Von Armgart von Uslar

Meine Mutter, eine ausgebildete Pianistin, begleitete jahrelang Tänzerinnen bei Bühnenauftritten und den Unterricht in einer Kasseler Gymnastik- und Tanzschule am Klavier. Die Schulleiterin, Hilde Dunkel, war eine Laban-Schülerin. Ich durfte oft, oft am Unterricht teilnehmen, etwa 1926–28 im Alter von 10 bis 12 Jahren. Der beliebte Höhepunkt des Unterrichts war in den fortgeschrittenen Klassen das tänzerische Improvisieren mit oder ohne Musik, Themen wie Mut, Schwäche, Macht, Trauer, Freude … in der Gruppe, auch Kampf mit Sieg und Unterliegen in zwei Gruppen…, wie es auf Laban’s Gruppenbildern zu sehen ist. Es war für jeden ein Erlebnis und eine innere Bereicherung und Befreiung. – Es weckte in mir den Wunsch, von der Schule fortzugehen und Tanz zu lernen. Jedoch erfolgte zunächst eine zweijährige Mitwirkung im Turnverein. Anschließend, immer noch neben der Schulausbildung, nahm ich etwa fünf Jahre lang an Kursen der Kassler Chladek-Schülerin Anna Elisabeth Klemm teil, die im System Hellerau-Laxenburg lehrte: Rhythmik, Musikhören und Umsetzen in Bewegung, überwacht improvisatorisch.

1932 oder wohl 1933, als 16-Jährige, sah ich im Kasseler Staatstheater ein Solo-Gastspiel von Mary Wigman, den Zyklus Opfer, von dem mir heute noch der Tanz für die Sonne, der Todesruf und der Tanz in den Tod deutlich vor den Augen sind. Es ließ mich wochenlang nicht los. Als der Schulaufsatz mit dem Thema „Mein stärkstes Erlebnis im Dritten Reich“ gegeben wurde, schrieb ich lebendig und gut über diesen Tanzabend, und der korrigierende Lehrer konnte es nicht abwerten, weil er ja nicht geschrieben hatte „Mein stärkstes politisches Erlebnis im Dritten Reich“.

Nach dem Schulabschluss 1935 verhalf mir ein Onkel, Schauspieler von Beruf, gegen alle häuslichen Widerstände zur Tanzausbildung, jedoch nicht bei Mary Wigman, sondern bei Gret Palucca, deren große, vielseitige Musikalität er kannte. Er riet ab von Mary Wigman, weil ihre so starke Persönlichkeit vielleicht solch junges Mädchen so sehr beeindruckt und beeinflusst hätte, dass sie nicht zu Eigenem gekommen wäre. (Er hatte nicht Unrecht, denn es reisten damals viele Epigonen mäßigen Formats herum).

Im Herbst 1935 begann ich also die Palucca-Schulausbildung, und schon im Frühjahr 1936 wandte sich Mary Wigman an Palucca und bat um Verstärkung für die Tanzgruppe, deren Choreographie sie für die Olympiade 1936 zur Eröffnungsfeier übernehmen sollte mit 80 Tänzerinnen. Unser gesamtes Lehrpersonal fand mich Neuling im Typ und Stil („Tieftänzerin“) geeignet. So erlebte ich also drei Wochen Vorarbeit in Dresden (wir waren etwa 20) und drei Wochen Probenarbeit in Berlin im großen Stadion unter der Leitung von Mary Wigman. Ich konnte am dortigen Unterricht teilnehmen und besuchte natürlich oft die Stunden von Mary Wigman, erfuhr, wie suggestiv sie arbeitete, mit welch starker Ausstrahlung und mit welch sprachlicher Gewandtheit. Man musste reagieren und leisten über seinen momentanen Stand hinaus.

Die Dresdener Vorarbeit diente dem Einleben in die (nicht leichte) Musik von Werner Egk und in das Thema und die Form über einem sich allmählich entwickelndem Grundrhythmus des chorischen Schreitens mit individuellen Haltungen und Gesten für die Totenklage.

Diese Vorbereitung wurde in Berlin im großen Stadion von der internen Gruppe auf die vervollständigten 80 Tänzerinnen in täglichen Proben übertragen, in den mit Plaketten im Rasen abgesteckten ovalen Raum. Mary Wigman schuf in diesem Riesenraum schnell die richtige Atmosphäre, sodass die Aufführung (Kreutzberg: „Kriegstanz“ – Wigman: „Totenklage“ mit 60 Tänzern – Palucca: Solo „Lebensfreude“ im Riesenkreis von weiß gekleideten Schulkindern, ein Walzer) stark beeindruckend die Zuschauer ansprach.

Ich kaufte das „Mary Wigman Werk“ von Rudolf Bach (Reissner Verlag, Dresden 1933), bat sie um ein Autogramm und sie schrieb – für mich Anfängerin –: „Armgart von Uslar-Gleichen in Erinnerung an die gemeinsame Arbeit im Olympiade-Sommer 1936 herzlich Mary Wigman“, – eine liebe und mich anspornende Eintragung.

Dann setzte für Mary Wigman wie auch für Palucca die grausame politische Verfolgung ein. Als ich mich 1938 für die 700-Jahr-Feier Berlins für den „Orpheus“ (Gluck) meldete, stand nicht mehr – wie geplant – Mary Wigman als Choreographin da, sondern Ersatz. Zum Finale „Triumpf sei Gotte Amor“ wurde die Leibstandarte Adolf Hitlers“ abkommandiert mitzutanzen, hünenhafte junge Männer im rot-goldenen Kriegerkostüm. Bei der Generalprobe erschienen plötzlich fremde junge Männer, denn – die Leibstandarte hatte Urlaub!

Ich besuchte weiter die Ausbildung bei Palucca, ging nach dem Examen für etliche Jahre ans Theater, besuchte vielerlei Lehrgänge, lernte Persönlichkeiten wie Rosalia Chladek, eine Schülerin der Valeria Kratina kennen, die wie die Obigen von Grund auf zu neuer individueller Bewegung strebten, zum damals neuen „Ausdruckstanz“, fern vom formal festgelegten Ballett.

Es dauerte lange, bis nach allen politischen Widerständen und nach dem Zweiten Weltkrieg sich alles wieder einpendelte. Neben dem Unterrichten arbeitete ich Solo-Programme aus, kreisend um das Leben der Frau: Studien in Rot (Das junge Mädchen, Zum Licht, Ab vom Weg, Fülle des Lebens, Wiegenlied), einen Opernauszug aus Orpheus und Euridice von Gluck (Eine der Trauernden am Grabe, Eine der Furien, Eine der Seligen, Triumpf sei Gott Amor). Ansonsten Lyrisches, Folklore, Pantomimisches, mit Musik von Scriabine, Rachmaninow, Debussy… Diese Arbeit hat mich voll beansprucht und kraft- und konzentrationsfördernd gewirkt, geistige Klärung und Sensibilität wachsen zu lassen. Ich blicke dankbar auf all die Jahrzehnte und zu meinen Förderern zurück.

1962 wurde ich vom Bärenreiter-Verlag Kassel gefragt, es läge Material für eine gesprochene Platte von Mary Wigman vor, ob sich eine Herausgabe finanziell lohnen würde. Und – ich fand deren Erscheinen so wichtig, dass ich lebhaft bejahte und gleich die Abnahme von 12 Platten für mir bekannte Interessierte versprach. So ist uns die Stimme, persönliches Erleben beim Gestalten und Pädagogisches von Mary Wigman erhalten.

Armgart von Uslar erhielt bis zum Alter von 12 Jahren Tanz- und Bewegungsunterricht bei der Laban-Schülerin Hilde Dunkel in Kassel. Danach war sie zwei Jahre lang in einem Turnverein. Vom 14. Lebensjahr an besuchte sie für etwa fünf Jahre die Schule von Anna Elisabeth Klemm, die nach dem System Hellerau-Laxenburg lehrte. Von 1936 bis 1937 setzte sie ihre Ausbildung an der Palucca-Schule in Dresden fort und schloß mit Diplom ab. Sie absolvierte ferner Kurse bei Mary Wigman, Lotte Wernicke und Günter Hess. Im Deutschen Bühnenjahrbuch lassen sich Engagements am Theater in Frankfurt/Oder (1940) und Breslau (1941 sowie 1942) nachweisen. Armgart von Uslar hat Solotanzabende aufgeführt und war auch als Tanzpädagogin tätig.