken um. Zwei stehen zur Diskussion: zunächst Tanja des Pragers Ernst Weiss. Ich schreibe ihm, er antwortet, er sei unter der Bedingung einverstanden, dass wir für die Titelrolle Rahel Sanzara engagierten; er habe die Rolle mit ihr studiert, und sie sei die einzig mögliche Interpretin dafür. – Ich schrieb ihm zurück, wir seien arm wie die Kirchenmäuse und könnten Frau Sanzara nicht einmal die Reisekosten ersetzen, geschweige, ihr ein Honorar zahlen. Damit war die Frage erledigt, zumal die Sanzara zu Hartung nach Darmstadt ging. – Das zweite Stück, mit dem aggressiven Titel Das verwerfliche Schwein, stammte von Alfred Döblin, dessen Roman Die drei Sprünge des Wang Lun damals Aufsehen erregte. Döblin war einverstanden, aber zur Aufführung kam das Stück bei uns nicht. Eine Krise hatte schon lange heimlich geschwelt, und bei den Proben zu Tagores Chitra kam es zum Krach.“ (S. 85). [4] Wo er in einer von Jaques-Dalcroze einstudierten Schulaufführung teilnahm. [5] Ohne dass daraus ein gesichertes Einkommen entstanden wäre: „Manchmal mussten wir nach einem Gastspiel die Abendeinnahme noch in französische Francs umwechseln, um Hotel und Heimreise bezahlen zu können. Wenn andere zu Mittag aßen, knabberten wir an einem Stück Brot, um dem schlimmsten Hunger zu begegnen. Aber was machte das schon? Wir waren besessen. Wir wollten um jeden Preis durchhalten […].“ (S. 111). [6] Rheinischer Anzeiger. [7] Kritikenauszugssammlung. [8] Insbesondere mehrere Aquarelle. Er erwähnt seine persönliche Bekanntschaft in den Memoiren (u.a. S. 139f.). [9] In der Spielzeit 1927/28 teilten sich Günter Hess und Lore Jentsch die Tanzleitung. [10] Durch Schedes totalen Kriegsverlust sind nur wenige Beispiele davon (aus anderem Familienbesitz) erhalten geblieben, teilweise heute im kleinen Nachlassbestand im Deutschen Tanzarchiv Köln. [11] DTK. Veröffentlicht in: ballett international, 1990, Nr. 1, S. 47. [12] Nur wenige Texte aus den 1920er Jahren sind erhalten geblieben bzw. bisher bekannt, zum Beispiel „Mechanik in der Kunst der Gegenwart“, in: Stadtanzeiger, Beil. Dramaturgische Blätter [Mannheim], 1926/27, Nr. 13, S. 50-52. [13] Siehe auch: Kürschners Literaturkalender, beispielsweise 1973. [14] W.M.Schede: Farbenspiel des Lebens. Max Pfister Terpis. Architekt, Tänzer, Psychologe 1889-1958. Zürich 1960. Stumpp: Pressezeichnungen. Bilder der Weimarer Zeit. Essen 1996, S. 14–18, hier S. 16.
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