Ehrlich gesagt: Jahrzehntelang war der Tanzforschung so gut wie gar nichts über Ellinor Bahrdt bekannt. Man hätte in seltenen Fällen zufällig auf ihren Namen stoßen können. Als tänzerischer Nachwuchs taucht sie in den Zigaretten-Sammelbilderalben auf: in Der künstlerische Tanz (Eckstein) als Sammelbild Nr. 110 und in Berühmte Tänzerinnen (Garbati) als Sammelbild Nr. 179. Man wunderte sich vielleicht: nicht nur über die Herausgeber der Sammelalben, die gar keine ausreichende Anzahl von "berühmten" Tänzerinnen finden konnten und etliche Nachwuchstänzerinnen aufgenommen hatten. Sondern auch, weil Ellinor Bahrdt immerhin von Hans Robertson fotografiert worden war, einem zwischen 1927 (als er das Atelier von Lili Altschul-Baruch übernommen hatte) und
1933 (als er Deutschland verließ und sein Negativarchiv und Fotostudio seinem Mitarbeiter Siegfried Enkelmann übertrug) im Bereich des Tanzes sehr bekannten Fotografen. Das war gewiss mit erheblichen Kosten verbunden gewesen und für viele junge Tänzerinnen damals unerschwinglich. Doch warum kannte man Ellinor Bahrdt trotz guter Fotografien heute gar nicht mehr?
Wenn man gezielt nach ihr geforscht hätte, hätte man etwas mehr herausfinden können. In den Bibliotheken hätte man ihren Namen im Register von Petermanns Tanzbibliographie prüfen können und dann sieben Erwähnungen in (zumeist) Sammelbesprechungen unter Überschriften wie "Der Nachwuchs tanzt" in den Fachzeitschriften wie Der Tanz, Singchor und Tanz und Das Heft aus den Jahren 1930 und 1933 finden können. Oder in Victor Junks "Handbuch des Tanzes" von 1930 auf S. 17 einen kurzen Eintrag: "Bahrdt, Ellinor, Tänzerin und Assistentin an der Schule Jutta Klamt, trat auch solistisch hervor (Berlin 1929)." Immerhin!
Tiefergehend hätte man höchstens noch in den Archiven forschen können. Genaugenommen in diesem Fall nur im Deutschen Tanzarchiv Köln. In dessen Datenbank wäre ihr Name als Mitwirkende der Jutta-Klamt-Schule bei den Tanzfestspielen 1928 zum 2. Deutschen Tänzerkongress in Essen und beim 3. Deutschen Tänzerkongress in München sowie in der Liste der Fotos einer dort gezeigten Ausstellung von Tanzfotos des Berliner Fotografen Hans Robertson zu finden gewesen. Und man hätte die entsprechenden Dokumente anschauen können. Und verstanden, dass Robertson sie möglicherweise nicht gegen privates Honorar, sondern als Solistin der von ihm fotografierten Klamt-Gruppe abgelichtet hatte. Und man
hätte herausgefunden, dass Ellinor Bahrdt sich einmal einen Tanzabend mit Lotte Goslar geteilt hatte. Und mit Beratung der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Tanzarchivs wären auch weitere, aber noch nicht in der hierfür nötigen Erschließungstiefe verzeichnete Materialien gefunden worden. Vermutlich im Nachlass-Archiv von Jutta Klamt. Oder in der Sammlung der Kritiken von Artur Michel, dem berühmten Tanzkritiker der Vossischen Zeitung. Und wenn man erstmal vom detektivischen Aufspüren und Entdecken gepackt ist, hätte man – auf Empfehlung – vielleicht auch noch im Nachlass des Kritikers Fritz Böhme in einem handschriftlichen Verzeichnis seiner Kritiken Hinweise zum weiteren Aufspüren von seinen Rezensionen über Ellinor Bahrdt gefunden, die man dann an den Ausgaben der entsprechenden Tageszeitungen wie der Deutschen Allgemeinen Zeitung auf Mikrofilm in einer der großen Universitäts- oder Landesbibliotheken auch tatsächlich hätte nachlesen können. Aber mehr ... – mehr erfährt man über so manche Tanzkünstler*innen erst durch ihre Nachlässe. Und der fehlte in diesem Fall.
Tja, und dann tauchte tatsächlich im Frühjahr 2020 ein kleiner Nachlass von Ellinor Bahrdt auf und gelangte an den hierfür geeignetesten Ort, das Deutsche Tanzarchiv Köln. Und seitdem kann man öffentlich im Internet nachlesen, dass Ellinor Bahrdt am 7. Juli 1905 in Bogorodsk bei Moskau als Tochter des Kaufmanns Alfred Bahrdt und seiner Ehefrau, der Oratorien- und Konzertsängerin Ella Bahrdt-Wittrock geboren und mit ihren Eltern und Geschwistern (ein älterer Bruder Ernst Friedrich Jakob und eine jüngere Schwester Irmengard) am 7. Juli 1923 in
Schwerin eingebürgert wurde. Über die Schul- und die erste Tanzausbildung ist in diesem Nachlass kein Dokument vorhanden. Aber mit einem Aufsatz "Gymnastik als körperlich-geistiges Erziehungsmittel" von Jutta Klamt aus Berlin (aus: Die Leibesübungen, H. 21 / 1926, S. 502–504) und dem Diplom über die Lehrbefähigung im System Jutta Klamt vom April 1927 ist ihre dortige Ausbildung belegt, die laut Schulinformationen immer nur 1 ½ Jahre dauerte. Im Fall von Ellinor Bahrdt führte sie offenbar schnell zu jener bei Junk erwähnten und schon Ende 1930 beendeten pädagogischen Mitwirkung (s. Elli Müller-Rau: Tanzschulen. Die Jutta-Klamt-Schule. In: Der Tanz, H. 12 / Dezember 1930, S. 12f., hier S. 13).
Die Berliner Klamt-Schule war unabhängig von Mary Wigman und Rudolf von Laban entstanden und auch mit Aufführungen in der Öffentlichkeit aufgetreten (1923 in der Berliner Philharmonie). John Schikowski, der Tanz- und Kunstkritiker der Berliner Tageszeitung Vorwärts, schrieb 1924 in seinem Buch "Der neue Tanz": "In der konsequenten Ablehnung aller pantomimischen und der äußersten Beschränkung der dekorativen Ausdrucksformen geht der Stil der Jutta Klamt noch über den der Wigman hinaus. Der abstrakte Tanz erscheint hier in völliger Reinkultur. Alles ist auf die Wirkung der rhythmisch bewegten Farbform gestellt. Nicht die menschlichen Körper, sondern gegenstandslos wirkende
Linien und Farben sind die Träger des seelischen Ausdrucks. Die Reinigung der Kunstmittel ist bis zur äußersten Grenze des Erreichbaren durchgeführt. – Die technische Durchbildung der einzelnen Tänzer und Tänzerinnen hat in der relativ jungen Klamt-Schule nicht die Vollkommenheit erreicht, durch die die Wigman-Schule sich auszeichnet." (S. 51).
Die Klamt-Schule unterrichtete Gymnastik und Tanz auf einer ganzheitlich auf Gesundheit ausgerichteten Basis mit Atemübungen und Erziehung zu vegetarischer Ernährung (Klamt und ihr Schüler und späterer Mann Gustav Jo Vischer waren wie Itten Anhänger der Mazdaznan-Lehre). Entsprechend der Gymnastik-Systeme von Müller, Mensendieck und Hagemann fanden die Übungen z.T. auch unbekleidet statt.
Interessant für eine Einschätzung auch der Ausbildung von Ellinor Bahrdt scheint folgende Beurteilung Schikowskis im Vergleich mit der Wigman-Schule: "Die Klamt-Schule lehnt (...) die künstlerische Uniformierung grundsätzlich ab. Sie trachtet im Gruppentanz nicht danach, alle Mitwirkenden einem einheitlichen Willen zu unterwerfen, sondern sie will jede künstlerische Eigenart möglichst zu ihrem Recht kommen lassen. Die Anlage und Entwicklung der Gruppentänze ist weniger geschlossen, ist lockerer. Man hat zuweilen den Eindruck, dass der Gruppentanz sich in eine Reihe von Solotänzen auflöst und daß jedem Tänzer in der Nuancierung der Einzelbewegung freier Spielraum gewährt wird. Natürlich darf nicht jeder Mitwirkende sich
nach eigenem Belieben bewegen, denn diese Freiheit würde den Organismus des Gruppentanzes in ein Chaos verwandeln. Wohl aber wird jeder an den Platz gestellt, an dem seine künstlerische Eigenart am stärksten zur Geltung kommt und der Gesamtwirkung am besten dient. Auch Laban berücksichtigt in der Komposition seiner Gruppentänze die Unterschiede, die sich aus den Typen der Hoch- und Tieftänzer und deren Abwandlungen ergeben. Hier aber soll der ganze Reichtum individueller Nuancierungen in den Dienst der Gesamtwirkung gestellt werden. Daraus erwächst dem Tanzkomponisten und Tanzleiter eine unabsehbare Fülle von Problemen und Aufgaben. Dieses Prinzip, das die Klamt-Schule bisher freilich noch nicht in großen künstlerischen Leistungen praktisch hat betätigen können, scheint mir von der folgenschwersten, fruchtbarsten Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des modernen Tanzstils zu sein." (S. 52).
Jutta Klamt hatte, so kann man in den Berliner Adressbüchern recherchieren, ihr "Institut für Körperschulung und künstlerischen Tanz" von 1919 bis Ende 1930 im Bezirk Wilmersdorf in der Pariser Straße 37 im IV. Stock des Gartenhauses. Dann verlegte sie den Sitz der Schule in das ehemals von Rudolf von Laban genutzte Gebäude im Grunewald in der Gillstraße 10. So, wie beispielsweise der Arzt Walter Radebold Anatomie und Physiologie in der Schule unterrichtete und der Schauspieler John Gottowt "Ton – Wort", so wurde hier Kunstgeschichte und Zeichnen "(die Gesetze der Linie, Fläche, Farbe, des illusionären Raumes, der menschlichen Figur usw.)" vom ehemaligen Bauhaus-Meister Prof. Johannes Itten unterrichtet, der auch als Mitglied des Lehrerkollegiums Ellinor Bahrdts Diplom-Urkunde mitunterzeichnet und eigenhändig die Note "gut" eingetragen hat.
Der Nachlass enthält gesammelte Zeitungsausschnitte zu einem (von vielen) Tanzabenden der Jutta Klamt Schule, nämlich vom 29. November 1928 im Bach-Saal. Meist haben sie den Kopf des professionellen Zeitungsausschnitt-Dienstes Adolf Schustermann, der sie sicherlich im Auftrag der Schule (und nicht einzelner Schüler) gesammelt hat. In allen Kritiken ist Ellinor Bahrdt namentlich hervorgehoben, zum Beispiel als die "einzige Tänzerin von Geblüt". Nach diesen Kritiken ist es naheliegend, dass Ellinor Bahrdt sich spätestens jetzt Gedanken über eine solistische Karriere als Tänzerin gemacht hat.
Außerdem existiert ein gedruckter Zettel mit Pressestimmen zum 1. eigenen Tanzabend (Januar 1929). Der Zettel weist keine Konzertagentur aus, der Druck ist also vermutlich von ihr selbst finanziert worden, um sich bei Agenturen oder direkt bei Theatern für Gastspiele zu bewerben (ihre Adresse Augsburger Straße 58 ist mit Telefonnummer aufgeführt). Der Zettel beweist auch, dass ihr solistisches Debüt in zahlreichen und namhaften Zeitungen und von bekannten Kritikern wie John Schikoswki, Artur Michel, Hansjürgen Wille und Fritz Böhme beachtet wurde. Ein zweiter, preiswert hektographierter Zettel von weiteren Abenden weist neben Berlin Gastspiele in Flensburg, Dresden und Riga (13. Februar 1931) aus. In Flensburg trat sie 1930 als Gastsolistin mit dem Bewegungschor Otto Heuser im Stadttheater auf.
Leider fehlen in Ellinor Bahrdts kleinem Nachlass sämtliche Programmzettel. Neben einer Anzahl von – nicht mit den Namen der Tänze beschrifteten – Fotos, die nicht immer gestempelt, aber wohl zumeist von Hans Robertson aufgenommen wurden, gibt es aber noch einige Papiere wie Manuskripte zu Tanz und Gymnastik, einen Prospekt der eigenen Gymnastikschule in der Augsburger Straße und einen Aktendeckel mit dem Stempel der Jutta Klamt Schule bei gleicher Adresse (Zweigstelle W 50, Leitung Ellinor Bahrdt), ferner Geburts- und Einbürgerungsurkunde, ein Pastoralattestat aus Schwerin zum erforderlichen Nachweis der arischen Abstammung (aus dem auch hervorgeht, dass sie nun, im Dezember 1933, bereits verheiratet gewesen
sein muss und Ellinor von Hartmann hieß), Fortbildungsnachweise (1937: "staatlich anerkannte Gymnastiklehrerin") und die Bestätigung ihres Austritts aus dem Reichsverband Deutscher Turn-, Sport- und Gymnastiklehrer e.V. vom 15. November 1938. Sie war nun in Ludwigshafen/Rhein wohnhaft und durch diesen Austritt nicht mehr in der Lage, zu unterrichten. Dokumente über eine Mitgliedschaft in der Reichstheaterkammer, welche ihr das künstlerische Auftreten als Tänzerin nach 1933 weiter ermöglicht hätten, fehlen komplett. Vielleicht hat sie nicht nur geheiratet, sondern auch eine Familie gegründet und sich ganz aus dem Berufsleben zurückgezogen. Das chronologisch letzte vorhandene Dokument, eine "Kennkarte" mit Passfoto und zwei Stempelabdrucken ihrer Zeigefinger, ausgestellt am 12. März 1946 vom Paßamt Braunschweig, belegt, dass Ellinor von Hartmann-Bahrdt den Krieg überlebt hat. In der Zeile für Beruf ist eingetragen: ohne.
Auch wenn über das Leben von Ellinor Bahrdt letztlich immer noch sehr wenig bekannt ist und Briefe, Tagebücher oder Notizbücher offenbar nicht für aufhebenswert befunden wurden, so ermöglicht der kleine Nachlass durch seine verschiedenen Dokumente doch einen Eindruck von ihrem kurzen Wirken als Tänzerin und Tanzpädgogin. Und bietet anhand der Fotos und Kritiken die Chance, Vergleiche anzustellen und ihr nachträglich einen Platz in der deutschen Tanzgeschichtsschreibung einzuräumen.
Apropos "Bedeutung von Nachlässen für das Andenken an den Künstler und die wissenschaftliche Forschung": Wo mag eigentlich heute der Nachlass ihrer ebenfalls kaum noch namentlich bekannten Klamt-Mitschülerin Iva Langentels zu finden sein...?
Frank-Manuel Peter Geschrieben für die Student*innen der Übung "Mit Nachlässen arbeiten" (1. Stj.) im Masterstudiengang Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz, Köln, im Corona-April 2020.
Tanznovizen. Wir befinden uns (noch immer) in einer Zeit des werdenden Tanzes. Wir haben darum (noch immer) Geduld mit den Anfängerinnen. Aber müssen wir noch länger Geduld mit den Tanzschulen haben? Müssen wir es dulden, wenn eine Tanzlehrerin eine junge Begabung festhält, obwohl sie wissen muß, daß sie ihr nicht mehr weiterhelfen kann? Ellinor Bahrdt ist zweifellos ein Talent, gegen dessen Ursprünglichkeit nur spricht, daß sie nicht die Einsicht besaß, eine unzureichende Schule rechtzeitig zu lassen. Gewiß, sie hat dort vortrefflich Gymnastik gelernt. Aber Tanz ist keine Leibesübung (im Zwecksinne dieses Wortes). Dem Tanz gegenüber ist Ellinor Bahrdt beim (ernsten) Streben geblieben. An den Anfangstakten ihrer Tänze merkt man fast regelmäßig ihren tänzerischen Instinkt; an den Bewegungsmotiven – die gelegentlich einen Ansatz zum Phantastischen zeigen (etwa in Dunkel) – erweist sie tänzerische Phantasie. Aber diese Anlagen sind nicht fruchtbar gemacht worden. Jeder Tanz wird früher oder später zu ornamentaler Gymnastik: dazu wird dann, die Leere zu verdecken, Seelenpedal getreten. So ist sie eine Tanzbegabung geblieben, keine Tänzerin geworden. Will sie weiter kommen, so muß sie zu den künstlerischen Anfangsgründen des Tanzes hinabsteigen, muß sie lernen, sich mit dem Geheimnis der tänzerischen Spannungen vertraut zu machen, die erst jede Geste, jedes Motiv zu Stationen rhythmisch sich abwandelnder und dadurch in uns wiederklingender Beschwingtheit machen.
Irma Fink – auch sie nicht unbegabt – hat sich nicht einmal in strenge gymnastische Zucht nehmen lassen. (...)
Artur Michel - Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 48, Morgen-Ausgabe v. 29. Januar 1929
Tanzabende. Ein paar weitere Tanzabende haben das betrübliche Niveau dieses Tanzwinters nicht gehoben. Senta Maria, die mit Folioblättern voll bewundernder Provinzkritiken aufwartet, wird aus Berlin vermutlich so viel Lob und Preis nicht heimtragen. Wenn sie mit ihren Getanzten Pantomimen in bescheidenem Genrebildrahmen bleibt, etwa die Gesten eines ertappten Diebes – zwar nicht mimisch tanzt, aber doch geschickt rhythmisiert, so ist das sehr nett und erhebt sich unbestreitbar über den Durchschnitt üblicher Geselligkeitsvorträge.
Nicht aus der Provinz, sondern aus einer Berliner Schule kommt Iwa Langentels. Brav stellt sie aus dem, was sie von Wigman, Georgi, Palucca gesehen hat, eigene Tänze zusammen. Nicht einmal als Schulübungen könnte man diese Spielereien einer Anfängerin gelten lassen; aber die Lehrmeisterin sitzt im Parkett und klatscht (nebst Claque) Beifall.
Ellinor Bahrdt dagegen hat seit ihrem vorjährigen Tanzabend zielbewußt (wenn auch nicht zielgerecht genug) gearbeitet. Sie scheint jetzt auf dem Wege, eine beachtliche Tänzerin zu werden. Es gelingt ihr, die Bewegung nicht bloß anzusetzen, sondern weiterzuleiten, Motive nicht bloß zu finden, sondern künstlerisch anzuwenden; auch an Bestimmtheit der Geste hat sie merkbar gewonnen. Freilich nur ein einziger Tanz (Aus den Tiefen) gelingt als Ganzes; zwar übernimmt sie die erste Hälfte des Themas, die stakkatierte Armgeste, wörtlich von Vera Skoronel, aber sie verarbeitet sie selbständig, indem sie sie (etwas äußerlich) mit einem Schwungmotiv verbindet und aus diesem Thema, in fünfmaliger Variation, einen straffen Tanz formt. Im übrigen bleibt, nach der verkrampften Pathetik der ersten Tänze, gelegentlich eine klingende Geste, ein gutes Anfangsmotiv (Crescendo, Aufschwung) im Gedächtnis, während anderes (Spielerisch bewegt oder gar Balladesk) an der mangelnden Präzision des Vortrags scheitert. Valse triste ist noch immer Gymnastik im Dreivierteltakt, ohne jede tänzerische Bindung. Aber vielleicht ist Ellinor Bahrdt intelligent genug, auch weiter aus ihren Niederlagen zu lernen (obwohl auch dieser Tanzabend noch nicht vor die Oeffentlichkeit gehört hätte).
Artur Michel – Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 46, Morgen-Ausgabe v. 28. Januar 1930
Drei Tänzerinnen. Daß diese drei Tänzerinnen in jeder Beziehung (persönliche Artung, Schulzugehörigkeit, Ausbildungsgrad) zu verschieden sind, als daß eine künstlerisch ordnende Hand sie (in der Matinee der Volksbühne) gemeinsam hätte auftreten lassen, daß ihre Tänze, wahllos aufgereiht, sich gegenseitig störten, statt steigerten, sei nur erwähnt; dafür haben weder die Tänzerinnen, noch die Führung Sinn. Hiervon abgesehen, bestätigte Ellinor Bahrdt mit alten und ein paar neuen Tänzen den erfreulichen Eindruck ihres Tanzabends. Von den neuen zeigte „Im spielerischen Sprung“, daß sie spürt, was ihr fehlt. Aber Leichtheit wird sie nie von Arm- oder Beinschwüngen, sondern nur vom Mittelkörper her gewinnen, den sie nun endlich entdecken muß; sie sollte mal ein paar Tänze nur aus Hüft- und Schultermotiven versuchen. Das würde auch für die Bestimmtheit ihrer Armführung, wie für die Standfestigkeit ihrer Beine nur nützlich sein.
[Lou Eggers ... Lotte Goslar ...]
Artur Michel – Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 54, Postversand-Ausgabe v. 4. März 1930
Die Krise der Tanzkunst. Rückblick auf den Tänzerkongreß Von Artur Michel
[...] Zu völlig parallelen Ergebnissen führt ein Blick auf den „Vortanzabend“ des Nachwuchses. Woher kommen die positiv zu bewertenden Leistungen? Es kommen von Palucca: Lotte Goslar und Elfriede Hein (die sich aber vernachlässigt hat); von Skoronel: Friedel Lohmann und die kleine ausgezeichnete Gruppe Gertrud Wienecke; von Klamt: Ellinor Bahrdt; von Wigman: Erika Lindner, Gerda Felden und die Ausländerinnen, die durch die Wigman-Schule gegangen sind: Ira Prusicka (Lodz), Darja Collin (Holland), Mila Cyril (Moskau-Berlin).
Sie alle (denn auch Ellinor Bahrdt steht sichtlich unter Dresdener Einfluß) in ihrer unendlichen Verschiedenartigkeit sind Symptome und Ausdruck des Geistes, der pädagogischen Tradition, die von Dresden ausgegangen ist, sind Zeuginnen und Erbinnen des von Mary Wigman aufgestellten Vorbildes künstlerischen Schaffens und Lehrens. [...]
Vossische Zeitung, Berlin Nr. 157, Postversand-Ausgabe v. 3. Juli 1930
Neue Tänze – Lotte Goslar, Ellinor Bahrdt, Tatjana Barbakoff
Es war kein übler Gedanke zweier Tänzerinnen, die aus ganz verschiedenen Schulen (Palucca – Klamt) kommen, einen gemeinsamen Tanzabend zu geben. Aber in diesem Falle zerstörte sich die Gemeinschaft selber, weil sie auf nichts anderes hinauslief als auf abwechselndes Auftreten. Eine solche Gemeinschaft wäre ohne weiteres denkbar bei verwandten Temperamenten oder – völlig ausgereiften Künstlerinnen. Aber Lotte Goslar und Ellinor Bahrdt sind so grundverschieden nach Begabung, Ausbildung und Temperament, daß sie durch das abwechselnde Tanzen ihre Tänze gegenseitig totschlugen.
Die nervöse, stürmische, unruhige Art Lotte Goslars ist zu unausgeglichen, als daß sie dem Auge überzeugend sich einprägte. Die freundlich-sanften, sorgsam gearbeiteten Kompositionen Ellinor Bahrdts sind von kräftigem Leben zu wenig durchblutet, als daß sie eine zu laute Nachbarschaft vertrügen. Vielleicht darum erschien diesmal am geschlossensten der stillste Tanz Lotte Goslars. Lento, der aus einer einzigen leisen Abwärtsbewegung besteht, während ihr lautester Tanz, das Furioso (zu der prachtvollen Musik der Danza de fuego), genau so wie die meisten ihrer anderen Tänze, zwar oft genug durch ausgezeichnete Motive fesselt, aber unausgeformt, ohne die Bewegung zu entwickeln, zu steigern, heruntergetanzt wird. Wohingegen Ellinor Bahrdt gerade diese Hingabe an die Einzelgeste, an das den Körper durchdringende, fortreißende Motiv fehlt. Darum packt uns Lotte Goslar manchmal, während wir bei Ellinor Bahrdt, so sympathisch alles ist, was sie tanzt, nicht warm werden. Also wenn zwei so ehrgeizige, junge Tänzerinnen gemeinsam tanzen wollen, warum arbeiten sie dann nicht vorher zusammen, geben einander, was sie zu geben haben, steigern so einander und schaffen die atmosphärische Gemeinschaft, die die Voraussetzung jedes sinnvollen gemeinsamen Auftretens ist.
Ueberraschend erfreulich war der Tanzabend Tatjana Barbakoffs. Sie will offenbar endlich von den kunstgewerblich-dekorativen, manierierten Bewegungsspielen, mit denen sie sich früher begnügte, weg zu echtem Tanzen. Das gelingt ihr noch nicht immer: die ersten drei Nummern ihres zweiten Programmteils blieben in der alten Fasson. Vorher und nachher aber zeigt sie, daß sie nach japanischen Vorbildern den großen Stil der Geste geübt, daß sie vor allem die deutsche Tanzkunst eindringlich studiert hat. Eindringlich, aber nicht bis ins letzte vordringend. Sie hat sich eine große Intensität des Körperschwungs zu eigen gemacht; es gelingt ihr schon, den Schwung in größere Spannungszusammenhänge zu binden: so in der Asiatischen Legende und in Erde. Immer wieder jedoch fällt sie in gedanklich-mimische Gestikulation zurück; dann zerbricht, zersplittert die große Linie, der Rest wird Flickwerk. So in den beiden genannten Tänzen, so im Mongolischen Fahnenschwinger. Dieser Gefahr des Versagens gegenüber der Aufgabe, ein Motiv kompositionell durchzubilden, geht sie aus dem Wege in ein paar kleineren Gebilden, die mehr Tanzstudien, Tanzimpressionen als Tänze sind, in denen sie einen einzelnen Bewegungseinfall gleichsam ablaufen läßt: so in Mathilde. Hier will sie nichts als geziert-kokettes Herumspazieren des Biedermeierfigürchens geben; und sie führt es so zart und pikant aus, daß das Publikum mit Recht entzückt war.
Die Tanzmatinee eines jungen Tänzers und zweier Tänzerinnen am Sonntag hätte nicht vor die Oeffentlichkeit gedurft; in jeder besseren Tanzschule bewegen sich die Vortanzabende auf höherer Ebene als diese Veranstaltung. – Zur gleichen Zeit divertierte die russische Ballettschule Eduardowa ihre Freunde im Theater am Nollendorfplatz; es wird über den fragwürdigen, oft unheilvollen Einfluß der Emigrantentanzkunst (die von der einstigen russischen Tanzkunst nichts mehr, außer einem mechanisierenden, körperfremden Formalismus, bewahrt, wenn sie auch immer auf den klassischen Ballettstil sich beruft) einmal grundsätzlich gesprochen werden müssen.
Artur Michel – Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 510, Morgen-Ausgabe v. 29. Oktober 1930
Ellinor Bahrdts neue Tänze. Ellinor Bahrdt bestätigte (im Bachsaal) nicht bloß die freundlichen Eindrücke des vorigen Winters; sie ist auch ein Stück weiter gekommen. Wenn sie im „Rubato“ aus dem leisen Schwung der Hüften das Anfangsthema hervorholt, so sieht man: sie hat endlich ihren Mittelkörper entdeckt; und wenn sie diesen Tanz dann folgerecht weiterführt, wenigstens bis zu den symmetrischen Laufsprüngen, so hofft man, sie werde doch noch einmal lernen, ihr Körpergefühl so zu verdichten, daß ihre Bewegungseinfälle von ihm erfüllt, von ihm regiert, von ihm räumlich orientiert und so zu Keimen einer natürlich wachsenden Rhythmik werden. Bestärkt wird solche Hoffnung durch das „Intermezzo“. Ganz elementar aufgebaut auf der Variation der zwei Motive der Rück- und der Vorbeuge, mit auf- und niederschwingenden Armen, ist es zwar nicht ausgereift, aber ein Zeugnis für ihr Bemühen, ihr Körpergefühl zu intensivieren.
Bei Tänzen von lebhafterer und ausgreifender Bewegung bleibt sie in ihrem früheren Stil stecken: einem von außen her „komponierten“, aber gelegentlich sehr hübschen, liebenswürdigen Dahinschwingen, von dem nur meistens nichts haften bleibt. Nur der dritte russische Tanz schwingt im zweiten Teil herzhaft aus der Körperspannung und steigert sich glücklich zum Drehtanz. Anspruchsvollere Versuche aber, wie „Aus dem Dunkel“ und „In gebannter Bewegung“, werden sich nur dann künstlerisch runden, wenn sie in gründlicher Selbstkritik das Draufloskomponieren aufgibt; lieber sollte sie einmal drauflos – tanzen.
Artur Michel – Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 533, Abend-Ausgabe v. 11. November 1931
Drei Tänzerinnen
Es ist immer zu begrüßen, wenn junge, einander fremde Tänzerinnen sich zu gemeinsamer Arbeit verbinden; und es ist erfreulich zu sehen, wie gut sich Ellinor Bahrdt, Elfrit Grimm und Agathe Manot im Technischen aufeinander abgestimmt haben. Auch sind ihre Trios und Duos sehr hübsch erfunden. Aber warum sprachen gerade die anspruchsvollsten der gemeinsamen Tänze am wenigsten? Weil die Tänzerinnen bei der Uebungsarbeit nicht künstlerisch so miteinander verwachsen sind, wie es Grundlage echten Zusammentanzens sein müßte. Echter Gemeinschaftstanz entsteht nur da, wo jede Partnerin mit dem Körper spürt, wie jede andere sich bewegt. Hier wissen es nur die Köpfe, nicht die Körper. (Dieses schöpferische Gefühl für den Partner, das den Tanz als gewachsen, nicht als studiert wirken läßt, konnte man beim Weg und auch bei einigen Tänzen der Skoronel-Trümpy-Gruppe sehen). Bei leichteren, flüchtigeren, anspruchsloseren, mehr auf ornamentale Führung gestellten Tänzen wird dieser Mangel nicht so deutlich; darum sprachen Tänze wie die Bagatelle oder der gemeinsame Walzer lebhafter an.
Unter den vielen Solotänzen zeigt Ellinor Bahrdt in zwei Tänzen, der Lesginka und dem Intermezzo, ihr ernstes Bemühen um lebendige Erfüllung der kompositionellen Form. Das Intermezzo, sparsam aufgebaut auf dem Vor- und Rückschwingen des Oberkörpers, gegliedert durch die wechselnde Armführung, ist ein Tanz, der sich sehen lassen kann. Die Gigue zeigte nur, daß sie federn und springen lernen muß, daß ihr Mittelkörper immer noch nicht aktiv genug ist. Elfrit Grimm ist die einzige von den Dreien, die sich gelegentlich wirklich an den Tanz verliert und dann gleich zündet, so in ihrem Walzer, der aber als Ganzes, wie ihre übrigen Tänze, unter dem Mangel an gliedernder, akzentuierender Kraft leidet. Agathe Manot, die von den gemeinsamen Tänzen, besonders von der Bagatelle, zu anmutigem Können gesteigert wird, bleibt als Solistin ganz substanzlos.
Artur Michel – Vossische Zeitung, Berlin, Nr. 108, Abend-Ausgabe v. 04. März 1933